Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
„Antisemitismus“ aus Gollwitz
Brandenburg – Deutschlands „brauner Sumpf“?
Ein ausländerfeindlicher Gemeinderatsbeschluss in Brandenburg wird zum Material für den Verdacht, dass die neuen Bundesländer politisch immer noch nicht zuverlässig sind.
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„Antisemitismus“ aus
Gollwitz
Brandenburg – Deutschlands „brauner
Sumpf“?
Bisher wußten wir schon, daß Manfred Stolpe,
Ministerpräsident von Brandenburg, ein Helfershelfer der
DDR-Staatssicherheit war. Jetzt wissen wir außerdem, daß
er ein Sympathisant des Antisemitismus und Schirmherr
einer typisch ostdeutschen Fremdenfeindlichkeit ist. Denn
er nimmt, ganz Landesvater, gegen eben diesen Vorwurf des
Fremden- und Judenhasses die Bewohner des Dorfes Gollwitz
in Schutz, die per Gemeinderatsbeschluß die Unterbringung
von 60 russischen Juden im schloßartigen „Herrenhaus“
ihres Kaffs abgelehnt und sich reichlich ekelhaft über
den in Aussicht gestellten Zuzug aus dem Osten geäußert
haben. Die besorgte Öffentlichkeit der Nation klagt an,
erkennt auf braunen Sumpf in Deutschlands Osten
–
so nicht nur die Süddeutsche Zeitung – und beweist damit
eine bemerkenswerte Verlogenheit. Wo wäre denn wohl in
Westdeutschland zwischen Lübeck, Solingen und Passau eine
Gemeinde zu finden, die einen solchen Schwung „Fremde“
mit offenen Armen empfangen hätte? Und wo regiert denn in
der alten Bundesrepublik ein „Landesvater“, dem es nicht
völlig geläufig und selbstverständlich wäre, die
Fremdenfeindlichkeit seiner Landeskinder, bevor und
nachdem sie sich brandstiftend betätigt, als nur allzu
verständliche Reaktion einer überforderten Urbevölkerung
auf die „Flut“ der in unser längst überfülltes „Boot“
hineindrängenden „Ausländer“ zu entschuldigen?
Tatsächlich reagiert die Gemeinde Gollwitz überhaupt nicht anders auf den bevorstehenden ausländischen Bevölkerungszuwachs, als die Nation – die nun in Gestalt ihrer liberalen Wortführer so entsetzt auf ihre „braunen Flecken“ im Osten glotzt – in der „Ausländerfrage“ agiert. Immerhin haben die politischen Repräsentanten dieser Nation mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossen, die Staatsgrenzen gegen Zuwanderer aus Gegenden, deren Bewohner allen Grund zum Abhauen haben, strikt abzudichten und sogar den Ausnahmetatbestand der ein Asylrecht begründenden unberechtigten Verfolgung gesetzlich so auszugestalten, daß so gut wie niemand mehr die Chance bekommt, sich darauf überhaupt zu berufen, geschweige denn als solcher Ausnahmefall anerkannt zu werden. Und nicht nur das: „Armutsflüchtlinge“, die trotzdem irgendwie den Grenzübertritt schaffen, werden grundsätzlich sofort wieder rausgeworfen. Fallen sie unter irgendeine Regel, die ihnen bestenfalls eine „Duldung“ ihres Aufenthalts bis zur eigentlich fälligen Ausreise gewährt, werden sie nach einem offiziellen Beschluß, den nicht der Gemeinderat von Gollwitz erfunden oder zu verantworten hat, sondern beispielsweise die christlich-sozialdemokratische Regierung in der Hauptstadt der über jeden Verdacht erhabenen Nation, ausdrücklich und absichtlich schlecht behandelt – um den „Anreiz“, sich aus irgendeiner Hunger- und Bürgerkriegsgegend nach Deutschland abzusetzen, zu kompensieren. Schon die Unterbringung solcher Leute spiegelt die politische Absicht wider: In aller Form sind sie als lästige Last definiert, die die Nation nur widerwillig auf sich nimmt und nur, um sie baldmöglichst wieder loszuwerden. Wie sollten da die Gollwitzer im besonderen und die Brandenburger im allgemeinen, gerade erst mit viel nationalem Aufwand und Pathos vom antinationalen Verbrechen des „proletarischen Internationalismus“ befreit und in eine Heimat eingegliedert, die dermaßen viel Wert legt auf die strenge Ausgrenzung unerwünschter Ausländer, daß deren bloße Anwesenheit bereits ihr erstes Vergehen gegen deutsche Gesetze ist – wie sollten ausgerechnet diese frischgebackenen, national lernbegierigen Bundesbürger darauf verfallen, „Fremden“ gegenüber entgegenkommender zu sein als die Staatsmacht, die ihnen ihr unverfälschtes Deutschtum „zurückgegeben“ hat und an unberechtigten Zuwanderern ein Exempel nach dem andern statuiert, wieviel das wert ist?!
Jetzt sind die guten Leutchen aus Gollwitz auf einmal damit konfrontiert, daß ihre Obrigkeit auch schon mal eine Ausnahme von der penibel eingehaltenen Regel macht. Und zwar bei etlichen russischen Juden – aus Gründen, in die der demokratische Untertan nicht einmal eingeweiht wird, weil sie ihn gar nichts angehen; sie liegen nämlich erstens in der Vergangenheit, in der Deutschland gegenüber der Sowjetunion nicht nur auf der Herausgabe sibirischer Deutschlinge, sondern auch von Juden bestanden hat, um das „Völkergefängnis“ bloßzustellen. Zweitens teilt die Bundesregierung in der Sache durchaus die Auffassung der Gollwitzer und hat mit der russischen Regierung darüber verhandelt, ob man dort nicht die Ausreise drosseln könnte. Freilich hat sie das nicht an die große Glocke gehängt, weil es dem offiziellen deutschen Philosemitismus nicht gut anstehen würde, die Einwanderungsfreiheit für russische Juden offiziell zurückzunehmen. Schließlich besitzt dieser Handelsartikel für eine aufstrebende europäische Großmacht einen gewissen Wert auf dem weiten Feld der diplomatischen Winkelzüge irgendwo zwischen dem Ausbau deutsch-russischer Sonderbeziehungen, der Pflege des deutsch-israelischen Sonderverhältnisses, dem Reiz einer fast einzigartigen Vermittlungsmacht im politischen „Niemandsland“ zwischen zerfallenden GUS-Staaten und dem ausdehnungswilligen vorderasiatischen Judenstaat… Das aber, wie gesagt, geht niemanden etwas an. Mitgeteilt wird gerade mal der moralische Schein, unter dem das Außenministerium seinen Beitrag zur Umsiedlung russischer Juden abwickelt. Und der wird selber gleich gründlich zurechtgerückt: Wie sollen die Gollwitzer denn den beschwichtigenden Bescheid verstehen, in ihrem „Herrenhaus“ würden keineswegs irgendwelche unzivilisierten Ostjuden, sondern „Akademiker“ untergebracht? Etwa als Ankündigung eines deutsch-jüdisch-russischen Volkshochschulexperiments, das ein wenig Abwechslung in die Langeweile ihrer landesdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit bringt? Klargestellt wird damit doch nur, daß die deutsche Obrigkeit sich mitten in ihrer „humanitären Aktion“ bei dem Aussiedlerkontingent eine Sortierung vorbehält – was tut der Gollwitzer Gemeinderat anderes, wenn er seinerseits bei dem ihm zugemuteten „Akt der Menschlichkeit“ ein paar eigene diskriminierende Vorbehalte geltend macht? Und praktisch fangen Deutschlands Behörden mit dem so menschlich und großzügig akzeptierten Akademiker-Kontingent doch gar nichts anderes an, als es in einem toten Winkel der Republik abzustellen – was heißt das denn anderes, als daß aus national-hoheitlicher Perspektive erstens auch diese 60 Kontingent-Juden kein Zuwachs an akademischer Bildung, sondern nichts als eine irgendwo abzustellende Last sind und zweitens der Osten Brandenburgs zu nichts anderem taugt als zum Abstellplatz für nutzlose, aber aus höheren Gründen daseinsberechtigte Ausländer? Und worin weichen die Gollwitzer Bürger von dieser nationalen Linie ab, wenn sie sich gegen die „Belastung“ ihrer elenden Dorfidylle sträuben?!
Allenfalls das Eine haben sie verpaßt: den vorschriftsmäßigen Umgang des demokratisch entnazifizierten Deutschland mit seiner Judenfrage. Zur antipatriotischen Einsicht in die Verwerflichkeit völkischer Ab- und Ausgrenzungen hat diese Nation sich nämlich auch angesichts ihres beinahe gelungenen Völkermords an Europas Juden nicht durchgerungen; stattdessen bekennt sie sich unter umgekehrtem Vorzeichen zur volkstümlichen Besonderheit der Juden in aller Welt. Sie fordert das Volks-Vorurteil, das „den Juden“ als besonderen Menschenschlag kennt, und fordert es zugleich zur Heuchelei heraus, indem sie für diesen singulären Ausnahmefall Hochachtung verlangt und dem völkischen Abgrenzungswahn ein schlechtes Gewissen bezüglich gewisser früherer Übertreibungen „im deutschen Namen“ verordnet. An dieser „political correctness“ haben Gemeinderat und Einwohner von Gollwitz es fehlen lassen. Aber nicht einmal das unterscheidet sie vom westdeutschen Volkston – und schon gar nicht von der Durchschnittsgesinnung in altgedienten bundesrepublikanischen Gemeinden: Auch wo die Formen beachtet werden, nimmt die vaterländische Moral „den Juden“ die „deutsche Schuld“ übel, die sie eingestandenermaßen repräsentieren. Diese Moral hat man sich offenbar auch in Brandenburg zu eigen gemacht – nachdem die in der DDR gültig gewesene Verordnung, auch bei der Würdigung der „Opfer des Faschismus“ von rein völkischen Unterscheidungen zu abstrahieren, als eine Art zweiter, ideeller Völkermord an den Juden „entlarvt“ und in tiefsten moralischen Mißkredit gebracht worden ist.
Warum dann also das Getöse über Gollwitz, Brandenburg, den „braunen Sumpf im Osten“? Warum grämt sich der Vorsitzende des Zentralrats der deutschen Juden, Bubis, über eine unpassende Landesväterlichkeit des Landesvaters Stolpe, der sich damit doch überhaupt nicht z.B. von seinem bayrischen Kollegen, einem bekennenden Gegner einer „durchmischten und durchraßten Gesellschaft“, unterscheidet? Warum wird den brandenburgischen Dörflern so speziell übelgenommen, was doch jeder als gesamtnationalen Stammtisch-Standpunkt kennt und zitieren kann? Daß „Perspektivlosigkeit“ unter bundesdeutschen Eingeborenen unweigerlich zu „Anfälligkeit für rechtsradikale Parolen“ führt und ein hoher Ausländeranteil zu Ausländerfeindlichkeit, „versteht“ man durchaus auch im Fall Brandenburg – daß dieser absurde Zusammenhang nur über ganz viel staatsbürgerliches Anrechts-Bewußtsein zustandekommt, begreift eine von eben diesem Bewußtsein selber beseelte Öffentlichkeit am Fall Gollwitz ohnehin genausowenig wie sonst –; warum folgt daraus nicht das sonst übliche Verständnis mit seinem zielsicheren Schluß auf die Notwendigkeit, der „Toleranz“ des Volkes „Belastungen“ zu ersparen? Warum stattdessen der Ruf nach einer Korrektur des Gemeinderatsbeschlusses, nach eindeutiger Zurechtweisung des ganzen Dorfes und nach öffentlicher Entschuldigung des demokratischen Landesherrn? Daß Deutschlands Meinungsbildner sich ausgerechnet aus Anlaß der Gollwitzer Affäre auf einmal zur Absage an die Ausgrenzungspolitik der Nation, von der gesamtdeutschen Regierung bis hinunter zum letzten Gemeinderat, oder zur Kritik des dazugehörigen volkstümlichen Ausländer- und Judenhasses entschlossen hätten, wird wohl niemand behaupten und erst recht nicht entdecken können!
Ein sachdienlicher Hinweis dürfte in dem national meinungsbildenden Interesse liegen, im ostdeutschen Anschlußgebiet und insbesondere im Land Brandenburg mit seinem bereits in der DDR prominent und wichtig gewesenen regierenden Spitzenmann eine ganz besondere, flächendeckende rechtsradikale Szene vorzufinden und so zu tun, als läge ausgerechnet darin ein wesentlicher Unterschied zwischen dem „wilden Osten“ und dem urdemokratischen Hauptteil der Nation. Dem Brandenburger „Sumpf“, der ganz bestimmt nicht „brauner“ ist als der in Rheinland-Pfalz, wird eine andere politische Bedeutung zugeschrieben. Die tonangebende bundesdeutsche Öffentlichkeit nimmt ihn als Indiz, nämlich für eine noch fortdauernde politische Unzuverlässigkeit der ganzen Gegend: für die noch immer nicht vollendete Gleichschaltung der Ex-DDR auf die altgewohnten bundesdeutschen Polit-Sitten. Diesen Verdacht ausgerechnet durch die rechte Gesinnung bei ostdeutschen Neu-Bürgern bewiesen zu sehen, ist zwar ein Treppenwitz: Nichts anderes als der Anschluß an den Westen zum „wiedervereinigten“ Deutschland mitsamt der rückblickenden und vorwärtswirkenden Verteufelung aller antifaschistischen Traditionen des DDR-Sozialismus, nichts anderes als die gesamtdeutsche Zumutung, im Namen der neuen Staatsbürgerschaft alle Widrigkeiten des neuen kapitalistischen Lebenskampfes freudig als „Befreiung“ von den sozialistischen Spaltern des Vaterlands zu begrüßen, und nichts als die fatale Beflissenheit der ostdeutschen Eingeborenen, die realsozialistischen Sprach- und Denkregelungen schleunigst gegen eine unverfälschte gesamtdeutsche Gesinnung einzutauschen, hat dem Rechtsradikalismus samt patriotischem Ausländerhaß „drüben“ auf die Sprünge geholfen. Aber selbst das: daß der sturznormale BRD-Nationalismus samt „Auswüchsen“ dort noch so neu ist, steht in der gebildeten Mehrheitsmeinung der Nation dafür, daß „das Alte“ noch fortwirkt. Und gemeint ist damit ohnehin nichts anderes, als daß der östliche Landesteil irgendwie noch immer nicht voll im Griff des gewohnten und bewährten bundesdeutschen Parteienproporzes ist. Schon gar nicht, wenn der Ministerpräsident zwar ein SPDler, aber doch ein Mann mit DDR-Vergangenheit ist; mit einer zwar regimekritischen, letztlich aber doch BRD-fremden Lebensgeschichte.
Für die gesamtdeutsche Mehrheitsmeinung ist die ostdeutsche Volksszene – apropos ‚Ausländerfeindlichkeit‘! – bis auf weiteres noch so etwas wie ein Stück verdächtiges Ausland im eigenen Land. Das ist das Pech der Brandenburger Beutedeutschen, die bis hinauf zu ihrem Landesvater doch gar nichts weiter wollen als anerkannte Deutsche sein.