Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Ein zeitgemäßes Angebot der Gewerkschaft:
Freie Arbeitszeiten für die Zukunftsbranche!
Überstunden und Urlaubsstreichung im IT-Bereich: ein Fall für gewerkschaftlichen Kampf? Im Gegenteil: Sie plädiert für mehr Flexibilität, um ihren Verein dort, wo man von dem alten Hut Gewerkschaft nichts mehr wissen will, attraktiv zu machen.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Ein zeitgemäßes Angebot der
Gewerkschaft:
Freie Arbeitszeiten für die
Zukunftsbranche!
1.
Während die Gewerkschaft zum Auftakt des Monats Mai damit
für sich wirbt, dass kürzere Arbeitszeiten, mehr
Teilzeitarbeit, weniger Überstunden Arbeitsplätze sichern
und schaffen
(DGB-Maiaufruf
2000), wird ihr Vorsitzender Dieter Schulte beim
selben Thema gegen Ende des Monats
gewerkschafts-selbstkritisch. Mit Blick auf die
aufstrebenden Firmen der sogenannten „New Economy“, die
IT-Betriebe, bezichtigt er seinen Verein, viel zu sehr
auf unpassende Arbeitszeitregelungen zu insistieren. Die
ließen nämlich mehr Überstunden einfach nicht zu, was der
Boss der Gewerkschaft für sehr bedenklich hält. Man müsse
doch Rücksicht darauf nehmen, dass in solchen Betrieben
auch mal ordentlich hingelangt werden müsse, ohne gleich
auf die Uhr, den Feierabend oder das Wochenende zu
schielen, und in diesem Sinne nimmt er sich und seinen
Laden in die Pflicht: Die Gewerkschaften müssten viel
mehr Individualität und Flexibilität akzeptieren, sagte
er, und vielleicht sogar einmal die 50-Stunden-Woche
zulassen.
(SZ, 23.5.)
Ein bemerkenswerter Akt selbständiger
Gewerkschaftspolitik. Kein Unternehmen aus dieser
Zukunftsbranche hat sich unzufrieden mit den bestehenden
Arbeitszeitregelungen gezeigt – wie auch, existieren die
dort doch kaum noch; in manchen Firmen gibt es
überhaupt keine Arbeitszeiterfassung mehr.
(FR, 26.5) Auch
staatlicherseits ist kein Plan unterwegs, etwas am
Arbeitszeitgesetz mit seinem Höchstrahmen von 48 Stunden,
an das sich die Branche ohnehin nicht hält, zu ändern.
Ganz aus freien Stücken erklärt sich Schulte bereit, den
IT-Betrieben freie Hand bei der Durchsetzung ihrer
wechselnden Ansprüche an die Nutzung der Arbeitskraft zu
geben. Mit seinem und seiner Gewerkschaft Segen sollen
die „werten Mitarbeiter“ genau so lang und genau in dem
Umfang zur Verfügung stehen, wie die Geschäftskalkulation
ihre Dienste für erforderlich hält.
2.
Der Fortschritt in dieser fortschrittlichen Branche hat
es dem DGB-Vorsitzenden sehr angetan. Er kritisiert
seinen Verein dafür, sich an die herrschenden
Ausbeutungbedingungen in der New Economy nicht genügend
angepasst zu haben. Zustände, die der Gewerkschaft bis
gestern als ungebremster Manchesterkapitalismus
mit Steinzeitmethoden
verurteilenswert erschienen,
will er ab heute anders begreifen. Da kennt die
IT-Branche keinen Feierabend
, und die Arbeitszeit ist
nach oben hin offen – Vertreter von IT- und
Multimediaunternehmen haben die These gestützt, zumindest
was den hohen Arbeitseinsatz der Mitarbeiter betrifft:
Arbeitszeiten von 50 und mehr Wochenstunden seien in
ihrem Unternehmen die Regel
(HB,
23.5.) –, und ab sofort ist die ruinöse Mehrarbeit
kein Auswuchs unternehmerischer Willkür
mehr, den
man eingrenzen muss, sondern etwas, das die Gewerkschaft
als auch sie bindenden Regelfall anzuerkennen hat. Und
wenn der Urlaub in dieser Branche nur auf dem Papier
existiert – obwohl etwa Intershop Communication das
Urlaubsbudget auf 28 Tage heraufgesetzt habe, schöpfe das
kaum einer aus
(FR,
26.5.) –, dann ist für eine fortschrittliche
Gewerkschaft auch diese Form einer zusätzlich
verlängerten Arbeitszeit nicht mehr ein typischer Fall
verweigerter Arbeitnehmerrechte, für die man sich gegen
das Unternehmen stark macht: Ein moderner DGB „goes
Internet“ und nimmt sich vor, auch das künftig mit
Respekt vor den Usancen der Branche zu behandeln. Und
wenn schließlich über die Beschäftigten in diesen
modernen Firmen bekanntgegeben wird, dass sie ziemlich
schnell verschlissen werden und das hohe Arbeitspensum
nur einige Jahre durchzuhalten ist
(HB, 23.5.), dann sind nicht inhumane
Arbeitsplätze
der Skandal, den die Gewerkschaft
anprangert. Das Skandalöse ist vielmehr, dass die
Gewerkschaft über solche Arbeitsplätze nicht mitbestimmen
darf, und dazu bringt ihr Chef sie mit seinem Spruch von
der 50-Stunden-Woche ins Gespräch.
3.
Schultes Problem sind nämlich weder die Arbeitszeiten
noch die sonstigen Bedingungen, unter denen in dieser
modernen Branche Arbeitskräfte rentabel vernutzt werden.
Der Vorsitzende des DGB macht sich vielmehr ein Problem
daraus, dass sein Verein für die dort
Beschäftigten so furchtbar unattraktiv ist:
Der DGB-Chef hatte die Gewerkschaften zu mehr
Flexibilität ermahnt, um auch für neue Mitglieder aus der
Internet- und Medienbranche attraktiv zu werden
(SZ, 23.5.). Und wie wird man
für eine Branche attraktiv
, die von sich den
Nimbus kultiviert, dass es in ihr einfach nur
modern
zugeht, ganz neue Jobs mit ganz neuen
Anforderungen nur auf die maßgeschneiderten ‚Workaholics‘
warten, die sie dann verrichten dürfen und dabei auch
noch pausenlos gut drauf sind? Wie macht man sich als
Gewerkschaft für Leute attraktiv
, die womöglich
tatsächlich mit dem entsprechenden Selbstbewusstsein
unterwegs sind, ihren 15-Stunden-Tag für die Firma oder
irgendein famoses Projekt
allen Ernstes als
Selbstverwirklichung begreifen und feste Regelungen, noch
dazu gewerkschaftliche, in Bezug auf ihr
Arbeitsverhältnis für einen absurden, weil in jeder
Hinsicht überlebten Eingriff in ihr Recht auf Freiheit
halten? Man wanzt sich an ihren gewerkschaftsfeindlichen
Standpunkt einfach an: Die Menschen in den neuen
Branchen fühlten sich in ihrer Freiheit eingeschränkt,
wenn wir ihnen einen zu festen Arbeitsrahmen geben, sagte
Schulte.
(FAZ, 23.5.) Man
präsentiert sich einer Klientel, die von dem alten Hut
Gewerkschaft nichts mehr wissen will, indem man ihrem
anti-gewerkschaftlichen Ressentiment grundsätzlich Recht
gibt, um es dann seiner Gegenstandslosigkeit zu
überführen: Angesichts der dort verbreiteten
Identifikation mit dem Job und der Beteiligung am
Unternehmen
(HB, 23.5.),
macht man sich mit dem Versprechen beliebt, wirklich
alles aus dem Programm zu streichen, womit ein
Verein für die Vertretung von Arbeitnehmerinteressen
überhaupt landen könnte. Wenn in dieser Branche
Flexibilität und sonst nichts nicht nur das
Markenzeichen dieser modernen Arbeitsplätze ist, sondern
auch noch diejenigen, die an ihnen tätig sind, jeden auch
nur irgendwie festen Arbeitsrahmen
als
gewerkschaftlich verordnetes Zwangskorsett empfinden,
dann schmeißt eine Gewerkschaft, die sich alles, bloß
nicht Unmodernität nachsagen lassen will, eben einfach
weg, was ihr diesen Vorwurf einbringen könnte. Dann
schließt sie sich dem Interesse ihrer lohnabhängigen
Klientel, vom eigenen Arbeitsplatz genau das zu wollen,
was die betriebliche Kalkulation gebietet, einfach an und
definiert es sich als etwas zurecht, dem nur noch eines
fehlt: Dass sie, die moderne und zukunftsorientierte
Gewerkschaft, dieses Interesse vertritt.
4.
Unwidersprochen ist Schultes „auch-mal-50-Stunden“-Idee
nicht geblieben. Dem Vernehmen nach ist der DGB-Chef mit
ihr bei den Einzelgewerkschaften auf strikte
Ablehnung
gestoßen, ja, er soll sich mit seinem
Vorstoß ins Abseits
gestellt und die
Gewerkschaften sogar entzweit
haben.
Was die IG Metall betrifft, so missversteht sie den
Vorsitzenden des Dachverbands einerseits absichtlich. Als
habe der für eine neue Regelarbeitszeit plädiert, gibt
sie sich wahnsinnig kämpferisch und kontert mit einem
entschiedenen ‚Mit uns nicht!‘ – ein Zurück zur
50-Stunden-Woche wird es mit uns nicht geben
.
Andererseits versteht sie ihn sehr gut, wenn sie
fortfährt, dass seine 50-Stunden-Woche auf tariflicher
Grundlage bei ihr selbstredend drin ist: Eine längere
Wochenarbeitszeit könne nur mit einem Freizeitausgleich
innerhalb einer festgelegten Frist geregelt werden.
Grundlage bleibt der Tarifvertrag zur
35-Stunden-Woche.
(Peters, FAZ,
23.5.) Auch die DAG gibt sich nicht erfreut von
Schultes Vorschlag. Sie will nämlich eine Tendenz zu
mehr Flexibilität in der Tarifpolitik
, die sie damit
erst schafft, bei den IT-Betrieben gern selbst
durchsetzen und den Rahmen, in dem sich die
Flexibilisierung vollziehen kann, schon regeln, damit
kein Wildwuchs entstehen kann.
(Issen, SZ, 23.5.) Aus Wildwuchs
wird nämlich nur durch einen gewerkschaftlich betreuten
Rahmen
eine geordnete Flexibilität, und im selben
Sinn kann auch die IG BCE mit maßgeschneiderten
Projektarbeitszeiten
aufwarten, die alle Freiheiten
in Sachen Arbeitszeit beinhalten. Auf einer
entscheidenden Einschränkung aber besteht diese
Gewerkschaft unbedingt:
„Entscheidend dabei ist, dass in drei Jahren die wöchentliche Normalarbeitszeit erreicht wird.“ (Schmoldt, HB, 23.5.)
Um Schultes Vorschlag als überflüssig
zu
entwerten, protzen die Spitzen der deutschen
Gewerkschaften damit, was mit ihnen schon jetzt alles
möglich und machbar ist und auch schon praktiziert wird.
Ganz ungeniert plaudern sie aus, wie all ihre im
Interesse der Beschäftigung
mühsam erkämpften
Arbeitszeitverkürzungen auf 37,5 oder 35 Wochenstunden
keinen Menschen haben eine Stunde weniger arbeiten
lassen, sondern einen Arbeitszeitmix erlaubt haben, bei
dem sich Mehrarbeit, Zwangspausen und Unterbeschäftigung
so harmonisch aneinanderreihen, dass sie sich irgendwann
nach ein paar Jahren rechnerisch glatt noch zu einer
festen Stundenzahl ausgleichen. Und genau damit, wie
überaus großzügig sie alle Bestimmungen ihrer diversen
Arbeitszeitregelungen auszuschöpfen bereit sind, wenn man
sie nur machen ließe, bieten sie sich und ihre Dienste
dann auch der IT-Branche an.
Mit seinem Vorwurf an die Adresse der Gewerkschaften, ihre Tarifpolitik sei überholt und ihr Erscheinungsbild in der Öffentlichkeit von Schematismus und mangelnder Flexibilität geprägt, zettelt Schulte so eine gewerkschaftsinterne Kontroverse an, die zeigt, wie modern dieser Verein schon längst ist: Während er die Tarifverträge an die Arbeitszeitbedürfnisse der New Economy anpassen will und seinen Gewerkschaften vorhält, mit ihren Arbeitszeitregelungen noch viel zu sehr die Tradition einer Schutzorganisation von Lohnabhängigen mitzuschleppen, winken die einfach ab – weil sie selbst die Arbeitszeitbedürfnisse der New Economy in ihren Tarifverträgen längst verwirklicht sehen!