Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Pfingsttreffen der Vertriebenen 1998:
Versöhnung auf gut deutsch
„Anachronistisch“ ist es nicht, wenn auf den Pfingstreffen der Vertriebenenverbände mit bayerischen C-Politikern immer noch, und verstärkt markige revanchistische Sprüche geklopft werden. Dass Tschechien und Polen ein deutsches Minderheitenproblem haben, dass dieses Problem erzgerechte Eigentumsübertragungsansprüche beinhaltet, dass darüber die deutsche Staatsgewalt mitzuentscheiden hat, und dass die Europapolitik dafür erpresserische Handhaben bietet – das ist auch von den Kritikern dieser Treffen völlig zweifelsfrei anerkannt. Gerade wegen dem unmissverständlichen regierungsoffiziellen Willen zur Durchsetzung dieser Ansprüche gegenüber diesen östlichen Euro-Anschlusskandidaten besteht man hierzulande darauf, etwas mehr Rücksicht auf „Empfindlichkeiten“ in Prag und anderswo zu nehmen.
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Pfingsttreffen der Vertriebenen 1998:
Versöhnung auf gut deutsch
Es ist wieder soweit – man kennt das seit Jahrzehnten: Zu Pfingsten treffen sich, vorzugsweise im Süden der Republik, die Vertriebenenverbände zu Folklore und revanchistischen Ansprachen. Dabei tun sich Unionspolitiker hervor, vor allem bayrische bei den Ex-Sudetendeutschen, zwecks Pflege eines sicheren Wahlstimmenreservoirs. Distanzierte Beobachter und politische Gegner dieses speziellen C-Gruppen-Nationalismus finden anschließend die Wahlkampftöne wieder einmal zu schrill. Und irgendwie denkt sich der unbeteiligte Mensch, das alljährliche Theater könnte sich allmählich doch mal legen, zumindest auf die Ausmaße eines bloßen Folklore-Festivals zusammenschrumpfen, so wie man es sich z.B. für die nordirischen oder die baskischen Nationalistenvereine wünscht. Denn schließlich werden die seinerzeit Vertriebenen nicht jünger und immer weniger; politisch und materiell sind sie längst in der BRD eingehaust und ihre Nachfahren erst recht; selbst die Alten könnten ihre schmerzlichen Kindheitserinnerungen also gelassen abhaken…
Von wegen! Seit das erste halbe Jahrhundert nach Kriegsende und Vertreibung ins Land gegangen ist, werden die pfingstlichen Töne aus Deutschland in Richtung Prag und Warschau immer giftiger, die materiellen und politischen Ansprüche immer rabiater. Und zwar aus einem handfesten Grund: Die Forderung nach Revision aller Kriegsfolgen, unter denen die Angehörigen des Kriegsurhebers gelitten haben, ist kein unrealistischer Revanchismus mehr; ihre Erfolgsaussichten sind schlagartig in ungeahntem Maß gestiegen; das beflügelt die unverdrossen gepflegte Heimatliebe enorm.
- Die großartige deutsch-tschechische „Versöhnungserklärung“ erweist sich – wie seinerzeit versprochen und von den organisierten Sudetendeutschen immer nicht für möglich gehalten – als das Gegenteil eines „Schlußstrichs“ unter die „traurige Vergangenheit“. Genauer gesagt: Einen Schlußstrich zieht sie mithilfe der vereinbarten indirekten Almosen an übriggebliebene Nazi-Opfer unter alle Ansprüche, die noch irgendwie, von wem auch immer, an den Rechtsnachfolger der reichsdeutschen Kriegsmacht gestellt werden könnten. Den umgekehrten Ansprüchen von deutscher Seite an die einst unterworfenen Nachbarn verschafft sie dagegen erstmals eine rechtsförmliche, von der Gegenseite akzeptierte Grundlage: Die tschechische Republik erkennt an, daß sie mit den ehemaligen Sudetendeutschen überhaupt nicht im Reinen ist, sondern ein akut regelungsbedürftiges ethnisches Minderheitenproblem hat; daß diese Leute überhaupt nicht zu ihrem staatsbürgerlichen Bestand, sondern zu dem der BRD gehören, hat die Rechtsfolge, daß Tschechien der deutschen Regierung ein Mitspracherecht bei der Bewältigung dieses Problems zubilligt. Die deutsche Regierung spricht auch gleich mit, und zwar vor allem über die alten Eigentumsforderungen ihrer ex-sudetendeutschen Bürger das Machtwort, daß sie unmöglich einen Verzicht darauf aussprechen, geschweige denn durchsetzen kann. Auf diese Weise nimmt sie die Regierung in Prag für die Regulierung besagter Forderungen in Anspruch – selbstverständlich im Sinne der Regeln, die sie selbst bei der Wiederaneignung von Land und Reichtum der zwischenzeitlich realsozialistisch regierten deutschen Ostzone zur Anwendung gebracht hat. Dementsprechend führt die Interessenvertretung der enteigneten Sudentendeutschen sich auf, nämlich ganz nach dem Vorbild der einstigen ostelbischen Großgrundbesitzer, die unbeschönigt und unter Verzicht auf jede marktwirtschaftliche Leistungsideologie pur darauf bestehen, daß ihnen wieder gehört, was ihren Ahnen gehört hat, einfach weil es denen gehört hat. So wird die tschechische Republik damit konfrontiert, daß die Aussöhnung mit dem großen Nachbarn ihren Preis hat: Ihre Abkehr vom Sowjetkommunismus und seiner „Lösung der Eigentumsfrage“ bringt ihr den Anspruch ein, daß sie schon wieder zu enteignen hat – diesmal sich bzw. eigene Untertanen zugunsten auswärtiger Erben…
- Dieser deutsche Anspruch ist alles andere als ein bloßer frommer Wunsch. Ausgerechnet Europa, dieser angeblich so großartige, nationenübergreifende, alte Feindschaften liquidierende, offene historische Rechnungen abschließende Aufbruch in eine völkergemeinschaftliche Zukunft ohne Hader und Zwietracht, bietet den Hebel, um die tschechische Regierung – und analog die polnische – zu willfährigem Entgegenkommen zu erpressen; das entdecken ausgerechnet die guten deutschen Patrioten, die bei Europa sonst immer nur das Bild vom bürokratischen Moloch beschwören, von dem sie sich jedenfalls keine Vorschriften machen lassen. In dem Fall aber geben sich die guten Deutschen als Europäer reinsten Wassers und setzen die naßforsche Behauptung in die Welt, EU-Gesetze hätten im Grunde schon längst zugunsten des deutschen Standpunkts entschieden, so daß sich Polen und Tschechen keiner deutschen Erpressung, sondern schlicht europäischem Recht zu beugen hätten:
„Es gibt genügend Resolutionen des Europarats und des Europa-Parlamentes, in denen das Recht auf Heimat festgeschrieben ist, daß Vertreibungen verboten sind. Und daß für Enteignungen Entschädigung zu zahlen ist, ist allgemeines Rechtsgut. Dem EU-Recht müssen sich auch Polen und Tschechien unterwerfen, wenn sie einmal EU-Mitglieder sind. Die Vertriebenen brauchen eigentlich nur zu warten.“
Interessant zu hören, daß sich das EU-Recht neuerdings auf Weltkrieg-II-Fragen erstrecken soll. Aber die Antragsteller entnehmen der deutschen Führungsrolle in Europa ihr gutes Recht, so daß sie gleich gar keinen Unterschied zwischen nationalen Rechnungen und deren Durchsetzung in Europa mehr machen wollen. Weil es sich bei denen zugleich um gute Menschen und überzeugte Demokraten handelt, beantragen sie die Erpressung der östlichen Kontrahenten natürlich nur aus moralischer Prinzipientreue, um der höchsten Werte willen; insbesondere im Sinne des neuen europäischen Abscheus gegen „ethnische Säuberungen“ – gut 50 Jahre danach ein wunderbar zeitgemäßer polemischer Titel für den einstigen tschechisch-nationalistischen Volkszorn gegen Hitlers 5. Kolonne und für den seinerzeitigen Präsidentenbeschluß, mit Rückendeckung der Siegermächte das Kapitel des – nach heutigen Begriffen – „nicht integrationswilligen“ deutschen Bevölkerungsanteils abzuschließen: tschechische „Revanche“ für die Liquidierung der Prager Republik durch Hitlers deutsches Reich… Mit der Berufung auf einst verletztes Menschenrecht verfügt die heimatverliebte Habgier ehemaliger Sudetendeutscher ebenso wie der Wille deutscher Machthaber zur Bevormundung der östlichen Europa-Partner jedenfalls über die passende Moral. Und diese Moral findet in der frisch gewählten Vertriebenensprecherin aus dem Nachwuchskader, der CDU-Abgeordneten Steinbach, die passende Vertreterin, die sich nicht scheut, die sittlichen Verhältnisse rückblickend in echt deutschem Geist zurechtzurücken: Antifaschistische Gegenrechnungen gegen den Vorwurf der „ethnischen Säuberung“ an Hitlers Opfer wären völlig fehl am Platz; denn denen wäre es seinerzeit – von ein paar Juden vielleicht abgesehen – gar nicht schlecht gegangen… So geht es politischen Opfern, die über keine schlagkräftige Lobby verfügen: Sie bekommen auch noch nachträglich Unrecht.
Erster Adressat dieser sudetendeutschnationalen Offensive ist selbstverständlich nicht unmittelbar der östliche Nachbarstaat, sondern die eigene Regierung, namentlich der für imperialistische Erpressungen von Amts wegen zuständige liberale Außenminister. Gegen Kinkel erheben dessen christliche Koalitionskolleginnen und -kollegen den Vorwurf nationaler Pflichtvergessenheit, weil er es ihrer Ansicht nach glatt versäumt, den Europa-Wunsch der Regierungen in Prag und Warschau politisch auszunutzen und als Preis für eine wohlwollende Behandlung ihres Beitrittsgesuchs die Unterwerfung unter alle deutschen Revisionsansprüche zu fordern – eine Beschönigung der verlangten Erpressung finden sie in diesem Zusammenhang gar nicht nötig. Gewiß ist das Wahlkampf; um eine Klientel, die, von ihren alten christlichen Anwälten und neuen Hoffnungen radikalisiert, für rechtsextreme Protestparolen und womöglich -parteien zu haben ist. Aber das mindert nicht im geringsten die Härte der Forderung, mit der Kinkels christliche Kollegen agitieren gehen: Es geht um Eigentum für Deutsche in Tschechien sowie um eine deutsche Rechtsaufsicht über die innertschechische Eigentumsordnung – und um eine EU-Erweiterungspolitik, die beides durchsetzt.
Die Gegenwehr aus dem Außenministerium sowie den notorisch auf „Ausgleich“ und „Versöhnung“ bedachten Teilen der deutschen Öffentlichkeit fällt bemerkenswert differenziert aus. Eine Ablehnung des Ansinnens, auf die östlichen Nachbarn erpresserischen Druck auszuüben, ist es nämlich nicht, wenn der oberste deutsche Diplomat die lautstarke christlich-nationale Offensive als „Torheit“ bezeichnet, als unvereinbar mit dem „Geist“ der Versöhnungserklärung und als kontraproduktiv. Was er damit im Klartext meint, erläutert der Kommentator der Süddeutschen Zeitung (im Leitartikel vom 3.6.98) so: Gerade weil es darum geht, Tschechien im Zuge seiner Annäherung an die EU zur rechten Rechtskultur, vor allem in Fragen der Behandlung einer lobbymäßig gut vertretenen völkischen Minderheit mit einem Menschenrecht auf ehemaliges Eigentum, zu erziehen, sollte man alle scharfen Töne vermeiden, die ringsum nur Mißtrauen und in Prag unweigerlich bloß „antideutsche Reflexe“ auslösen könnten. Daß Tschechien und Polen ein deutsches Minderheitenproblem haben; daß dieses Problem erzgerechte Eigentumsübertragungsansprüche beinhaltet; daß darüber die deutsche Staatsgewalt mitzuentscheiden hat; daß die Europapolitik dafür erpresserische Handhaben bietet, die zweckmäßig eingesetzt werden wollen: Das ist völlig zweifelsfrei anerkannt. Natürlich haben Prag und Warschau deutsche Spezialinteressen zu bedienen und als dauerhafte deutsche Rechtspositionen bei sich zu implantieren, wenn sie in die EU wollen: Insoweit herrscht völlige Einigkeit. Nur kann der Außenminister – im Unterschied zu den bewußt bornierten revanchistischen Interessenvertretern und deren demokratisch berechnenden CSU-Anwälten – die Bedingungen für eine reibungslose Durchsetzung dieses Anliegens nicht ignorieren. Sein Amt ist es, Partner und Kontrahenten für einen entsprechenden Deal zu gewinnen. Deswegen kann oder jedenfalls mag er nicht vollends auf den seit jeher so produktiven diplomatischen Schein nationaler Bescheidenheit verzichten. Er verweist auf „Empfindlichkeiten“ in Prag und anderswo, auf die er Rücksicht nehmen muß – und wird schon wissen warum: Schließlich gibt er seinen Nachbarn den Anlaß dazu.