Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Entführungsfall Susanne Osthoff:
Zwei Aufwallungen der patriotischen Moral, ein souveränes Kalkül mit einem sehr immanenten Drangsal staatlicher Souveränität und ein Opfer, das einfach Schwein gehabt hat

Die Geiselnehmer haben eine Frau entführt; aber woran sie sich mit ihrem Erpressungsversuch vergriffen und worum deutsche Regierungsstellen sich gekümmert haben, das hat mit dem Menschen, der sittlichen Persönlichkeit und der Privatperson Susanne O. überhaupt nichts zu tun. Beiden Seiten geht es um die Hoheit des deutschen Staates über seine Bürger.

Aus der Zeitschrift

Der Entführungsfall Susanne Osthoff:
Zwei Aufwallungen der patriotischen Moral, ein souveränes Kalkül mit einem sehr immanenten Drangsal staatlicher Souveränität und ein Opfer, das einfach Schwein gehabt hat

Kaum entführt, wird Frau Susanne Osthoff in ganz Deutschland beliebt. Eine tapfere Frau, gebildet und selbstbewusst. Dass sie sich mitten in einem Krieg um antike Scherben kümmert und ein orientalisches Motel aus der Türkenzeit restaurieren will, spricht für Idealismus und Einsatzfreude; aus den Archiven der Fernsehanstalten hervorgekramte Bilder, die sie beim Ver- und Abladen von Care-Paketen im Irak zeigen, beweisen ein vorbildliches Maß an Mildtätigkeit. So positiv voreingenommen, fallen Heerscharen von Reportern in Osthoffs oberbayrischem Heimatkaff ein und über ihre Verwandtschaft her, leuchten ihre Privatsphäre aus, beschönigen gnadenlos den in etwa durchschnittlichen Familienkrieg, in den sie ungebeten eindringen. Und warum das alles? Weil – nach vielen anderen – eine Deutsche entführt worden ist und mit dem Tod bedroht wird; weil die deutsche Regierung erpresst werden soll – wozu auch immer; weil also Deutschland betroffen ist und damit jeder einzelne, denn bekanntlich ist ja jeder einzelne von uns ‚Deutschland‘. Osthoff leidet für Deutschland, also für uns alle; und deswegen wollen wir alle in ihr auch eine würdige Repräsentantin unserer großartigen Heimat sehen. Als gute Mitbürger drücken wir ihr die Daumen und haben folglich ein Recht darauf, einer Person die Daumen zu drücken, bei der wir das gerne tun, die rundherum vorbildlich für unser Deutschland steht, die für uns alle Ehre einlegt. Patriotismus fordert Sympathie, und schon ist sie da, wird ausgiebig mit Bildmaterial versorgt – dafür gibt es schließlich eine Presse und eine Meinungsfreiheit –; die Nation fühlt sich als Schicksalsgemeinschaft; und die nötigen Kerzen finden sich auch, es ist schließlich Adventszeit.

Kaum freigelassen, macht sich Frau Osthoff in ganz Deutschland unbeliebt. Statt dem Heimatland erleichtert in die Arme zu sinken, bleibt sie weg. Statt der Nation die eingesammelten Sympathiewerte zurückzuerstatten, lässt sie sich von einem arabischen Fernsehsender interviewen – kein Wunder, dass das allgemeine Befremden durch einen Übersetzungsfehler genährt wird, wonach die Frau sofort ins Land ihrer Kidnapper zurück will. Berliner Volksvertreter geben dem Volk die Linie vor: Irgendwie festsetzen und zur Vernunft bringen sollte man die Dame; denn bei ihr – meint der „kampfeslustige“ CDU-Mann von Klaeden – scheinen die Maßstäbe verrückt zu sein. Sie ist eine Gefahr für sich und andere. (SZ) Ihr zweites Interview gibt sie zwar dem ZDF, aber wieder aus einem arabischen Studio und, man denke!, nach dortiger Landessitte verschleiert; beschwert sich über dumme Fragen und über den Zirkus um ihre Person – einfach „irre“, meint ‚Bild‘. Im Nu steht fest: So sieht eine würdige Repräsentantin des deutschen Volkes nicht aus; in der kann sich der betroffene „Du bist Deutschland“ nicht wieder- und schon gar nicht gut finden. Sympathie aus Patriotismus fordert vom Objekt dieser obskuren Begierde Bewunderungswürdigkeit – und prompt versagt und enttäuscht die allzu menschliche und dabei auch noch eigenwillige und eigensinnige Geisel. Deutschland ist beleidigt und reagiert gehässig: Die Familienverhältnisse – zerrüttet; das einzige Kind – in Deutschland alleingelassen; und ob die Frau etwas von Archäologie versteht, muss auch ernsthaft bezweifelt werden. Gerne leiht die Nation ihr Ohr dem Gerücht, „die Osthoff“ hätte bei ihrer Ankunft in der deutschen Botschaft Teile des – angeblich gar nicht gezahlten, aber das glauben wir natürlich keine Sekunde – Lösegelds dabei gehabt, in nummerierten großen Scheinen: unterschlagen? Mit den Kidnappern gemeinsame Sache gemacht? Fest steht: Deutschland hat seine Sympathien und Sorgen und die Regierung viel Arbeitszeit hochbezahlter Experten an eine Person verschwendet, die das überhaupt nicht verdient!

Nun ja.

Was Deutschlands moralische Enttäuschung betrifft, so gehört das nun einmal zu den Risiken einer patriotisch-parteilichen Urteilsbildung, dass das Objekt der Parteilichkeit versagt. Dafür lässt die gebildete Volksmeinung es dann natürlich büßen; mindestens mit ein bisschen Rufmord. Was andererseits die Regierung und deren „rund um die Uhr tätigen“ Krisenstab betrifft, so hätte sich die öffentliche Meinung ihre Erregung sparen können: Die Frage, ob Frau Susanne Osthoff den „aufopferungsvollen“ Einsatz der Berliner Staatsmacht, moralisch gesehen, verdient hat, geht an der Sache vorbei. Die Geiselnehmer haben eine Frau entführt; aber woran sie sich mit ihrem Erpressungsversuch vergriffen und worum deutsche Regierungsstellen sich gekümmert haben, das hat mit dem Menschen, der sittlichen Persönlichkeit und der Privatperson Susanne O. überhaupt nichts zu tun. Beiden Seiten geht es um die Hoheit des deutschen Staates über seine Bürger. Für die Kidnapper sind die Menschen mit einem bestimmten nationalen Pass gewissermaßen die schwache Stelle, an der sie auch noch die stärkste Staatsmacht, gegen die sie sonst keine Chance haben, angreifen können: Mit einer Entführung fordern sie den Staat heraus, den dessen Bürger nolens volens repräsentieren, wenn sie mit seinem Pass in der Welt unterwegs sind; sie testen aus, wie viel Entgegenkommen diesem Staat sein Alleinverfügungsrecht über seine Staatsangehörigen wert ist. Und genau die zwei allerhöchsten Rechtsgüter wägt die herausgeforderte Regierung auch tatsächlich gegeneinander ab: die staatliche Hoheit, soweit sie sich im exklusiven Verfügungsrecht und der exklusiven Verfügungsmacht über die eigenen Untertanen manifestiert, gegen dieselbe staatliche Hoheit unter dem Gesichtspunkt, dass sie souverän ist, sich also prinzipiell nicht nötigen lässt und nicht erpressen lassen darf, schon gar nicht von ausländischen Verbrechern.

Frau Susanne Osthoff kann von Glück sagen, dass diese Abwägung in ihrem Fall zugunsten der Hoheit über ihre Person ausgefallen ist und nicht zugunsten einer Demonstration der Unerpressbarkeit der höchsten Gewalten deutscher Nation; dass man sich in Berlin bereit gefunden hat, die Affäre zum Tauschhandel herunterzudefinieren und mit dem unglaubwürdigen Dementi einer Lösegeldzahlung den Schein zu wahren; und dass auf der anderen Seite die Entführer sich damit zufrieden gegeben haben. Denn so viel steht fest: Zu Nachgiebigkeit „in eigener Sache“, nämlich bei der Festlegung ihrer Politik, lässt eine Regierung sich durch einen Übergriff auf ihr staatseigenes Menschenmaterial nicht erpressen. Für ihre souveräne politische Entscheidungsfreiheit geht der moderne Gewaltmonopolist über Leichen – über die seiner Feinde, die ihn herauszufordern wagen, sowieso, aber notfalls auch über die seiner eigenen Leute. Das ist für den Staat eine schiere Selbstverständlichkeit, und für den Bürger ist das im Preis der Freiheit mit drin: ein Risiko, das mit dem Besitz eines Passes überall auf der Welt verbunden ist – und das wahrhaftig nicht erst da anfängt, wo in einem unsicheren Ausland Entführer zuschlagen. Geiselnehmer jedenfalls, die einem Staat mit der Ermordung einer Geisel die Demütigung seiner Souveränität androhen, beißen bei ihrem Adressaten auf Granit – und können sich aussuchen, ob sie selber am Ende doch menschlicher sein wollen als die höchsten Gewalten, die sie zu nötigen versuchen, oder ob sie ihn an Härte überbieten und sich das Erfolgserlebnis verschaffen wollen, mit der Tötung ihrer Geisel an einem politisch völlig belanglosen Schwachpunkt über einen unendlich überlegenen, für sie praktisch unangreifbaren fremden Souverän zu triumphieren.

Die Zuspitzung ist Frau Osthoff erspart geblieben. Die Chance freilich, für Deutschland bis zum Letzten und unwiderruflich höchste Ehre einzulegen und sich damit ein unverwüstliches ehrendes Andenken zu verdienen, einen Staatsakt und eine Liebeserklärung von ‚Bild‘: die hat sie verpasst.