Rentenreform und Protest dagegen in Frankreich
Macron hat schon 2017 seine Präsidentschaft mit der Diagnose angetreten, dass Frankreich nicht die ihm gebührende Größe hat; er hat sich damit auch 2022 seinem Volk zur Wiederwahl empfohlen – und ihm zugleich in die Hand versprochen, es nicht an der nötigen Entschlossenheit fehlen zu lassen, „den Traum von Produktivität zu erneuern, der im Herzen unserer Geschichte und unserer Identität liegt“. Das ist für ihn deshalb so dringlich, weil ihm der Blick auf sein Land in Gestalt einer „Deindustrialisierung“ und hoher Arbeitslosigkeit eine im Vergleich mit der Konkurrenz mangelhafte Ausnutzung der nationalen Ressourcen, Kapital wie Arbeit, offenbart. Nach seiner Wiederwahl 2022 setzt Macron, ganz dem selbst definierten Wählerauftrag folgend, die Reformanstrengungen konsequent fort: Um das soziale Modell Frankreichs weiterhin zu finanzieren, das er sehr ‚großzügig‘ im globalen Vergleich nennt, sagte Macron, dass man ‚länger und mehr arbeiten muss‘.
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Rentenreform und Protest dagegen in Frankreich
Macron hat schon 2017 seine Präsidentschaft mit der Diagnose angetreten, dass Frankreich nicht die ihm gebührende Größe hat; er hat sich damit auch 2022 seinem Volk zur Wiederwahl empfohlen – und ihm zugleich in die Hand versprochen, es nicht an der nötigen Entschlossenheit fehlen zu lassen, „den Traum von Produktivität zu erneuern, der im Herzen unserer Geschichte und unserer Identität liegt“ (Révolution – Réconcilier la France, édition pocket, Paris 2017, S. 79). [1] Das ist für ihn deshalb so dringlich, weil ihm der Blick auf sein Land in Gestalt einer „Deindustrialisierung“ und hoher Arbeitslosigkeit eine im Vergleich mit der Konkurrenz mangelhafte Ausnutzung der nationalen Ressourcen, Kapital wie Arbeit, offenbart.
Die produktiven Erneuerungsmaßnahmen, die der Chef der Nation für seinen Bedarf nach einer Konsolidierung Frankreichs als ökonomische wie politische EU-Führungsmacht seinem Volk aufs Auge zu drücken gedenkt, damit es sich vermehrt in den Produktionsstätten des Landes nützlich macht, sind Macron zufolge recht eigentlich ganz in dessen Sinne: „Die Mitbürger in ihrer großen Mehrheit wollen nicht mehr sozialen Schutz und noch weniger den Status quo.“ (La République En Marche: Pourquoi En Marche?, en-marche.fr) Während seiner ersten Amtszeit hat er den Unternehmen die Entscheidung erleichtert, Leute zu beschäftigen, indem unter anderem der Kündigungsschutz geschwächt wurde, und mit rigorosen Anspruchskürzungen hat er den Druck auf Arbeitslose erhöht, sich um die Wiederaufnahme von Beschäftigung zu bemühen. [2] Nach seiner Wiederwahl 2022 setzt Macron, ganz dem selbst definierten Wählerauftrag folgend, die Reformanstrengungen konsequent fort:
„Emmanuel Macron ... will, dass die Regierung ... einen umfassenden Gesetzestext vorlegt, der darauf abzielt, ‚die Arbeit zu reformieren‘, um die Probleme der Firmen bei der Beschäftigung zu beheben und bis zum Ende der Regierungsperiode Vollbeschäftigung [d.h. 5 % Arbeitslosigkeit] zu erreichen... ‚Die beste Antwort auf die geforderte Kaufkraft sind Arbeit und Lohn, das muss also im Zentrum unserer Reformen und Vorhaben der nächsten Monate stehen‘, sagte er in einem Fernsehinterview... Man müsse bei der Arbeitslosenversicherung weitere Schritte gehen... Um das soziale Modell Frankreichs weiterhin zu finanzieren, das er sehr ‚großzügig‘ im globalen Vergleich nennt, sagte Macron einmal mehr, dass man ‚länger und mehr arbeiten muss‘, und fügte an, dass im Herbst die Gespräche mit den Sozialpartnern über die Rentenreform beginnen sollen.“ (Emmanuel Macron souhaite une vaste „réforme du travail“ à la rentrée, challenges.fr, 14.7.22)
Als Erstes wird also die Arbeitslosenversicherung dahingehend weiter reformiert, dass sie die Dauer ihrer Auszahlungen antizyklisch an die Arbeitsmarktlage anpasst, damit die punktgenaue Verarmung auf der einen Seite für eine kontinuierliche Versorgung mit billiger Arbeitskraft auf der anderen Seite sorgt. Parallel startet die Regierung Borne im Herbst 2022 die Abstimmungen über die Rentenreform – der erste Anlauf von 2019, der das „komplizierte“ französische Rentensystem mit seinen zahlreichen berufs- und branchenspezifischen Sonderregelungen nach deutschem Vorbild „vereinfachen“ und ganz unkompliziert die Ansprüche der Versicherten senken sollte, wurde von Macron nach einer Streik- und Protestwelle und dem Ausbruch der Corona-Krise 2020 aufgeschoben. Macron wirft seinen vielen Vorgängern vor, sie hätten sich alle vom Widerstand gegen diese „Mutter aller Reformen“ beeindrucken und es deshalb nicht nur dazu kommen lassen, dass Teile des Volks, staatlich unterstützt, immer weiter zu einem ungenügenden Mittel kapitalistischer Bereicherung verkommen sind, sondern dass diese „großzügigen“ Verhältnisse für das Arbeitsvolk und große Teile der Republik auch noch zur Gewohnheit geworden, ja zur französischen „Lebensart“ geronnen sind – einer Lebensart, die ausweislich eines Blickes über den Rhein einfach nicht mehr zeitgemäß ist. Insofern ist für Macron die Sache klar: Kein Pardon, die Reform wird durchgeboxt.
Für die Dringlichkeit und Unbedingtheit dieses Anliegens präsentieren Macron und die zuständigen Minister in der Regierung dem Volk zudem den staatlichen Haushalt als aktuell schlagendes Argument: Der hat nämlich ein Defizit, das Frankreich sich nicht leisten kann, zum einen aufgrund von Direktiven aus Brüssel, [3] zum anderen wegen der Konsequenzen für seine Kreditwürdigkeit und der damit verbundenen Kosten seiner Verschuldung. [4] An „Ausgabenkürzungen“ in der Abteilung ‚Soziales‘ führt daher nach Auffassung der politisch Verantwortlichen kein Weg vorbei:
„Einige behaupten, dass diese Summe [von prognostizierten 13,5 Milliarden Euro Defizit der Rentenkassen im Jahr 2030] unerheblich sei. Doch für einen Staat, der drei Billionen Euro Schulden hat, ist kein Defizit unerheblich.“ (Finanzminister Le Maire bei der Verkündung der Rentenreform, 10.1.23)
Dass angesichts von Billionen Schulden dann doch nicht jedes Defizit gleich und gleich bedeutend ist, bleibt nicht unausgesprochen:
„Die Institutionen der sozialen Sicherheit werden sich an der Eindämmung der Ausgabenentwicklung beteiligen, dies wird vor allem durch die Rentenreform, die Arbeitslosenversicherungsreform zur vermehrten Vollbeschäftigung und die Eindämmung der Gesundheitskosten ermöglicht... Die Eindämmung der Ausgaben muss von einer Verstärkung der Ausgabenqualität begleitet werden, vor allem durch die Finanzierung unerlässlicher Investitionen in die ökologische und digitale Transformation, zum Erreichen der Vollbeschäftigung und um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Firmen zu sichern.“ (Entwurf zum Haushaltsgesetz für 2023, assemblee-nationale.fr)
Ausgaben für Renten, Arbeitslose oder Kranke sind keine produktiven Kosten, verausgabt für nichts als für den Lebensunterhalt von Leuten, die unmittelbar nichts zum Wirtschaftswachstum beitragen. Angesichts der Summen, die der Staat für seine aktuellen Wirtschaftsförderungsprojekte und zur verstärkten Aufrüstung veranschlagt, und eingedenk der Schulden, die er für die Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen von Pandemie und Ukraine-Krieg aufgenommen hat, die seine Netto-Neuverschuldung auf derzeit 6 % des BIP erhöht haben, ist die Pflege der Verschuldungsfähigkeit oberstes Gebot. Dafür kommt es ebenso sehr auf die Senkung der Verschuldungsquote an wie auf die Vermeidung von Ausgaben ‚minderwertiger Qualität‘, denn auf eines müssen die Finanzmärkte vertrauen können: dass die bei ihnen aufgenommenen Schulden allein dem Zweck dienen, den Standort nach vorne zu bringen, auf den sie damit setzen. Es gibt also keine Alternative zur demonstrativen Streichung unproduktiver Kosten durch eine Rentenreform, die „ein wichtiger Punkt ist, um das Image Frankreichs gegenüber den Märkten insbesondere hinsichtlich des Staatshaushalts zu stärken“ (Le Maire in La Dépêche, 8.3.23). [5] Diesem Standpunkt Macrons und seiner Regierung gemäß wird die Reform konstruiert und durchgesetzt.
An der Rente zeigt sich für Macron prototypisch der Webfehler seines Sozialstaats: Der hat es verschuldet, dass die Leute bei Weitem nicht lange genug arbeiten – im Schnitt treten sie mit 60,7 Jahren in die Rente ein vs. 63,2 in Deutschland – und dann die Kassen volle 23,6 (Männer) bzw. sogar 27,6 Jahre (Frauen) belasten, insgesamt länger als jedes andere europäische Volk. Dazu kommt die Besonderheit, dass dort, wo der Staat selber der Arbeitgeber ist, viele Beschäftigte in berufs(gruppen)spezifischen Sonderkassen organisiert sind, die nicht nur wegen einer anderen Berechnungsgrundlage (die letzten sechs Monate statt die 25 bestbezahlten Jahre des Berufslebens) meist höhere Renten beziehen, sondern auch früher in Rente gehen können als die der allgemeinen Kasse zugeordneten Arbeitnehmer. Zu Letzterem sagt Macron: „Wir haben Sonderkassen für bestimmte Kategorien. Sie sind nicht gerechtfertigt und müssen abgeschafft werden, denn wir sind verschuldet.“ (Rede in Den Haag, 11.4.23) Es braucht nicht einmal die übliche Erinnerung an die „Kompliziertheit“ und „Ungerechtigkeit“ dieser Differenzierung; ihre Abschaffung ist einfach unabdingbar, also erfolgt sie, bis auf einige handverlesene Ausnahmen, [6] für die kommenden Berufseinsteiger, sodass die den Staat so unverschämt teuer kommenden vorteilhafteren Regelungen zusammen mit den bisherigen Anspruchsberechtigten aussterben.
Was sofort eintritt: das normale Renteneintrittsalter wird sukzessive von 62 auf 64 Jahre und die Mindestbeitragszeit für die Normalrente von 41,5 auf 43 Jahre erhöht, um für „ausgeglichene Kassen“ zu sorgen. [7] Auf der Auszahlungsseite wird so ganz ohne Senkung der Rentenhöhe eine Rentenkürzung vollzogen. Auf der Einnahmenseite sollen damit gleichzeitig – ganz ohne eine wachstumsschädliche Erhöhung der Lohnnebenkosten oder der Steuern – die Beiträge um die zwei zusätzlichen Jahre wachsen, während derer länger gearbeitet wird. Ob Letzteres wirklich passiert, ist zwar eine andere Frage. Denn ob die französischen Patrons mehr Bedarf nach Arbeit und schon gleich nach der von alten Arbeitskräften entwickeln, bloß weil der Gesetzgeber die Leute in die Notlage bringt, länger zu arbeiten, das ist dem Arbeitsmarkt überlassen. Nützlich sind sie den Unternehmen aber auf jeden Fall, denn in dem Maße, wie die Zwangslage der Alten, die die benötigten Beitragsjahre zusammenkriegen bzw. das gesetzliche Renteneintrittsalter erreichen müssen, das Angebot auf dem Arbeitsmarkt erweitert, erweitert sich die Freiheit zum Drücken des Lohns und zur Durchsetzung schlechterer Beschäftigungsbedingungen. [8] Die Betroffenen ihrerseits dürfen in aller Freiheit ihre Geschicklichkeit beim Finden von Arbeit und ihre Belastungsfähigkeit an modernen Arbeitsplätzen als Senioren unter Beweis stellen. Und sollten sie keinen geschäftstüchtigen Anwender finden und nicht die Rentenkasse füllen helfen, dann leisten sie dieser immer noch einen guten Dienst, weil ihnen die unterzähligen Einzahlungsjahre mit verschärften Abzügen in Rechnung gestellt werden und die Kasse so weniger belastet wird. In einem viel zu gemütlichen proletarischen Alter, dafür sorgt die um die Wohlfahrt der Nation bekümmerte Regierung, besteht künftig jedenfalls kein Hindernis für „Vollbeschäftigung“ mehr.
Für diesen umfassenden Angriff auf ihren Lebensstandard dürfen die Betroffenen der Regierung dankbar sein. Schließlich erfolgt das alles, wie Macron immer wieder gerne betont, im Dienste ihrer Kaufkraft, die nun mal davon abhängig gemacht ist, dass sie in ihrer Gesamtheit profitabel benutzt werden. Und würde man es unterlassen, führte das „unausweichlich zu massiven Steuererhöhungen und drastischen Rentenkürzungen, würde sogar unser ganzes Rentensystem in Gefahr bringen“ (Élisabeth Borne, Pressekonferenz zur Rentenreform, 10.1.23). Wenn „unser“ Rentensystem so eingerichtet ist, dass jede „rettende“ Änderung daran auf die eine oder andere Art zu Lasten der an ihm Beteiligten geht, sei es durch mehr Abzug vom Lohn, weniger Lebensunterhalt als Rentner oder eben durch die verlängerte Belastung, spricht das nicht gegen dieses System, sondern für seine Retter und deren Maßnahmen, die dem Volk immerhin die alternativen Härten ersparen.
Beim ersten Anlauf zu einer Rentenreform 2019 machte Macron den Versuch, die Gewerkschaften durch ihre selektive Beteiligung an der Ausgestaltung zu spalten und dadurch zu schwächen. 2022 sind sie ihm nicht einmal diese berechnende Anerkennung wert. Zwar werden die Gewerkschaften wie die Arbeitgeberverbände zu den regelmäßigen Treffen über ein Vierteljahr hinweg eingeladen, allerdings auf Grundlage der vorab gemachten Klarstellung Macrons, dass es an der Reform nichts zu verhandeln gibt, sie diese als Gesprächspartner (!) also abnicken sollen. Folgerichtig lautet das Resultat aus Gewerkschaftssicht: Die Regierung „will eine dogmatische Reform, zu der sie fest entschlossen ist, ohne die Meinung der Gewerkschaften auch nur zur Kenntnis zu nehmen – die in diesem Fall eine einhellige Meinung ist“ (Philippe Martinez, Chef der zweitgrößten Gewerkschaft CGT, 4.1.23). Das ist auch nur konsequent, immerhin hat Macron mit seinem Erneuerungsprogramm für die Nation auch sie im Visier:
„Am 10. Dezember 2022 stellte der Staatschef einmal mehr den Korporatismus als ‚die französische Krankheit, die Sache, die sich nach der französischen Revolution 1789 am schnellsten wiederhergestellt hat‘, heraus... ‚Das ist mein wichtigster politischer Kampf‘, erklärt er als scharfer Kritiker der ‚Kaperung des Allgemeininteresses durch Leute zugunsten ihrer Privatinteressen‘.“ (lemonde.fr, 10.2.23)
Am allerschärfsten ist eben Macrons Selbstkritik am Staat: Wenn die Gewerkschaften bisher eine relativ starke Stellung haben, obwohl sie überhaupt nur ca. 8 % der französischen Arbeitnehmer zu ihren Mitgliedern zählen (davon die meisten im öffentlichen Sektor, in dem der Organisationsgrad ca. 18 % beträgt), liegt das ihm zufolge an einem schwachen Staat. Der hat dafür zu sorgen, dass die Gewerkschaften anders denn als Kooperationspartner bei der Durchsetzung seiner Maßnahmen nicht mehr zur Geltung kommen. Auch sie haben an dieser Reform zu lernen, was in der Nation wirklich unbedingt gültiges, nämlich staatlich gültig gemachtes, also allgemeines Interesse ist und was – möge es noch so verbreitet sein – bloß partikulares.
Auf die Verkündung der Reform von oben zu Jahresbeginn folgt massiver Widerstand von unten.
„Viele Kollegen, die vor der Rente stehen, sind schon arbeitsunfähig. Und jetzt verlangt man von uns, noch zwei Jahre länger zu arbeiten. Wir haben einen aufreibenden Beruf.“ (Busfahrerin, Deutschlandfunk, Informationen am Abend, 7.2.23)
„Jetzt geht es nur darum, uns zwei Jahre länger arbeiten zu lassen. Viele Landwirte sind aber viel zu erschöpft dazu.“ (Rinderzüchter und Agrargewerkschafter, FAZ, 8.2.23)
Die Betroffenen agieren als das Kollektiv der von der Reform Geschädigten, das sie sind: Sie weigern sich, den von der Herrschaft in einer agitatorischen Dauerschleife angetragenen Sorgestandpunkt für das Funktionieren eines „sich selbst tragenden Rentensystems“ zugunsten einer Staatsverschuldung für die wirklich wichtigen Anliegen der Nation einzunehmen. Die Protestierer rechnen der Öffentlichkeit vor, dass sie sich angesichts ihrer bereits vorliegenden Ruinierung schlicht außer Stande sehen, das an zusätzlicher Belastung auszuhalten, was das geplante Gesetz ihnen abverlangt. Trotz aller Begründungen und Erklärungen, inwiefern die Regierung mit der Rentenreform einem Sachzwang gerecht wird, also das Alternativlose für ihr Volk tut, steht ihnen glasklar vor Augen, dass diese ein Angriff auf ihren Lebensunterhalt ist. Die Veränderung des Rechts – mit dem sie bisher als ihr gutes Recht gelebt und das sie als solches praktisch in Anspruch genommen haben – sehen sie als einen mutwilligen Akt staatlicher Gewalt. Sie kennen also einen eindeutigen Gegner, und es ist klar für sie, dass sie mit ihrem Widerstand eine Gegenmacht gegen den festgestellten Angriff entfalten müssen.
Diese Gegenmacht organisieren die Gewerkschaften, die sich damit ihrerseits gegen ihre Entmachtung wenden. Dafür finden die acht wichtigen unter ihnen, allgemein als große Ausnahme gefeiert, zu einer Einheitsfront zusammen. Sie rufen über Wochen und Monate zu Großstreiks auf und veranstalten Demonstrationen, an denen je nach Zählung zwischen einer und drei Millionen Menschen teilnehmen und die von drei Vierteln der Franzosen befürwortet werden.
Macron und die Regierung Borne halten an der Reform bei aller mobilisierten Gegenmacht ohne Wenn und Aber fest. Ein Gesprächsangebot, wie es die Gewerkschaften fordern, die wenigstens auf die Abschwächung der „brutalen“ Reform pochen, halten sie nicht für notwendig; schließlich haben sie wochenlang erst ihnen, dann dem Volk erklärt, dass seine Verarmung sein muss, mehr gibt es da nicht zu reden. Was die Demonstrationen angeht, rechnen Polizei und Innenministerium sie in routinierter Weise klein und kriminalisieren den Protest, wo er „sich nicht an Regeln hält“, was heißt: weil er sich gegen die staatliche Gewalt stemmt, ist er pure Gewalt.
Hinsichtlich der Streiks setzt Macrons Regierung ganz souverän – was sind schon ein paar Streiktage und protestlerischer Missmut gegen die existenziell nötige Maßnahme für Frankreichs Größe?! – darauf, dass die Aktivisten sie sich nicht lange leisten können und so der Widerstand langfristig buchstäblich ausgehungert wird; die Gegenseite erlebt mit ihren ohnehin niedrigen Löhnen und kaum vorhandenen Streikkassen nämlich sehr schnell den existenziellen Charakter ihres sozialen Abwehrkampfs. Indem sie so demonstrativ den Widerstand der Gewerkschaften ins Leere laufen lässt, treibt die Regierung deren Schwächung als bisher politisch quasi in den Staat eingebaute Instanz voran.
Die Gewerkschaften verstärken daraufhin Anfang März die Streiks, besetzen Ölraffinerien und LNG-Terminals, sodass der Treibstoff an vielen Tankstellen knapp wird, sorgen für weitgehende Flug- und Zugausfälle, legen die Müllabfuhr in Paris lahm... Dagegen setzt die Regierung auf ein bewährtes rechtsstaatliches Mittel, die strafbewehrte Dienstverpflichtung (réquisition), mit der Streikende in systemkritischen Branchen – also dort, wo sie mit ihrem politischen Streik wirklich Macht zu entfalten in der Lage sind – zur Arbeit gezwungen werden können. Bei Nichtbefolgung drohen ihnen sechs Monate Haft. [9] Für die gröbere Ausübung des Gewaltmonopols ist die Polizei zuständig, die auf der einen oder anderen Demo vorführt, womit ein unzufriedenes Volk rechnen muss, das seine Gegenmacht andeutet.
Davon getrennt – wie es sich in einer Demokratie gehört – kümmert sich die Regierung darum, den Gesetzgebungsprozess abzuwickeln. Es zeichnet sich ab, dass die nötige Mehrheit im Parlament unsicher ist, aber für Macron ist klar: Die Rentenreform muss „bis Ende des Jahres in Kraft treten“, weil sie eben „notwendig ist“. „Ich lebe nicht von Bedauern, ich lebe von Willensstärke und Beharrlichkeit“, und als diese unnachgiebige Figur ist er sogar märtyrerhaft bereit, für das Allgemeinwohl seines Volks dessen geballten Hass in Form schlechter Umfragewerte auf sich zu ziehen: [10] „Zwischen den Umfragen, der Kurzfristigkeit und dem Allgemeininteresse des Landes entscheide ich mich für Letzteres. Und wenn man die Unpopularität auf sich nehmen muss, werde ich sie auf mich nehmen.“ (Fernsehinterview, 22.3.23) Wo andere Präsidenten und ihre Regierungen die nachhaltige Verstimmung ihrer Wähler als Grund kannten, ihre Reformen zu relativieren, argumentiert Macron genau umgekehrt. Er ist überhaupt mit dem Reformversprechen in den Wahlkampf gegangen; er wurde gewählt, also hat er jetzt die Macht und nutzt sie ohne jede Rücksicht auf „Popularität“. In diesem Geiste setzt die Regierung im März das beschleunigte Gesetzgebungsverfahren in Kraft (via Artikel 49.3 der Verfassung). Beide daraufhin gestellten Misstrauensanträge scheitern; offensichtlich wollen die Republikaner als Zünglein an der Waage sich in Teilen zwar nicht positiv dem Reformvorhaben anschließen und so die Wut des Volks auf ihre Partei ziehen, sie halten es aber in der Sache doch für so notwendig, dass genügend Abgeordnete die Regierung nicht abwählen und das Vorhaben damit passieren lassen – so wird schließlich das Gesetz per Dekret ohne parlamentarische Abstimmung durchgesetzt.
Für die Protestierenden ist damit nicht nur die Hoffnung, die manche von ihnen in das Parlament gesetzt haben mögen, dahin, sondern vor allem der letzte Beweis dafür geliefert, dass sich in diesem Gesetzgebungsverfahren der illegitime Wille eines volksvergessenen Führers gewaltsam durchsetzt.
„Eine Regierung, die den Willen des Volkes mit Füßen tritt.“
„Wir müssen auf die Straße gehen, damit wir sichtbar sind für eine Regierung, die uns nicht zuhört.“
Dieser Vorwurf – die Regierung missachtet das Volk als den eigentlichen Souverän – beweist ihnen über den materiellen Angriff auf den Lebensunterhalt hinaus, wie nötig und richtig der Protest ist. Das verschafft diesem ein paar Tage lang neuen Auftrieb, sichert den streikenden Arbeitern Solidaritätsbekundungen von ihren mehrheitlich nicht gewerkschaftlich organisierten Klassenbrüdern und lässt sie ein wenig mehr finanziellen Opfermut für ein paar weitere handgezählte Streiktage aufbringen.
Während „die Straße“ von den Regierenden weiterhin mit den bewährten Maßnahmen souverän ignoriert, zum Teil auch abgeräumt wird, erledigt der Rechtsstaat die weitere Abwicklung: Die Überprüfung auf formelle Richtigkeit des Verfahrens durch den Verfassungsrat führt zur ziemlich umfassenden Absegnung des Gesetzes. Falls noch ein Protestler gehofft haben sollte, die Verfassung wäre auf der Seite des widerständigen Volks, ist die Hoffnung damit auch erledigt.
Nachdem das Gesetz so unter Dach und Fach ist und Macron seine Unterschrift darunter gesetzt hat, bietet er, zusammen mit seiner Regierungschefin, den Gewerkschaften großzügig an, sich – über nichts, was sie wollten, sondern – darüber zu unterhalten, wie man vorwärtsweisend an die durchgesetzte Reform anknüpfen kann: Der neue „Pakt für das Arbeitsleben“ soll z.B. Möglichkeiten eruieren, wie die Beschäftigungsquote der Älteren erhöht werden kann, die ja nun nicht mehr die Rentenkassen belasten. So versucht sich die Regierung daran, die Degradierung der Gewerkschaften zum Sozialpartner, also zum konstruktiven Beiträger zu den von oben vorgegebenen Zielen, festzuschreiben. An sein gesamtes Volk wendet Macron sich ebenfalls und macht ihm das freundliche Angebot, nicht unter der ohnehin beschlossenen Reform, sondern genauso wie er unter der Spaltung der Nation durch die Reform und die Unzufriedenheit mit ihr zu leiden und mit ihm zusammen an deren Überwindung zu arbeiten. Wie? Indem alle sich in den kommenden hundert Tagen das zur Leitlinie machen, was sein Ausgangspunkt war und bleibt:
„Als Allererstes unsere Unabhängigkeit, für Frankreich und für Europa. Wir sind ein Volk, das sein Schicksal zu beherrschen und zu wählen versteht. Wir wollen von niemandem abhängig sein: nicht von Spekulationskräften, nicht von auswärtigen Mächten, nicht von anderen Willen als dem unseren. Und wir haben recht. Aber die Unabhängigkeit lässt sich nicht befehlen. Sie wird gebaut auf Ambitionen, Anstrengungen, national und europäisch, auf den Ebenen des Wissens, der Forschung, der Attraktivität, der Technologie, der Industrie, der Verteidigung. Und sie wird kollektiv durch die Arbeit finanziert.“ (Ansprache des Präsidenten, 17.4.23)
Das, was dem einig Volk von Rentenzahlern und -beziehern als feindliches Interesse gegenübertritt, was sie deshalb über drei Monate bekämpft und künftig als Verschlechterung ihrer Lebensbedingungen hinzunehmen haben, adelt sie, wenn sie sich mit Macron auf ihre Identität als französische Nationalisten besinnen. Ihr Lohn ist die Heilung des ‚französischen Leidens‘: Mit ihrer „immer ein wenig längeren“ Arbeit leisten sie ihren Beitrag dazu, dass sie, statt den Haushalt zu belasten, sich von niemandem außer ihrer eigenen Regierung sagen lassen müssen, wo es langgeht.
[1] In dem Artikel Emmanuel Macron. Schon wieder einer, der sein Land ganz groß machen will in Ausgabe 2-18 dieser Zeitschrift ist Macrons Erneuerungsethos anhand seiner programmatischen Schriften zur Wahl und seiner ersten Maßnahmen als Präsident erläutert.
[2] Einen Überblick darüber, wie tiefgreifend die „Plünderung der Arbeitslosenversicherung“ ausgefallen ist, liefert die CGT 2022 in einer Bilanz: eine erhebliche Einschränkung der Anspruchsberechtigung, die Reduktion der Ansprüche um bis zu 16 %, demgegenüber „keinerlei positiver Effekt auf die Beschäftigung“ (1er bilan de la réforme d’assurance chômage 2021: un saccage avant la prochaine, cgt.fr, 21.12.22).
[3] Demnächst steht die Neuverhandlung der krisenbedingt ausgesetzten gemeinsamen EU-Verschuldungsrichtlinien mit EU-Kommission und europäischen Nachbarn bevor, wobei die Rückkehr zu einheitlichen und vor allem wieder verbindlich gültigen Maßgaben für die Bewirtschaftung der nationalen Standorte bezweckt wird. Darüber will auch Frankreich aus einer Position der Stärke mitverhandeln, um überzogenen Ansprüchen der „sparsamen“ EU-Nationen mit ihrer deutschen Führungsfigur Lindner begegnen zu können. Das Land, das vor nicht einmal einem Jahrzehnt als gewichtigster Mitgarant finanzpolitischer Stabilitätskriterien an Deutschlands Seite agierte, soll nicht der handfesten Peinlichkeit ausgesetzt sein, seinen Haushalt in Zukunft vor der EU rechtfertigen zu müssen.
[4] Die Verschuldungsquote soll durch die Kombination aus Investitionen in die Aufmöbelung der Wirtschaft und produktiverem Volk also unbedingt sinken, damit Frankreich nicht in einem inflationär veränderten Zinsumfeld zukünftig einen erheblichen Anteil seiner Neuverschuldung für die Bedienung alter Schulden verwenden muss, zumal sich jetzt schon der Spread zu Deutschland (für zehnjährige Staatsanleihen) vergrößert: „‚Entweder stabilisieren wir die öffentlichen Finanzen in den kommenden Monaten, weil sich die wirtschaftliche Situation normalisiert, oder wir werden höhere Zinsen zahlen und eine immer höhere Schuldenlast aufbauen‘, erklärte der Wirtschaftsminister auf BFMTV.“ (Retraites: une réforme pour satisfaire les marchés financiers?, bfmtv.com, 7.3.23)
[5] Wie eine nachgetragene Bestätigung der Diagnose nimmt sich die Herabstufung von Frankreichs Rating durch die Rating-Agenturen Moody’s und Fitch Ende April aus, die nämlich erstens mit einer zu hohen Staatsverschuldung und zweitens dem Protest gegen die Rentenreform begründet wird. Le Maire gibt sich sicher, dass die demnächst sichtbar werdenden Konsequenzen der Reform zusammen mit den ambitionierten Förderprogrammen für die grüne und die digitale Wende die Finanzmärkte schnell wieder umstimmen werden.
[6] Diese betreffen vor allem das, was die Nation adelt (Opéra de Paris und Comédie-Française), und das, was sie sichert und beherrscht (Abgeordnete; Polizei und Militär haben zwar keine Sonderkasse, aber ein Sonderrecht auf frühere Rente, das beibehalten wird).
[7] Apropos „ausgeglichene Kassen“: Auch in Frankreich basiert die Rente auf einem Umlageprinzip. Sie ist in 42 oft berufsspezifischen Rentenkassen als Zwangsversicherung nicht nur für die Lohn- und Gehaltsabhängigen, sondern auch für kleine Gewerbetreibende, Beamte, Lehrer, Landwirte usw. organisiert. Und auch das ist in Frankreich nicht anders als z.B. in Deutschland: Die staatliche Festlegung der Klasse der abhängig Beschäftigten darauf, im Prinzip von der Summe ihres Einkommens leben zu müssen – geregelt durch gesetzliche Abzüge vom Einkommen der einen und gesetzlich regulierte Ansprüche der anderen –, wird als quasi naturgesetzliche „Generationensolidarität“ ausgedrückt: „Diese Solidarität beruht jedoch auf einem Gleichgewicht: Die Beiträge der Aktiven müssen die Bezüge der Rentner finanzieren.“ (Élisabeth Borne, Pressekonferenz zur Rentenreform, 10.1.23)
Wenn Borne so erst einmal die staatliche Setzung in eine unumstößliche Ausgangslage verwandelt hat, ist ihr auch klar, warum die gesetzlich festgelegten Ansprüche der Beitragszahler auf die Kassenleistungen immer wieder die Summe der Beiträge übersteigen, auf die die Kassen zugreifen: „Die Zahl derer, die für die Renten einzahlen, sinkt im Verhältnis zur Zahl der Rentenbezieher. Das ist ein Faktum, kein politisches Argument.“ (É. Borne, a.a.O.) Die Eigenarten der Einkommensquellen, die beständig dazu führen, dass die aufgebrachte Beitragssumme nicht reicht, sind allerdings ein politisch sehr gewolltes Faktum – das mit Geburtenraten nichts zu tun hat: Lohn zahlt „die Wirtschaft“ mit ihren scharf kalkulierenden Arbeitgebern und ihren vielen scharf durchkalkulierten Lohnabhängigen nicht fürs Leben, sondern für nützliche Arbeit. Leute nicht (mehr) zu beschäftigen, weil sie sich nicht lohnen, oder sie lohnender zu beschäftigen, indem weniger von ihnen die gleiche Arbeit verrichten, spart beides Geld für deren Lebensunterhalt – und verringert im Nebeneffekt die Renteneinzahlungen. Bei den Selbstständigen wie etwa Landwirten wiederum wird ihr Einkommen nicht durch fremde Arbeit generiert, sondern mehr oder weniger nur durch ihre eigene Arbeitskraft, womit Misserfolge und Scheitern in der Konkurrenz gegen kapitalstarke Großmärkte und Agrarkonzerne vorprogrammiert sind. Und was die Staatsbeamten angeht, hat Macron es zu einem wichtigen Anliegen seiner ersten Amtszeit gemacht, ihre Zahl zu reduzieren.
Dem Auseinandertreten von Kasseneinnahmen und -ausgaben, zu dem es darum notwendig kommt, wurde im Laufe der letzten Jahrzehnte durch verschiedene Extrasteuern und deren stetige Erhöhung Rechnung getragen, auch gab es bereits Verschiebungen des Renteneintrittsalters, die die Rechtsansprüche der Beitragszahler zum Problem wie – durch ihre Änderung – zur Problemlösung erklärten. Die auch davon noch nicht gedeckten Defizite gleicht der Staat bislang aus seinem Haushalt aus und garantiert so zugleich die Leistungen der Kassen und die Kalkulationsfreiheit der Arbeitgeberschaft.
[8] Gemäß dem Institut für Französische Wirtschaft OFCE werden die Löhne mit der geplanten Erhöhung des Renteneintrittsalters um jährlich 0,3 % sinken. Einschlägige Erfahrungen lehren nämlich, dass eine Erhöhung des Renteneintrittsalters in aller Regel eher zu einer passiven Arbeitsmarktbeteiligung der Alten führt, sodass die Vergrößerung des Heers Arbeitssuchender den Unternehmen eine schöne Verbilligung derer ermöglicht, die sie ohnehin anstellen. „Konkret hat sich die Unédic mit den Auswirkungen des Rentengesetzes vom November 2010 befasst, mit dem der damalige Präsident Nicolas Sarkozy das Renteneintrittsalter von 60 auf 62 Jahre angehoben hatte. Dieses Gesetz führte dazu, wie die Studie nun zeigt, dass zwischen Mitte 2010 und Mitte 2022 die Zahl der Bezieher von Erwerbslosengeld, die mindestens 60 Jahre alt waren, um 100 000 angestiegen ist. Die Zahl der Erwerbslosen ab 55 Jahren, die auf staatliche Hilfen angewiesen waren, erhöhte sich in dem Zeitraum um 38 Prozent. Bei den unter 55-jährigen lag dieser Wert dagegen bei ‚nur‘ 16 Prozent.“ (junge Welt, 6.3.23)
[9] Das Streikrecht bleibt dabei weiterhin durch die Verfassung gewährleistet, in der Rechtsgüterabwägung muss es allerdings hinter dem Funktionieren der systemkritischen Branchen zurückstehen. Mit dem entsprechenden Paragraphen im Gesetzbuch wird dafür vorgesorgt, dass die Versorgung und das Funktionieren der Gesellschaft ganz ohne Streikverbot für Beamte und ein Verbot politischer Streiks wie in Deutschland garantiert sind. Das ist die feine französische Art, den dort erlaubten politischen Streik keine Macht entfalten zu lassen.
[10] Um den von Macron im selben Interview so geziehenen „Mob“, der sich nämlich antidemokratisch gegen den gewählten Führer stellt, kümmert sich, s.o., die Polizei.