Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Noch mehr Reformvorschläge von Peter Hartz:
Betriebswirtschaftliche Kalkulationen mit dem ganzen Arbeitsleben
Hartz macht einen neuen Vorschlag, wie man Lohnabhängige in Deutschland noch billiger und länger arbeiten lassen kann. Weil die Leistungskraft der Arbeiter mit zunehmendem Alter abnimmt, fordert er, dass sie bei gleichbleibendem Lohn in jungen Jahren mehr arbeiten und ein Stundenguthaben aufbauen, das im Alter abgetragen wird. Die Gewerkschaft stellt sich positiv zu der Idee, dass ihr Klientel die eigene Ausbeutung jahrelang zinslos vorfinanzieren soll, fordert aber für die letzten Detailfragen verbindliche Regelungen. Die Arbeitgeber bemängeln, dass die zugrunde gelegte Basis einer 35 Stundenwoche ihre unternehmerische Freiheit einschränkt.
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Noch mehr Reformvorschläge von Peter
Hartz:
Betriebswirtschaftliche
Kalkulationen mit dem ganzen Arbeitsleben
Zu allen schon praktizierten Freiheiten des Kapitals im
Umgang mit der Arbeitskraft und allen darüber hinaus
gehenden, in der Zirkulation befindlichen Vorstellungen,
wie man deutsche Arbeiter noch billiger und länger
arbeiten lassen könnte, kommt nun von VW-Personalchef
Hartz noch ein Vorschlag hinzu; ein Vorschlag, der so
einfach und brillant ist, dass alle staunen werden.
Ausgangspunkt seiner Überlegung ist, dass die Menschen
zwar länger arbeiten müssen als bisher, dass aber ältere
Beschäftigte weniger leistungsfähig sind als in ihrer
Jugend. Folglich muss in der Jugend länger gearbeitet
werden als im Alter.
(FAZ,
17.9.03)
Wirklich genial, wie Hartz die verschiedenen Leistungsanforderungen an „die Menschen“ unter einen Hut bringt, so dass „folglich“ nur noch die damit zurechtkommen müssen! Wenn die Arbeitsleute von Staats wegen künftig später ins Rentenalter entlassen werden, damit sie der Rentenkasse weniger zur Last fallen, von Betriebs wegen aber die Leistungsanforderungen an sie so hoch sind, dass sie denen schon lange vor dem Rentenalter nicht mehr gewachsen sind, dann müssen sie eben in ihrer Jugend, wenn sie noch unverbraucht sind, länger ran. Im Alter, wenn ihre Leistungskraft dahingeschwunden ist, können sie dann bei verringerter Stundenzahl immer noch eine brauchbare Leistung fürs Unternehmen bringen. Man bräuchte also bloß die Arbeits- und die freie Zeit im Arbeiterleben ein wenig umzuverteilen, und schon könnten die lieben Menschen den Leistungsanforderungen, die der Betrieb an sie stellt, viel besser gerecht werden:
„Die ‚demographische Arbeitszeit‘ kennt drei Phasen: Die erste reicht bis zum 45. Lebensjahr. In dieser Zeit beträgt die wöchentliche Arbeitszeit beispielsweise 40 Stunden. Für fünf davon wird ein Zeitguthaben angelegt. Vom 45. bis 55. Lebensjahr beträgt die Arbeitszeit 35 Stunden, danach 30 Stunden wöchentlich. In der Schlussphase wird das Zeitguthaben verwertet. So kommt eine durchschnittliche wöchentliche Arbeitszeit von 35 Stunden während der Lebensarbeitszeit zustande.“
Interessant, wie Hartz ausspricht, was dem alten Marx keiner glaubt: Dass das Leben des Arbeiters – zeitlich und finanziell – eine vom Kapital bestimmte Größe ist und sonst nichts. Sein Vorschlag geht davon aus, dass freie Zeit und Arbeitszeit disponible Größen des Kapitals sind, also „einfach“ nur optimal den Bedürfnissen des Kapitals angepasst werden müssen. Wenn die Leistungskraft der Beschäftigten ihren Höhepunkt in der ersten Hälfte des Arbeitslebens hat, dann erfahrungsgemäß bereits schleichend und bald rapide dahinschwindet, so heißt das für den proletarischen Lebensplaner von VW „folglich“, dass mehr von der Lebensarbeitszeit in der ersten Hälfte des Arbeiterlebens absolviert werden muss und von der Lebensfreizeit dementsprechend mehr ins spätere Leben zu verlegen ist. Was das für die Arbeitsleute heißt; ob es ihnen gut bekommt; ob es ihnen Recht ist; dass sie in jungen Jahren vielleicht noch andere Lebensziele haben als sich möglichst frühzeitig für ihren Arbeitgeber aufzuarbeiten, das alles spielt für Hartz ganz „einfach“ keine Rolle: Sie müssen sich halt umstellen, was sonst. Was müssen sie ihr Bedürfnis nach Freizeit ausgerechnet in den Jahrzehnten betätigen, in denen ihr Betrieb noch mehr Leistung aus ihnen rausholen kann?! Dafür haben sie dann ja im Alter, wenn sie verschlissen sind, mehr freie Zeit zur Pflege ihrer angeschlagenen Physis.
Apropos verschlissen: So natürliche Gründe hat das, worauf Hartz mit seinem Vorschlag als ‚demographische‘, quasi naturgesetzliche Regel Bezug nimmt – die abnehmende Leistungskraft – ja auch nicht. Ihm ist halt aufgefallen, dass die wirtschaftlich lohnend eingerichtete Produktivität an einem modernen Arbeitsplatz mit so viel Arbeitsintensität und Inanspruchnahme von Hirn, Muskel und Nerv der Arbeitsplatzbesitzer einhergeht, dass die bereits nach ein paar Jahren zunehmende Anzeichen von Verschleiß aufweisen. Und das hat ihn auf seine „brillante“ Idee gebracht: Wenn die Leute schon mit 45 ziemlich verschlissen sind, dann muss man sie – nicht etwa: kürzer treten lassen; und schon gleich nicht: in ihrer Jugend schonender behandeln, damit es so weit gar nicht erst kommt, sondern: – bis dahin mehr rannehmen und mehr aus ihnen rausholen.
Diese Mehrleistung muss selbstverständlich drin sein in dem Preis, den die Betriebe für die auf 35 Stunden berechnete Arbeitswoche ihrer Mitarbeiter bislang bezahlen. Die passende Lohnform, die diese Mehrleistung in der bezahlten Arbeit einschließt, ergibt sich für Hartz „folglich“ ganz „einfach“ daraus, dass man die 35 Wochenarbeitsstunden als Durchschnitt auf ein ganzes Berufsleben berechnet, in dem sich die tatsächlich gearbeiteten Wochenstunden ganz aus der freien Kalkulation des Kapitals mit der Arbeitskraft ergeben. Schon daran gewöhnt, dass Überstunden- und Wochenendzuschläge vom Lohnzettel gestrichen sind und der versprochene Ausgleich von Guthaben der – bei VW schon länger eingeführten – Jahresarbeitszeitkonten am Ende eines Arbeitsjahres regelmäßig auf unbestimmte Zeit verschoben wird, darf der Arbeiter dies nach den Vorstellungen von Hartz jetzt als Prinzip der Entlohnung für seine Lebensarbeitszeit akzeptieren. Der Witz daran: Je länger der Abrechnungszeitraum veranschlagt wird, in dem für eine Durchschnittsarbeitszeit ein fixer Lohn bezahlt wird, desto mehr Freiheiten in der Beanspruchung der Arbeitskraft erwirbt sich das Kapital mit der Bezahlung dieser fixen Größe. Durch die Ausdehnung dieses Prinzips aufs ganze Arbeitsleben spielt für die Entlohnung der Unterschied zwischen Normalarbeitszeit (pro Tag, pro Woche, pro Monat, jetzt sogar pro Jahr) und Zusatzarbeit endgültig keine Rolle mehr. Gleichgültig dagegen, in welcher Phase seiner ‚demographischen Arbeitszeit‘ er sich gerade befindet, bekommt der Arbeiter monatlich einen Durchschnittsbetrag ausbezahlt. Wie viele Stunden er für diesen Betrag arbeiten muss, ergibt sich nach dem oben dargelegten Muster aus dem Interesse des Kapitals, möglichst viel Leistung aus ihm herauszupressen. In der ersten Phase, wenn er noch mehr leisten kann, hat er daher mehr Stunden für diesen fixen Betrag zu arbeiten. In dieser Phase kreditiert er seinen Betrieb als stolzer Besitzer eines anwachsenden „Zeitguthabens“, das sich von sonstigen Guthaben nur dadurch unterscheidet, dass es keine Zinsen abwirft. Ein kleiner, aber feiner Zusatzgewinn. Für die fünf Stunden zusätzliche Arbeit pro Woche streicht das Unternehmen nicht nur den Profit schon laufend ein, sondern lässt sich den für das Zustandekommen dieses Ertrags unverzichtbaren Kostenfaktor ‚Arbeit‘ auch noch von seiner Belegschaft über Jahre hinaus vorfinanzieren. Dieser zinslose Kredit läuft dann weiter in der zweiten Phase, in der die tatsächliche Arbeitszeit durchschnittlich der Durchschnittsarbeitszeit entspricht. Und wenn der Arbeiter dann glücklich das 55. Lebensjahr erreicht hat, bricht für ihn die Zeit an, in der er durch ein paar Arbeitsstunden weniger pro Woche in den Genuss seines Guthabens kommt. Maximal 10 Jahre Minderarbeit bleiben ihm dann noch, um sein durch ca. 25 Jahre Mehrarbeit erworbenes Guthaben abzufeiern.
So jedenfalls der Idee nach. Denn soviel steht jetzt schon fest – und ist durch die Erfahrungen mit der Jahresarbeitszeit und dem Ausgleich entsprechender Konten längst verbürgt –, dass die Praxis dieser Idee ein wenig anders ausschaut. Auf alle Fälle wird der Hauptteil des Arbeitslebens erst einmal länger gearbeitet, und ohne diese Vorleistung, ohne dass der Arbeiter erst einmal Jahre lang seine eigene Ausbeutung zinslos vorfinanziert, geht die Rechnung für ihn am Ende seines Arbeitslebens garantiert nicht auf. Was dann aus seinem Guthaben wird, hängt von lauter Imponderabilien ab. Er muss ja sein ganzes Arbeitsleben erst einmal durchstehen, er darf nicht arbeitslos werden, sein Arbeitgeber darf nicht Pleite gehen und er darf auch nicht zu früh den Löffel abgeben – sonst sind größere Teile seines Lohns einfach dahin. Mit dem Eintreten eines oder mehrerer dieser Risiken des modernen Fabrikarbeiterlebens steht absehbarerweise die Bezahlung der bereits abgeleisteten Mehrarbeitsstunden in Frage. Darum, dass die von ihm erbrachte Arbeit überhaupt bezahlt wird, darf sich der Arbeiter dann noch extra kümmern.
Die Rechnungen, die der VW-Personalchef mit dem Lebensarbeitszeitarbeiter anstellt, schließen zu guter Letzt auch noch eine betriebliche Fürsorge für diesen nützlichen, dem Kapital total verfügbaren Dienstleister seines Betriebs ein, die geradezu rührend ist. Damit die Belegschaft den im Laufe eines Arbeitslebens durch alle möglichen Rationalisierungen tausend Mal umgekrempelten Anforderungen des Betriebs gewachsen bleibt; damit sie ihr Arbeitsleben so, wie der Betrieb es einrichtet und immer wieder durcheinander wirft, überhaupt hinkriegt, bietet VW ihr einen Service an, der zwar obligatorisch ist, der von ihr aber schon aus eigenem Interesse an der Bewahrung ihrer lohnabhängigen Existenz angenommen werden sollte:
„Jede Woche sind ein paar Stunden für die obligatorische Qualifikation und das Training neuer Techniken veranschlagt… Diese Stunden dienen der Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit.“
Ein paar Zusatzstunden dafür, dass man sich für den
Betrieb fit hält, sind also auch noch fällig. Aber die
bringt der VWler ja gerne im Betrieb rum, wenn sie der
eigenen „Beschäftigungsfähigkeit“ dienen. Diese
Wortschöpfung hätte es eigentlich verdient, als ‚Wort des
Jahres‘ gewürdigt zu werden: Ein Unternehmen braucht
allzeit und allseits flexible Arbeitskräfte, es richtet
sich diese unter zusätzlicher und unbezahlter
Inanspruchnahme der Zeit seiner Mitarbeiter her – und
drückt das dann als Dienst an einer Eigenschaft seines
Ausbeutungsmaterials aus: Das darf sich glücklich
schätzen, dass an ihm die Bedingungen ausgebildet werden,
die das Interesse des Unternehmens an seiner Benutzung
erhalten. Und das auch noch mit Aufstiegschancen: Nur
wer sich bildet, kann auch aufsteigen von körperlicher
Tätigkeit zu solcher am Steuerungspult.
*
Und was sagt die Gewerkschaft dazu? Die begrüßt
die Vorschläge von Hartz ganz grundsätzlich als Beitrag
zu mehr Zeitsouveränität und Beschäftigungssicherung. Sie
hält seine Überlegung, wie sich die Leistungskraft des
Arbeitsmenschen noch besser ausnutzen lässt, für einen
sehr interessanten Gedanken
(Frau Engelen-Kefer), lässt sie sich doch
als konstruktive Einlassung auf ihre Errungenschaft einer
35-Stunden-Woche verstehen. Immer dabei, wenn es auf
Grund neuer Umgangsweisen des Kapitals mit der
Arbeitskraft etwas zu regeln gibt, sieht sie auch in
diesem Fall einigen Regelungsbedarf. An den hinterletzten
Konsequenzen einer leistungssteigernden und die Arbeit
verbilligenden Reformierung der Arbeitszeit steigt sie
ein und verlangt nach verbindlichen rechtlichen
Regelungen für alle möglichen Eventualitäten, mit denen
sie in Kenntnis der Gegenseite jetzt schon fest rechnet:
Um sein Zeitguthaben darf der Arbeiter aber nicht
beschissen werden, da will sie ganz genau hinschauen.
Außerdem will sie mithelfen, die praktischen
Schwierigkeiten zu lösen, die dann entstehen, wenn ein
Jüngerer länger arbeitet, dann aber den Arbeitgeber oder
gar die Branche wechselt.
Von den Erbschaftsfragen,
die erst einmal geklärt sein wollen, damit sich
Arbeiterwitwen nicht um das Zeitguthaben ihres leider zu
früh verstorbenen Gatten betrogen sehen, ganz zu
schweigen.
Die Arbeitgeber, die den Hartz-Vorschlägen auch
grundsätzlich positiv gegenüber stehen, haben ebenfalls
ihre Probleme mit ihnen. Ihren Nerv trifft Jonas Viering
in einem Kommentar für die Süddeutsche Zeitung: Die
Lebensarbeitszeit geht in die richtige Richtung.
Tatsächlich können eben Ältere nicht ewig ranklotzen –
viele Jüngere aber haben sogar Spaß daran, es ist für sie
ein Teil von Selbstverwirklichung.
Bei allem
Lustgewinn, den die Hartz-Vorschläge für die
Arbeiterjugend versprechen, darf man aber einen Nachteil
nicht übersehen, an den bislang noch niemand gedacht hat:
Hartz’ Fixierung auf die 35 Stunden-Woche ist
allerdings zu eng. Schon heute arbeiten sehr viele
Menschen länger, als in ihrem Tarifvertrag steht.
(SZ, 19.9.) Ganz verkehrt
wäre es, die Lebensarbeitszeit auf die Grundlage einer
durchschnittlichen 35-Stunden-Woche zu stellen. Das wäre
einfach realitätsfremd und würde den Zeichen der Zeit
nicht gerecht. Die deuten in Gestalt von lauter neuen
Forderungen von Seiten der Arbeitgeber nämlich genau in
die umgekehrte Richtung; sie zielen auf ein Aufräumen mit
jeder an einem zeitlichen Maß orientierten
Arbeitszeitregelung – dergleichen nehmen die Arbeitgeber
grundsätzlich als Beschneidung ihrer Freiheit. Außerdem
fordern sie die Wiedereinführung des Samstags als
zuschlagfreien Werktag; z.B. mit der Begründung: Die
Leute gehen doch eigentlich gern zur Arbeit, das ist doch
kein Frondienst.
(Vorstandsvorsitzender von Siemens, Heinrich von
Pierer, 17.9.) Die Freiheit des Unternehmers ist
der Lebenszweck seiner Mitarbeiter! Ja dann.