Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Putin in Berlin:
Deutschland und Russland teilen sich ihre „gemeinsamen Interessen“ mit

Einerseits ist den Deutschen ein Russland mit Putin zu stark und nicht botmäßig genug, andererseits soll Putin Russland für deutsche Investoren ordnen und entsprechend machtvoll durchgreifen. Für dieses Dilemma werden Umgangsformen ausgelotet: Deutschland weist als Nato-Mitglied die Vorbehalte und Einwände Russlands hinsichtlich der Nato-Osterweiterung und bezüglich des geplanten amerikanischen Raketenabwehrsystems zurück – russische „Spaltungsversuche“ sind zwecklos und kontraproduktiv. Auf dieser Grundlage kriegt der unsichere Kantonist Russland von der europäischen Vormacht Deutschland dann allerdings eine „strategische Partnerschaft“, die darauf abzielt, Russland für das imperialistische Konkurrenzprojekt Europa zu funktionalisieren, in Aussicht gestellt.

Aus der Zeitschrift
Gliederung

Putin in Berlin:
Deutschland und Russland teilen sich ihre „gemeinsamen Interessen“ mit

Der russische Präsident kommt auf Staatsbesuch nach Berlin, und die Damen und Herren von der Presse sorgen für die nötige politische Orientierung – per menschelndem Vergleich mit seinem Amtsvorgänger.

Von der „Saunadiplomatie“ zum „Pragmatismus“

Für sie steht das Treffen einerseits im Schatten der Männerfreundschaft zwischen Kohl und Jelzin (FAZ 17.6.). Ja, das waren noch Zeiten, als in Moskau unser Freund Boris regierte, der uns mit seiner geradezu bärenhaft tölpeligen Gemütlichkeit so sympathisch war. Aber war da nicht noch was? Haben dieselben Damen und Herren ihr Publikum nicht neulich davon unterrichtet, dass wir es im Kreml mit einer nicht ganz zurechnungsfähigen, korrupten Person zu tun haben, mit dem Patron eines mafiösen Clans, der unsere IWF-Gelder veruntreut und in sonstige kriminelle Machenschaften involviert ist? Natürlich war da was: Recht gemacht hat es ihnen Jelzin die letzten Jahre immer weniger und zuletzt überhaupt nicht mehr. Ziemlich vollständig schuldig geblieben ist er in ihren Augen alle positiven Leistungen, die aus der Sicht hiesiger Staats- und Wirtschaftsinteressen von einer russischen Obrigkeit zu beanspruchen sind. Aber das alles tritt für sie schlagartig in den Hintergrund, wenn sich ihnen auf der russischen Seite ein neuer Machthaber präsentiert, der die Restauration seiner Staatsmacht an die oberste Stelle seiner Prioritätenliste setzt. Dann kommt ihnen der gefügige Trottel von gestern nachträglich wieder richtig liebenswert vor – der gute alte Boris, dem wir seinen Wahlkampf finanziert haben, weil der das viel zu mächtige Russland im unverwüstlichen Vertrauen darauf, dass marktwirtschaftliche Reformen und gute Beziehungen zum Westen seinem Land eine große Zukunft bescheren werden, immer tiefer in ruinöse Abhängigkeiten vom Westen hineinregiert hat.

Andererseits halten schon auch die Vertreter der meinungsbildenden Zunft eine pragmatische Sicht der Dinge für angebracht, wenn der Bundeskanzler ihnen erklärt, dass die modern und der heutigen Situation angemessen ist. Dessen despektierliche Anspielung auf die Sauna-Freundschaft zwischen Kohl und Jelzin – Putin und ich waren nicht zusammen in der Sauna, wir haben aber eine herzliche Beziehung. (SZ 17.6.) – sowie seine bahnbrechend neue Erkenntnis, dass die Beziehungen der Länder zuerst auf gemeinsamen Interessen beruhen müssten, nicht aber auf dem persönlichen Verhältnis der politischen Führungsfiguren (FAZ 17.6.), haben sie jedenfalls bemerkenswert gut verstanden:

„Die deutsch-russischen Beziehungen stehen noch im Bann der goldenen Tage, als Deutschland aus Dankbarkeit für den russischen Beitrag zur Wiedervereinigung jederzeit ein offenes Ohr für die pekuniären Wünsche Russlands hatte und Bundeskanzler Kohl voller Verständnis für die Capricen Jelzins war.“ (NZZ 17./18.6.)

Ja, ja, goldene Zeiten waren das – für die Russen! Für Deutschland hingegen sind unter der Regentschaft Jelzins in Russland so wenig an ökonomisch ausnutzbaren und politisch brauchbaren Verhältnissen entstanden, dass man rückblickend auf deutscher Seite bei der Vergabe von Krediten an Moskau gar keine Interessenpolitik mehr am Werk zu sehen vermag – so, als sei es tatsächlich eine sentimentale Beziehung zweier alternder Herren gewesen, was ein Jahrzehnt lang die „Beziehung der Länder“ bestimmt hat. Wenigstens was die deutsche Seite betrifft, die andere soll ja jederzeit davon profitiert und die deutsche Gefühlsduselei ausgenutzt haben. Erkauft haben soll sich Deutschland unter Kohl die guten Beziehungen zu Russland, statt seinen Nutzen zur Bedingung guter Beziehungen zu machen: Der unverkrampfte Schröder-Pragmatismus, der aus diesem Befund spricht, ist es, aus dem heraus man sich auch von Seiten der hiesigen Öffentlichkeit einen substantiellen Neuanfang in den bilateralen Beziehungen wünscht.

Damit hat man die Vergleichsmaßstäbe beieinander, die man an den neuen Mann an der Spitze Russlands anlegt. Aus ein und demselben Grund: weil der sich entschlossen zeigt, dem Zerfall seiner Staatsmacht Einhalt zu gebieten, begegnet man ihm hierzulande einerseits mit der größten Skepsis, ob ausgerechnet der das geforderte Maß an Botmäßigkeit aufbringen wird, andererseits mit der hoffnungsvollen Erwartung, dass es unter so einem in Russland endlich zu den geordneten Verhältnissen kommt, die für deutsche Interessen nutzbar zu machen sind. Für einen deutschen Kommentator, dem es keinerlei Schwierigkeiten bereitet, den Staatsgast an diesen beiden, gleichzeitig gar nicht zu erfüllenden Anforderungen zu messen und das Ergebnis dann als die Auffassung russischer Politikwissenschaftler auszugeben, ergibt sich daher folgendes Bild:

„Putin ist ein Rätsel… Seit einem halben Jahr im Amt, ahnen selbst die Russen nicht, wer die ‚Sphinx im Kreml‘ ist… ‚Wie sollen wir den Präsidenten nennen‘, fragte ein russischer Politikwissenschaftler kürzlich. ‚Ist er ein Liberaler, Imperialist, Diktator oder Demokrat?‘ Der Westen weiß darauf auch keine Antwort.“ (Die Welt 16.6.)

Macht er es uns recht, wenn er seinen Staat auf Vordermann bringt, oder wird er uns dann zu eigenmächtig? Das ist das ganze ‚Rätsel‘, das dieser Mann den westlichen Betrachtern aufgibt. Unvoreingenommen betrachtet ist freilich überhaupt nicht rätselhaft, was Putin will. Schließlich lässt er da nichts im Unklaren.

Was Russland von Deutschland will

Putin nutzt seinen Aufenthalt in Deutschland, um dem Standpunkt Gehör zu verschaffen: Wer in Russland einen verlässlichen Partner haben will, hat ein anderes Maß an Respekt vor Russland und seinen Interessen aufzubringen als dies bislang der Fall ist.

Seine Klarstellung bezieht sich zu allererst auf die Respektlosigkeit, die man sich im Westen der strategischen Macht Russland gegenüber herausnimmt. Höflich, aber bestimmt weist er daher einen Reporter zurecht, der ihm die Besorgnis im Westen vorträgt, Russland würde sich wieder verstärkt den Status einer Großmacht anmaßen:

„Russland handelt nicht um den Status einer Weltmacht. Es ist eine.“ (Welt am Sonntag 11.6.)

Von den USA und deren Verbündeten verlangt der russische Präsident erst einmal in aller Grundsätzlichkeit, Russland als eine Macht anzuerkennen, mit der sie sich ins Benehmen zu setzen haben, wenn sie in den internationalen Gewalthaushalt eingreifen; wo und durch was auch immer. Und er erinnert sie daran, dass sein Land in seinen Atomwaffen über die militärischen Mittel verfügt, das auch verlangen zu können.

Im Westen hat man daher auch zur Kenntnis zu nehmen, dass Russland das von Amerika projektierte Raketenabwehrsystem nicht hinnehmen kann. Putin stellt klar: Einer Entwertung seines strategischen Potentials, auf dem es seinen Anspruch gründet, als Weltmacht ernstgenommen zu werden, werde Russland nicht tatenlos zusehen. Die Umsetzung dieses Projekts werde schwerwiegende Konsequenzen haben, in erster Linie für Europa, wenn man sich dort zum Helfershelfer Amerikas machen lässt:

„Es ist bekannt, dass Washington nicht in der Lage ist, seine Pläne allein, ohne die Hilfe der europäischen Verbündeten, in erster Linie Großbritanniens, Dänemarks und Norwegens, zu verwirklichen. Indem sie bei sich Elemente des Systems des NMD der USA unterbringen, gehen diese Staaten das Risiko ein, sich in einen Prozess hineinzubegeben, der zu einer nicht vorhersehbaren Zerstörung der strategischen Stabilität führt. Der Preis könnte sehr hoch sein – nach einer offiziellen amerikanischen Erklärung über den Ausstieg aus dem ABM-Vertrag wird Russland gezwungen sein, nach einer Variante zum Ausstieg aus den Verpflichtungen, nicht nur des START, sondern auch aus dem Abkommen über Mittel- und Kurzstreckenraketen zu suchen.“ (ebd.)

Die Europäer sollen sich also überlegen, ob es in ihrem wohlverstandenen Eigeninteresse ist, sich von den USA in einen Gegensatz zur Weltmacht Russland hineinziehen zu lassen, dem sie nicht gewachsen sind – für ein Projekt, das gar nicht ihrer Sicherheit dient; dann müsste Russland – ein freundlicher Wink mit dem Zaunpfahl – auch Europa wieder ganz anders ins Visier nehmen. Oder ob sie nicht besser fahren, wenn sie ihre Sicherheitsinteressen gemeinsam mit Russland regeln. Dann nämlich wäre dank der Fähigkeiten Russlands auf dem Feld der Raketentechnologie, die sie noch gar nicht besitzen, für sie eine Raketenabwehr drin, die anders als die amerikanische auch ihren Sicherheitsinteressen dient:

„Während meines Berlin-Besuchs möchte ich mit den deutschen Kollegen über unsere Initiative diskutieren, für Europa ein allgemeines System zur Raketenabwehr zu schaffen. Auf diesem Weg kann man unserer Ansicht nach, eine Zerstörung der Kräftebalance vermeiden und die Sicherheit aller europäischen Staaten gewährleisten.“ (ebd.)

Überhaupt ist für Russland unter den Bedingungen einer gleichberechtigten und konstruktiven Zusammenarbeit (ebd.), also auf der Grundlage der Anerkennung seiner strategischen Interessen alles mögliche denkbar, was eine Partnerschaft in Sicherheitsfragen betrifft. Aber nur auf dieser Grundlage. Und solange die nicht besteht, „wird Russland seine Sicherheit zu verteidigen wissen“. (ebd.) Dies zu bedenken, empfiehlt der russische Präsident den NATO-Staaten insbesondere auch im Hinblick auf die Erweiterung ihres Militärbündnisses nach Osten. Er läßt keinen Zweifel daran, daß sie da gerade im Begriff sind, einen Schritt zu machen, den Russland als feindlich, seiner Sicherheit entgegenstehend ansieht (ebd.), und fordert sie auf, Russland nicht in eine Lage zu bringen, in der ihm gar nichts anderes mehr übrig bleibt, als ihren Vorwärtsdrang als feindlichen Akt zu nehmen. Dass die NATO sich auf die russischen Grenzen zubewegt (Rede im Haus der deutschen Wirtschaft), ohne den Einwänden Russlands dagegen die mindeste Beachtung zu schenken, veranlasst ihn jedenfalls schon zu der Frage, wie wohl deren Mitglieder reagieren würden, wenn sich ihnen gegenüber eine fremde Macht in vergleichbarer Weise aufstellen würde.

Dass man Russland nicht dieselben elementaren Rechte konzediert, die man sich in vergleichbaren Fällen mit der größten Selbstverständlichkeit herausnimmt, stellt Putin auch dort fest, wo es um die inneren Angelegenheiten seines Landes geht. Was Tschetschenien betrifft, hätte er z.B. schon mal gerne gewusst, ob die Staaten, die Russland da mit den Menschenrechten kommen und nach einer politischen Lösung verlangen, im Falle eines Angriffs auf ihr Gewaltmonopol über ihr Territorium die Banditen an den Verhandlungstisch bitten. Oder ob nicht auch sie militanten Separatismus – siehe ETA etc. – als Terrorismus bekämpfen (ebd.). Also verbittet er es sich, dass man sein Land dafür auf die Anklagebank setzt, und fordert, dass man sich endlich auch in den westlichen Medien einer Berichterstattung befleißigt, welche die russischen Anstrengungen um die Wiederherstellung der staatlichen Ordnung in Rußland in angemessener Form würdigt.

Zumal man ja westlicherseits pausenlos über die fehlende Rechtssicherheit in Russland klagt, ohne die hiesige Unternehmer dort gar nicht anständig Geld verdienen können. Wenn man diesen Bedarf Russland gegenüber anmeldet, dann solle man gefälligst nicht gleich Zeter und Mordio schreien, wenn er sich für eine Diktatur des Rechts stark macht, sondern seine Bemühungen um die Durchsetzung dessen anerkennen, was in den westlichen Demokratien schon lange gilt; nämlich ein Zustand, in dem Gesetze nicht nur geschrieben und verkündet, sondern durchgeführt (ebd.) werden; und zwar nicht nach Gusto irgendwelcher Regionalfürsten, sondern nach dem Willen der Zentralgewalt. Eine solche klare Machtvertikale solle schätzen, wer in Russland Geschäfte machen will, denn an ihrem Funktionieren entscheidet sich auch für ausländische Investoren, ob sie einen Markt von 5 oder von 150 Millionen Menschen (ebd.) ausnutzen können.

Was im übrigen das Geschäft angeht, ist Putin der Auffassung, dass im beiderseitigen Interesse viel mehr gehen könnte, wenn man erstens vor allem in Deutschland – Russlands größtem Handelspartner, Gläubiger und Investor (ebd.) –, endlich einsehen würde, dass die in der Vergangenheit aufgelaufenen Schulden Moskaus ein Hindernis darstellen für die Bemühungen der russischen Regierung, ihr Land kapitalistisch zu entwickeln und damit auch zu einem für auswärtige Interessenten interessanten Partner zu machen. Und zweitens sollten diese Bemühungen endlich auch von Seiten der deutschen Wirtschaft als Chance begriffen werden:

„Derjenige, der Initiative zeigt und in die Zukunft blickt, festigt rechtzeitig seinen Platz auf unseren Märkten und kann dabei unzweifelhaften Erfolg verbuchen.“ (Welt am Sonntag)

Wenn man sich schon in Moskau die Klagen auswärtiger Unternehmerverbände selbstkritisch zu Herzen nimmt –

„Ich meine auch, dass Russland noch viel tun muss, um das Investitionsklima zu verbessern“ (ebd.) –,

dann wird man ihm vielleicht auch umgekehrt ein Wort der Kritik gestatten: Die ausländischen Investoren könnten würdigen, dass Russland ihnen nicht nur als Rohstoffland etwas zu bieten hat, sondern auch als High-Tech-Nation. Da seien die Möglichkeiten der Kooperation noch lange nicht ausgeschöpft. Es wird aber nichts getan. (Rede) Höflich, wie der Russe ist, hängt Putin noch einen weiteren dezenten Hinweis auf die russische Enttäuschung darüber an, dass das Projekt zum gemeinsamen Bau des Militärtransporters AN-70 kurz vor seinem Besuch von der deutschen Seite definitiv abgesagt worden ist. Dass dieses Joint Venture nun geplatzt ist, über das seit Jahren verhandelt wird und das geradezu als Inbegriff der guten neuen Beziehungen galt, nicht nur wegen der absehbaren blendenden Gewinne, sondern auch wegen seiner symbolträchtigen Seite – ehemalige Feinde kooperieren nun prächtig auf dem Gebiet der Rüstungsproduktion –, das, meint Putin, liege eindeutig nicht im deutschen Interesse. Er hat den Eindruck, dass sich Deutschland häufig nicht von seinem eigenen Interesse leiten lässt (ebd.), sondern sich den Forderungen seiner europäischen Partner unterwirft… Welches Interesse Deutschland mit seiner Entscheidung tatsächlich verfolgt, lässt der russische Präsident einmal beiseite; schließlich wirbt er nach wie vor für ein deutsches Interesse an den vielfältigen Möglichkeiten einer gewinnbringenden Zusammenarbeit auf diesem spannenden Sektor.

Das also will Russland.

Was Deutschland von Russland will,

ist bei weitem nicht so klar. Einfacher lässt sich jedenfalls beantworten, was von all dem, was Russland von Deutschland will, für Deutschland nicht in Frage kommt.

Das geht damit los, dass die deutsche Seite bei dem Staatsbesuch den Akzent auf Fragen der wirtschaftlichen Kooperation setzt – weg von der für Russland entscheidenden Grundsatzfrage, ob man mal ein akzeptables Verhältnis der gegenseitigen Anerkennung und des Respekts vor seinen vitalen Interessen haben kann:

„Das Treffen in Berlin war vor allem von der Wirtschaftspolitik beherrscht.“ (FAZ 17.6.)

Was die Wirtschaftspolitik anbelangt, wird der russische Antrag auf einen Schuldenerlass von Deutschland bereits im Vorfeld abgeschmettert – mit dem schönen Einfall, ausgerechnet bei dieser Materie tiefsten Respekt vor der Großmacht Russland zu heucheln, um der ihr ureigenes Interesse an einer ewig währenden Zinsknechtschaft vorzubuchstabieren:

„Es sei nicht im Interesse der Großmacht Russland, ‚sich auf das Schuldenniveau eines afrikanischen Entwicklungslandes reduzieren zu lassen‘, sagte Regierungssprecher Uwe-Karsten Heye.“ (Handelsblatt 16./17.6.)

Deutschland besteht gegenüber Russland uneingeschränkt auf seinen Gläubigerrechten; erstens, weil es keinen Grund sieht, warum es auf ihm zustehende Zahlungen verzichten sollte, und zweitens, weil es Russland nicht auch nur ansatzweise aus der Abhängigkeit entlassen will, in der es als Schuldner zu Deutschland steht. Wenn es im Hinblick auf die an Russland vergebenen Kredite Handlungsbedarf gibt, so ist es der, den Deutschland definiert.

Durchaus interessiert ist die deutschen Seite da an einer Wiederaufnahme der Hermes-Bürgschaften, die im Zuge der russischen Finanzkrise 1998 eingestellt worden waren, nachdem es zu Schadensfällen gekommen war. Die Wiederbelebung dieses für Exporteure wichtigen Garantie-Instruments – wo ihm an einer Kreditierung von Unternehmungen der deutschen Wirtschaft in Russland gelegen ist, tritt der deutsche Staat gegenüber seinen Banken als Bürge auf – wird allerdings davon abhängig gemacht, dass der russische Staat für die alten Fälle geradesteht. Schließlich ist es nicht Sinn und Zweck dieses Instruments, den Schuldnerstaat aus seiner Verpflichtung zu entlassen, den Schaden fehlgeschlagener deutscher Geschäfte mit russischen Partnern zu übernehmen. Nachdem Russland die Regelung der Altlasten zusagt, wird für künftige Hermes-Bürgschaften ein Rahmen von maximal einer Milliarde Mark vereinbart.

Die milliardenschweren Projekte, die ansonsten zum Abschluss kommen, sind Geschäfte auf dem Energiesektor – als gigantisches Reservoir von Energieträgern und anderen Rohstoffen im ausgreifenden Einzugsbereich des Euro-Imperialismus ist und bleibt Russland für Deutschland auf alle Fälle von hohem Interesse. Was hingegen das von Russland bekundete Interesse an einer Ausweitung der Wirtschaftsbeziehungen auf dem Feld der Hochtechnologie anbelangt, da hat Verteidigungsminister Scharping schon vor dem Staatsbesuch die Absage an das russische Interesse am Antonow-Projekt wie ein feines neues Angebot präsentiert:

„Verteidigungsminister Rudolf Scharping (SPD) hat sich dafür ausgesprochen, Russland und die Ukraine am Bau des europäischen Militärtransportflugzeugs vom Typ Airbus A 400 M teilhaben zu lassen. Deutschland und Frankreich hatten sich Ende letzter Woche auf die Anschaffung des Airbus verständigt und damit das Angebot der Osteuropäer, den Militärtransporter Antonow zu kaufen, abgelehnt.“ (Die Welt 15.6.)

Auch wenn hierzulande niemand bezweifelt, dass der russisch-ukrainische Großraumtransporter billiger zu haben und viel schneller verfügbar wäre als die europäische Eigenentwicklung: Hier kalkuliert Deutschland als Führungsmacht des aufstrebenden Euro-Imperialismus, der sich das militärische Know-how und die Mittel zur Produktion dieser Sorte von High-Tech verschaffen und autonom darüber verfügen können will. Und dieses Programm verträgt sich nun einmal nicht mit einer Rüstungskooperation mit Russland und der Ukraine; da würde man sich ja glatt abhängig machen von Staaten, die man als mehr oder minder problematische Objekte europäischer und transatlantischer Weltordnungsansprüche ansieht. Den russischen Antrag auf ein solches Gemeinschaftswerk muss man daher ablehnen. Was man sich aber auf deutscher Seite gut vorstellen kann, und das ist Scharpings Angebot, ist eine Einbeziehung von Russland und der Ukraine quasi als Subunternehmer ins europäische Rüstungsprogramm. Dass sich Europa in Rüstungsfragen unbedingt selbständig machen will, bedeutet ja nicht, dass man deshalb auf die Sorte von Zusammenarbeit verzichten muss, bei der man sich bisher schon erfolgreich den Zugang zum Rüstungs-Know-how verschafft hat, das die Weltmacht Russland immer noch zu bieten hat.

Was den weitergehenden Antrag der Russen angeht, gegen das amerikanische Raketenabwehrprojekt gemeinsam Front zu machen, stellen sich die Deutschen schon gleich taub:

„Berlin hatte versucht, das Thema nicht in den Vordergrund zu bringen. Doch angesichts von Putins Offensive konnte Schröder kaum anders reagieren, als zu sagen, man müsse über den russischen Vorschlag diskutieren, etwa im Nato-Rußland-Rat.“ (FAZ 17.6.)

Das gehört nicht hierher, lautet da die deutsche Antwort – sondern dorthin, wo der russische Vorschlag keine Chance hat, weil die Amerikaner mit am Tisch sitzen. Auch wenn die National Missile Defense, wie schon der Name sagt, ein amerikanisches und kein NATO-Projekt ist, weist Deutschland den russischen Vorstoß in seiner Eigenschaft als NATO-Land zurück, dem es seine Bündnistreue und seine Loyalität gegenüber der westlichen Führungsmacht verbieten, sich mit substantiellen strategischen Bedürfnissen Russlands zu befassen. Als europäische Führungsmacht mag es seine eigenen Bedenken gegen die NMD der Amerikaner haben, von Russland lässt es jedenfalls keinen Keil treiben zwischen sich und die USA.

Wie man es mit den russischen Einwänden gegen den Zugriff der NATO und der EU auf den von Russland reklamierten Einflussbereich hält, hat der deutsche Kanzler wenige Tage vor Putins Staatsbesuch eigens mit einer Reise ins Baltikum deutlich gemacht. Als politischer Vertreter deutscher Wirtschaftsinteressen bekundet er dort seine Zufriedenheit mit der Entwicklung der Geschäftsbeziehungen, die man in den letzten Jahren auf Kosten derer Russlands ausweiten konnte – die Krise in Russland hat da ihren positiven Beitrag zur Umleitung der Handelsströme geleistet. Als Repräsentant europäischer Ausdehnungsvorhaben demonstriert er die Zugehörigkeit der Baltenstaaten zum Einzugsbereich der EU. Und in seiner Eigenschaft als Führer einer maßgeblichen NATO-Macht verfügt er, dass zwar ein Beitritt der baltischen Staaten zum Bündnis zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht in Frage kommt, die NATO aber jedenfalls bei diesbezüglichen Entscheidungen auf russische Einwände keine Rücksicht zu nehmen gedenkt.

So erklärt Deutschland in den verschiedenen Rollen, aus denen seine Macht erwächst – als NATO-Mitglied, als EU-Vormacht und als weltwirtschaftsmächtige Nation, mit ihren eigenen politischen Berechnungen –, dass es ihm seine Interessen nicht gestatten, auf die von Putin angemeldeten, substantiellen russischen Interessen einzugehen und sie zu respektieren.

Auf dieser Grundlage kann Russland dann allerdings eine strategische Partnerschaft haben. Die stellt Kanzler Schröder seinem russischen Gast in Aussicht, weil er eingesehen haben will:

„Auf Dauer gibt es keine friedliche Entwicklung in Europa, wenn Russland nicht einbezogen wird.“ (Abschlusspressekonferenz)

Entscheidend ist bei so einer Partnerschaft offensichtlich, wer die wem anbietet. Sich auf das von Putin vorgeschlagene Raketenabwehrprojekt einzulassen, kommt für Deutschland nicht in Frage. Das hieße ja, dass es seine Sicherheitsinteressen von strategischen Kalkulationen Russlands abhängig macht. Umgekehrt aber, wenn es selbst die Definitionshoheit besitzt über den Rahmen, in dem man kooperiert und Russland seinen Platz zuweisen kann, kann es sich manches vorstellen. Was genau, das wird sich dann schon zeigen, wenn die russische Seite Deutschland erst einmal als Subjekt der Kooperation anerkannt und sich in die Rolle desjenigen gefügt hat, der einbezogen wird. Auf alle Fälle ist dann für Russland so etwas drin wie eine therapeutische Betreuung. Schließlich weiß man auf der deutschen Seite darum, wie sehr man mit den imperialistischen Anstrengungen, die man im Rahmen der NATO und der EU unternimmt, Russlands Geduld auf die Probe stellt – und erklärt deswegen Russland zu dem Unsicherheitsfaktor, durch den die friedliche Entwicklung in Europa gefährdet werden könnte. Da kann es nur hilfreich sein, diesem unsicheren Kantonisten einen partnerschaftlichen Verkehr angedeihen zu lassen, damit der die gravierenden Verletzungen seiner Interessen nicht als Angriff auf sich missversteht. Darüber hinaus ist noch gar nicht absehbar, ob Europa im Zuge der Fortschritte, die es politisch und militärisch im Konkurrenzverhältnis zur amerikanischen Weltordnungsmacht macht, mittel- oder langfristig nicht doch noch das Bedürfnis entwickelt, Russland eine andere Rolle als die einer problematischen Macht zuzuweisen. So weit, dass für jede etwaige Funktionalisierung Russlands für das imperialistische Konkurrenzprojekt Europa rechtzeitig die Grundlagen gelegt werden müssen, denkt die europäische Vormacht Deutschland allemal, wenn sie sich zum Vorreiter einer Anbindung Russlands an Europa macht.

*

Das also ist er, der „substantielle Neuanfang in den deutsch-russischen Beziehungen“. Beide Seiten haben ausgelotet, was an nützlichen Beziehungen auf welcher Grundlage von ihnen jeweils zu haben bzw. erwünscht ist. Und als wäre man sich auf deutscher Seite bei dem Stichwort ‚Neuanfang‘ noch etwas schuldig geblieben, versäumt es die geballte 4. Gewalt in ihrer der Politik vorauseilenden moralischen Verantwortungshaltung nicht, die Initiative zu ergreifen und einen Vorbehalt anzumelden. Bei seinem Staatsbesuch

„musste sich Putin ständig für die Verhaftung des Medienmagnaten Wladimir Gussinskij rechtfertigen.“ (Die Welt 17.6.)

Natürlich wissen die Vertreter der Presse auch, dass der Verhaftete in Russland ein bisschen mehr unternimmt, als seine Meinungsfreiheit wahrzunehmen; nämlich sich im innerrussischen Machtkampf mit seinem Medienkonzern als Sprachrohr des Widerstands gegen das Putin-Programms zur Restauration des russischen Gewaltmonopols betätigt; also zu den mit Machtmitteln ausgestatteten Figuren gehört, deren Unterordnung Putin hinkriegen muss, will er in Russland den Rechtsstaat durchsetzen. Neulich haben die unabhängigen Medien hierzulande ja selbst noch davon berichtet, dass es sich bei Gussinskij um einen jener macht- und geldgierigen Oligarchen handelt, die in Russland ihr Unwesen treiben. Das hindert sie jedoch nicht, ihn anlässlich von Putins Staatsbesuch zum Begründer einer unabhängigen Presse in Russland hochzustilisieren, um im Namen der Pressefreiheit Einspruch erheben zu können gegen den Gebrauch, den der neue russische Präsident in seinem Land von seiner Macht macht. Diese Maßregelung seines Staatsgastes greift der deutsche Kanzler gerne diplomatisch auf. Auf der gemeinsamen Pressekonferenz lässt er durchblicken, dass die Freilassung Gussinskijs auf sein Betreiben hin zustande gekommen ist, und stellt in dieser Form klar, dass man dem russischen Machtaufbruch, für den Putin steht, – bei allen nützlichen Seiten, die man ihm abgewinnen mag – nach wie vor grundsätzlich reserviert bis ablehnend gegenübersteht. Gerade weil bei diesem „Gipfel des Kennenlernens“ so viel von „Interessenpolitik“ und nützlichen Beziehungen die Rede war, ist sich die deutsche Seite diese Klarstellung schuldig.