Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Das Attentat in Norwegen:
Ein Blutbad zur Rettung des christlichen Abendlandes

Ein Norweger namens Breivik sprengt erst ein Gebäude im Regierungsviertel in Oslo in die Luft, bevor er auf einer nahe gelegenen Insel über siebzig junge Leute erschießt, die an einem multikulturellen Feriencamp der sozialdemokratischen Partei teilnehmen. Die Gründe für seine Tat hat er in einem dickleibigen Manifest niedergelegt, das er ins Internet stellt. Er will mit seinem Blutbad nichts Geringeres erreichen als die Rettung des christlichen Abendlandes vor dem Islam, der sich als Todfeind in den europäischen Gesellschaften eingenistet hat. Während der Attentäter sich in der Rolle des tapferen Ritters sieht, der die Tradition des Templerordens und seiner Kreuzzüge gegen die Ungläubigen aus dem Morgenland fortsetzt, kann er seinen norwegischen Mitbürgern nur eines bescheinigen: Sie stellen sich ignorant gegen die existenzielle Gefahr, mehr noch, sie wählen und unterstützen Politiker sozialdemokratischer Provenienz, die mit ihrer Einwanderungspolitik dem islamischen Feind Tür und Tor öffnen. Das bestraft Breivik, indem er gezielt den Nachwuchs der Sozialdemokraten hinrichtet. Zugleich soll sein ausuferndes Blutbad den Rest des Volkes aufrütteln und ihm den Ernst der Lage vor Augen führen. Er kann den Vormarsch des Islam nicht alleine aufhalten, mit seiner „furchtbaren, aber notwendigen Tat“ kann er nur ein Fanal setzen, das Gleichgesinnte verpflichtet, selbst vom Reden zum Handeln überzugehen, und das als Startschuss für den langjährigen Befreiungskrieg Europas wirken soll, den er den Zeitgenossen auf die Tagesordnung setzt.

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Das Attentat in Norwegen:
Ein Blutbad zur Rettung des christlichen Abendlandes

Ein Norweger namens Breivik sprengt erst ein Gebäude im Regierungsviertel in Oslo in die Luft, bevor er auf einer nahe gelegenen Insel über siebzig junge Leute erschießt, die an einem multikulturellen Feriencamp der sozialdemokratischen Partei teilnehmen. Die Gründe für seine Tat hat er in einem dickleibigen Manifest niedergelegt, das er ins Internet stellt. Er will mit seinem Blutbad nichts Geringeres erreichen als die Rettung des christlichen Abendlandes vor dem Islam, der sich als Todfeind in den europäischen Gesellschaften eingenistet hat. Während der Attentäter sich in der Rolle des tapferen Ritters sieht, der die Tradition des Templerordens und seiner Kreuzzüge gegen die Ungläubigen aus dem Morgenland fortsetzt, kann er seinen norwegischen Mitbürgern nur eines bescheinigen: Sie stellen sich ignorant gegen die existenzielle Gefahr, mehr noch, sie wählen und unterstützen Politiker sozialdemokratischer Provenienz, die mit ihrer Einwanderungspolitik dem islamischen Feind Tür und Tor öffnen. Das bestraft Breivik, indem er gezielt den Nachwuchs der Sozialdemokraten hinrichtet. Zugleich soll sein ausuferndes Blutbad den Rest des Volkes aufrütteln und ihm den Ernst der Lage vor Augen führen. Er kann den Vormarsch des Islam nicht alleine aufhalten, mit seiner „furchtbaren, aber notwendigen Tat“ kann er nur ein Fanal setzen, das Gleichgesinnte verpflichtet, selbst vom Reden zum Handeln überzugehen, und das als Startschuss für den langjährigen Befreiungskrieg Europas wirken soll, den er den Zeitgenossen auf die Tagesordnung setzt.

Um die Ernsthaftigkeit seiner Absichten zu untermauern, wendet sich sein Manifest vorbeugend gegen die erwartete öffentliche Interpretation der Tat. Nein, er hatte keine schwere Kindheit, sondern ist wohlbehütet in einer glücklichen Familie aufgewachsen. Und nein, er ist kein isolierter, introvertierter Einzelgänger, der seine Zeit mit gewaltträchtigen Computer-Spielen zubringt, sondern ein gut aussehender junger Mann mit einem großen Freundeskreis beiderlei Geschlechts. Breivik besteht so auf dem politischen Inhalt seiner Tat und will sich nicht ins psychopathologische Abseits abschieben lassen. Das hilft aber nichts. Kaum gehen die Agenturmeldungen über das Attentat ein, steht für die schreibende Zunft in Europa fest, dass hier ein zutiefst gestörtes Wesen sein Unwesen getrieben hat. Eine Woche lang wälzt sie die große Frage: Warum tut einer so etwas? – wohlgemerkt, nachdem sie die Begründungen und das strategische Kalkül des Attentäters zur Kenntnis genommen und verstanden hat. Diese Frage wischt die Erklärung, die der Täter gibt, vom Tisch; deklariert sie zur bloßen Rationalisierung eines Willens, der seine wahren Bestimmungsgründe woanders haben muss. Wo die Öffentlichkeit einen allseits gebilligten und anerkannten Grund für politische Gewalt, wie bei den wirklichen Kriegen ihrer Nation, nicht sieht, will sie gleich gar keine Gründe mehr erkennen. Wenn sie erschrocken nach dem Warum fragt, dann fordert sie Gründe für eine Handlung, für die es Gründe nicht geben darf. Weil aber auch die unbegründbare Handlung einen Motor im Täter braucht, damit sie zustande kommt, wird jenseits des Willens nach einer Ersatzkraft gefahndet, einem psychischen Defekt, der den Täter treibt.

Es ändert wenig, dass andere Journalisten vor einer vorschnellen Psychopathologisierung Breiviks warnen und auf die „islamfeindliche politische Gesinnung“ verweisen, der er über Jahre hinweg mit „kühler Berechnung“ folgt. Denn sofort machen sie gegen sich selbst den Einwand geltend, dass die anderen islamkritischen Zeitgenossen, deren es im Volk viele gibt, ihren Hass auf Moslems mit der Wahl rechter Parteien, allenfalls mit Demos gegen Moscheen betätigen, nicht aber mit Massenmord. Also muss dann wohl doch ein kleiner Zusatz dafür verantwortlich sein, dass ein normaler Islamfeind zum Attentäter wird. Weil sie nicht gelten lassen wollen, dass verschiedene Leute aus derselben politischen Einstellung verschiedene Konsequenzen ziehen, landen Journalisten, die das Psychologisieren zunächst verwerfen, schnell selbst dabei: Das Gros der Islam-Hasser bewegt sich innerhalb der rechtlich und moralisch akzeptierten Bahnen, nur Breivik schert spektakulär aus, also muss bei ihm ein Defekt, ein wirrer Geist oder Schlimmeres vorliegen.

„Der Krieg der Kulturen“: Breivik nimmt die ideologische Rechtfertigung des Antiterrorkriegs bitter ernst

Seine Gedankenwelt ist tatsächlich sehr verkehrt, befleißigt sich aber über weite Strecken genau der Lehren, die die westliche Staatenwelt seit den Anfängen ihres Antiterrorkriegs in Umlauf bringt. Seit dem Anschlag auf das World-Trade-Center in New-York durch Terroristen aus dem arabischen Raum, das unter dem Datumskürzel 9/11 in die Geschichtsbücher eingeht, führen die USA und ihre Verbündeten einen weltumspannenden Krieg gegen jede Form von antiamerikanischer Gewalt und ihre Rückzugsräume. Die immer noch aktuellen großen Kriegsschauplätze heißen Irak und Afghanistan. Figuren wie Bin Laden nehmen die Dominanz der USA im Nahen Osten als Fremdherrschaft und als Zerstörung der islamischen Gemeinschaft wahr und antworten darauf mit den beschränkten kriegerischen Mitteln, die ihnen zu Gebote stehen. Umgekehrt bringen die USA ihre maßlos überlegene Kriegsmaschinerie in einem deswegen so genannten asymmetrischen Krieg zum Einsatz, um jede noch so kleine Anfeindung ihres Status als Weltaufsichtsmacht im Keim zu ersticken.

Ihren Völkern machen sie diesen Krieg mit einer Rechtfertigungslehre der höheren Art schmackhaft. Nicht im Interesse ihrer Weltmacht treten die USA und ihre Verbündeten an, sondern im Auftrag höchster christlich-abendländischer Werte. Toleranz, Meinungsfreiheit und ein aufgeklärter Gottesglaube werden mit Waffengewalt verteidigt gegen die dem Mittelalter verhaftete mohammedanische Religion, die schon ihres Dogmatismus wegen – als Staatsreligion verbindlich gemacht! – den Keim zur Gewalt in sich trägt. In dieser Sicht der Dinge sind sich Presse, Parteiführer und Papst Benedikt völlig einig. Auch die Freunde des Propheten lassen sich nicht lumpen und veredeln ihren Waffengang zu einem „heiligen Krieg“, den der Islam gegen abendländische „Kreuzfahrer“ führen muss. All diese Darstellungen sind unsachlich, denn sie vertauschen Kriegsgrund und Kriegsbegründung. Es ist schon ein Witz, wenn westliche Regierungschefs ihren Krieg mit einer Ermahnung an die Adresse ihres Gegners rechtfertigen, Gewalt dürfe kein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein. Solche Typen sind nicht gegen Gewalt, sondern gegen die Gewalt der anderen. Und die Toleranz ist ihnen weniger als beherzigte Tugend denn als Forderung geläufig, der sich das Gegenüber zu fügen hat. Die unsäglichen Mohammed-Karikaturen in Dänemark jedenfalls gelten nicht als Verstoß gegen die Toleranz gegenüber Andersgläubigen, über deren Gott man nicht spottet. Umgekehrt aber gilt die von den Muslimen verweigerte Hinnahme der Verhöhnung ihres Propheten als ein Akt von Intoleranz gegen die Pressefreiheit, der nicht geduldet werden kann. Der Urheber der Karikaturen ist seitdem ein dänischer Nationalheld und europäischer Vorkämpfer für abendländische Werte und wird dafür von der deutschen Kanzlerin mit einem Friedenspreis geehrt.

Der Ertrag der Rechtfertigung des Waffengangs aus dem Geist von Aufklärung und Toleranz ist enorm. Das nationale Interesse stellt sich als Diener supra-nationaler, universeller menschlicher Werte dar und macht sich so unanfechtbar. Einem so selbstlosen Menschheitsanliegen des christlichen Abendlandes und seines bewaffneten Arms kann sich nur entgegenstellen, wer selber inhuman, also böse ist. Damit ist sie fertig, die Verwandlung eines Waffengangs politischer Mächte in einen Kulturkampf zwischen Abendland und Morgenland. Und dieses verlogene Argument in rechtfertigender Absicht hat den guten Norweger Breivik so überzeugt, dass er Grund und Begründung des Krieges nicht mehr unterscheidet, seine Ideologie also für seinen Inhalt nimmt. Er glaubt, was man ihm sagt, dass nämlich ein Kulturkampf tobt zwischen einem guten christlichen Abendland und einem vormodernen, gewalttätigen Morgenland. Und beim honorigen Historiker Huntington holt er sich noch die wissenschaftliche Bestätigung ab, dass die Militärmaschinerie der imperialistischen Staaten in einem „Clash of Civilisations“ engagiert ist, wenn sie Irak und Afghanistan verwüstet.

Das Attentat: Weckruf gegen den Ausverkauf des Abendlandes an seine islamischen Feinde

Im Geiste des „Kulturkampfes“, den Breivik nach seinem Dafürhalten zusammen mit seinem Staat und dem ganzen Westen führt, besichtigt er sein Heimatland und ist entsetzt. Mitten in Norwegen machen sich Vertreter ausgerechnet der Richtung breit, die den Untergang des Abendlandes betreibt und über kurz oder lang die Macht übernehmen wird – die Anhänger Allahs. Und nicht nur das. Sie hocken dort mit ausdrücklicher Billigung der nationalen Führung. Insgesamt etwa 20 Millionen Menschen islamischen Glaubens sind in den Staaten der EU ansässig, weil sie als Arbeitskräfte gebraucht oder als politische Flüchtlinge untergebracht werden.

Die Politik der westlichen Staaten hält sich eben nicht an die Rechtfertigungslehre ihres Antiterrorkriegs. Ein weltumspannender Krieg gegen alles Islamische ist ja auch gar nicht gewollt. Gute Bündnispartner wie Saudi-Arabien und andere sollen nicht schon deshalb unter die Feindschaftserklärung fallen, weil bei ihnen islamisch geglaubt und Staat gemacht wird. Die Feindschaft gilt ausschließlich dem antiimperialistischen Terrorismus islamischer Prägung. In den europäischen Heimatländern werden daher Einwohner islamischer Herkunft einer peniblen Prüfung unterzogen. Als Gläubige des Islam stehen sie grundsätzlich im Verdacht, die Fünfte Kolonne und das Rekrutierungsfeld des islamistischen Feindes zu sein. Sie werden unter Aufsicht gestellt, mit Islam-Konferenzen traktiert, die eine europäisch angeleitete Ausbildung von Imamen verfügen, um Kontrolle über die Köpfe zu erlangen. Sofern aber die Gläubigen aus dem Morgenland ihre Religion als Privatsache ohne weitere politische Ambitionen pflegen und ihren sonstigen Pflichten als Arbeitskraft und Bürger nachkommen, dürfen sie – trotz eines nie endgültig ausgeräumten Rest-Misstrauens –, was sie sollen und was überhaupt ihr Bleiberecht begründet: ihrem Gastland nützlich sein. Die Politik in den europäischen Staaten nimmt eine Sortierung unter den Gläubigen Allahs vor, scheidet sie in Gute, die Muslime heißen, und in Böse, die Islamisten geschimpft werden, weil sie mit ihrem Glauben eine politische Kritik und Anfeindung verbinden.

So etwas kann Breivik nicht nachvollziehen. Wenn der Islam die falsche Religion ist, die sich das Abendland unterwerfen und ihm seine christliche Identität verbieten will, wie können seine Anhänger dann in Gute und Böse zerfallen? Der norwegische Nationalist hat verstanden, dass die höchsten Werte, Christentum und Abendland, mit denen Bush seine imperialistische Mission adelt, für Ausschließlichkeit und Unverträglichkeit des dadurch definierten Kreises von Staaten gegen andere stehen, in denen andere Götter angebetet werden und die deshalb als ebenso unbedingt feindlich anzusehen sind. Und er hat verstanden, dass mit der Berufung auf höchste Werte das absolute Recht und die Pflicht zur nötigen Gewalt gegen die unverträgliche fremde Kultur begründet werden. In der Überhöhung des staatlichen Zusammenhangs zur Nation und Wertegemeinschaft weiß er sich – zu Recht – mit der Mehrheitsgesellschaft und ihrem Staat einig; die Werte teilt diese Mehrheit wohl, aber sie weigert sich, den Krieg zu führen, den er zu ihrer Verteidigung gegen die islamische Bedrohung nötig findet. „Multikulturalismus“, „Feminismus“ und „kultureller Marxismus“ lähmen nicht nur den Selbstbehauptungswillen Europas; Breivik erkennt sie als gezielte Wehrkraftzersetzung, bewusst darauf gerichtet, die Vaterländer dem Feind auszuliefern.

Mit dem Massenmord im Zentrum der norwegischen Wehrkraftzersetzer vollstreckt er, was er aus den Botschaften seiner politischen Lehrer und Ziehväter heraushört. Neben der Spur des hoffähigen Nationalismus ist er damit erstens zusammen mit vielen anderen: Er folgt den Legitimationen des Krieges und versteht daher die Realpolitik der Regierungen im Verhältnis zu arabischen Verbündeten und in Sachen Einwanderung gar nicht mehr. Über den üblichen Nationalismus geht er zweitens darin weit hinaus, dass für ihn mit der Gefährdung der kulturellen Identität seiner Heimat sein ganzer persönlicher Lebenssinn auf dem Spiel steht. Andere lassen die Politik, über die sie schimpfen, auch wieder Politik sein und kümmern sich um ihren privaten „pursuit of happiness“. Breivik sieht das Vaterland wegen genau dieses Materialismus und dieser Gleichgültigkeit untergehen – und widmet sich mit allem blutigen Ernst seiner Mission. Wenn es sonst niemand tut, rettet eben er das Abendland.

Die demokratische Bewältigung des Entsetzens: Nicht-Verstehen, Ausgrenzen, Mahnen

Die Presse schuldet ihren Lesern eine Anleitung beim Bemühen, mit dem Massenmord im friedlichen Norwegen geistig fertig zu werden. Sie hat ihnen zu sagen, wie man als anständiger Europäer das ungeheure Ereignis einordnen und so verstehen kann, dass – auch wenn selbstverständlich nichts mehr so sein wird wie vorher – alles weitergehen kann wie bisher. Die Aufgabe, der sich Journalisten da widmen, zielt auf die Trennung zwischen der patriotischen Weltsicht, die sie und ihre Leser teilen, und dem patriotischen Terror des Norwegers, der mit unserer Gesellschaft und ihrer Politik nichts zu tun haben kann. Dabei scheint ein Gesetz zu gelten: Je näher ein Journalist dem nationalen Denken des Attentäters steht, desto radikaler besteht er auf der totalen Unmöglichkeit, ein so abgrundtief abweichendes Verhalten irgend zu verstehen.

Die FAZ hat bei den ersten Horrormeldungen zunächst gar kein Verständnisproblem, denn sie erkennt gleich die Handschrift von Al Kaida, und zu der passt so etwas ja. Sobald die Nachrichten detaillierter werden, versteht Kommentator Hefty dann überhaupt nichts mehr und verlangt, dass andere es auch so halten: Er verbittet sich jedweden Erklärungsversuch der Untat mit dem Argument, die sei einfach zu groß, um in rationale Kategorien zu passen: Erklärungen, welcher Art auch immer, machen sie unserem Denken und unseren Maßstäben kommensurabel und schmälern nur ihre Verwerflichkeit:

„Der Anschlag von Oslo und die Morde … auf der Insel Utoya sind der jüngste Höhepunkt solcher nicht zu erklärender Geschehnisse. Diesmal ist offensichtlich, dass mit den Kategorien der Vernunft eine Deutung derart gewaltiger Untaten nicht möglich ist. Das Handeln des Täters ist weder politisch noch gesellschaftlich, weder religiös noch esoterisch verständlich. Die einzige Kategorie, die darauf passt, ist Wahnsinn… Daher ergibt der Blick auf die vom späteren Massenmörder bestückten Internetseiten auch keinen wirklichen Aufschluss über die Gründe des Verbrechens… Der Rückgriff eines Menschen, der Kinder erschießt, auf das Christentum ist ebenso hirnrissig und aller Logik fern wie die Ermordung von Landsleuten durch einen, der die Nation zu schützen vorgibt.“ (FAZ, 25.7.11.)

Endgültig von der Irrationalität des Täters überzeugt sich Hefty mit einer gesunden nationalen Unterscheidung: Ein Kerl, der auf die eigenen Leute schießt, kann kein echter, seiner Sinne mächtiger Nationalist sein.

Andere haben dann doch eine Erklärung der Untat parat, die nicht unter Heftys Erklärungsverbot fallen dürfte. Das Grinsen des Teufels erkennt Bild im Foto von Breivik nach seiner Verhaftung; im selben Sinn, nur vorsichtiger, fragt der Spiegel:

„Gibt es das ausschließlich Böse? Kann ein Mensch, aus sich selbst heraus, schlicht böse sein. Und wenn nicht, was verleitet einen Menschen dazu, böse zu sein? Menschen zu töten. Kinder zu erschießen. Einfach so.“ (Spiegel, Nr. 31/2011)
Wo das absolute Böse bzw. seine Inkarnation, der Teufel, höchstpersönlich am Werk ist, kennt sich die Welt der Guten wieder aus: Das negative Abziehbild des Guten hat keinen anderen Sinn und Zweck als dieses Gute zu vernichten; es ist Aufgabe und Recht der Guten, dasselbe umgekehrt zu tun. Nun weiß auch Breivik, dass man Kinder nicht „einfach so“ umbringt; er nennt seine Tat selbst ein furchtbares Menschenopfer. Aber er bringt ja nicht Kinder um, weil sie Kinder sind, sondern, wie er sagt, „gehirngewaschene“ Jungsozialisten und Multikulturalisten. Zur Verbannung der Tat aus dem Kosmos des Politischen und Nationalen ist es eben schöner, bei den Opfern nur Kinder und beim Täter nur den Kindermörder zu sehen, und dem Guten, für das seine Opfer stehen, das ebenso grund- und ziellose, selbstzweckhafte Böse entgegenzustellen.

So schön die beiden Varianten der absoluten Ausgrenzung der Tat aus dem Bereich der bekannten Zwecke und erklärbaren Handlungen sich ergänzen, zwischen ihnen entsteht eine Kontroverse, die wiederum das Feuilleton bereichert: Wenn er wahnsinnig ist, kann er nicht böse sein – und umgekehrt. Ist es besser, im Interesse einer Verurteilung dem Massenmörder Verstand zuzubilligen, oder muss im Interesse der vollständigen Trennung der Tat von unserer Welt auf eine Verurteilung verzichtet werden?

Zeitungsleute, die sich eher dem linken und kritischen Lager zurechnen, halten die Ausgrenzung des verrückten Einzeltäters für eine große Verharmlosung. Damit unterschätze man die Bedrohung und wolle nur die geistige und politische Umwelt reinwaschen, aus der so etwas hervorgeht: Breivik – so die mehrfach benutzte Formel – kommt „aus der Mitte der Gesellschaft“, repräsentiert die „Normalität des Internet“; das ausländer- und islamfeindliche Milieu, bei dem er sich intellektuell bedient und abschreibt, ist längst über eine Blogger-Szene hinaus. Überall in Europa, besonders in den skandinavischen Ländern, reüssieren rechtspopulistische und rechtsextreme Parteien bei Wahlen, regieren mancherorts sogar mit und das unter Parolen, die nicht anders gegen Islam und Überfremdung hetzen als Breiviks Manifest. Die Schweden-Demokraten, die „wahren Finnen“, die norwegische Fortschrittspartei, bei der Breivik zeitweise Mitglied war, die dänische Volkspartei, der Niederländer Geerd Wilders, die FPÖ in Österreich und so weiter werben für sich mit dem Kampf gegen den Bau von Moscheen, für das Kopftuch-Verbot und mit Wahlplakaten wie: Abendland in Christenhand! (FPÖ).

Mit der Verortung des Attentäters in seinem Milieu ist das politische Ernstnehmen des Attentats allerdings auch schon erledigt; man besteht darauf, dass der Irrweg keine individuelle Verrücktheit ist, sondern eine verbreitete. Ihre Entdeckung nämlich, dass die Rechtspopulisten „aus der Mitte der Gesellschaft“ kommen, verführt kritische Journalisten keineswegs dazu, für sie eine Erklärung in dieser Gesellschaft und ihrer Politisierung zu suchen, sondern fordert auch sie zu nichts als empörter Verständnislosigkeit und Ausgrenzung heraus. Die ist ja auch billig zu haben: Wenn man bei Breivik und Gesinnungsgenossen nicht die Anknüpfung an die Rechtfertigungen des Antiterrorkrieges sehen will, die auch liberale und linke Redaktionen stets gebilligt haben, sondern nur den Gegensatz zum zivilen Umgang europäischer Regierungen mit moslemischen Einwanderern, dann sieht man eben nur die Differenz: Was sich da am rechten Rand als Patriotismus aufspielt, ist, so die leichte Erkenntnis, nicht der unsere. Alles Abweichende dieses aggressiven Nationalismus wird als Beweis genommen, dass es kein echter, ernst zu nehmender, auf die Bedürfnisse unserer Gemeinwesen irgendwie antwortender Nationalismus ist, sondern nichts als ideologische Verblendung, grundloser Hass, selbst eine Art psychischer Entgleisung.

Statt für eine Erklärung des Attentats interessiert sich dieses Spektrum für seine Benutzung zur weiteren Ausgrenzung der ohnehin ausgegrenzten Rechtsradikalen: Gerade weil man weiß, dass sie ein Bedürfnis im Volk bedienen, nutzt man die Gelegenheit der monströsen Tat, um sie von ihrem Umfeld zu isolieren: Die Tat, hinter die sich niemand stellen kann, bringt das Milieu in Misskredit, dem der Täter entstammt. Mit ihr kann man die Rechten – wieder einmal – als Schaden und Schande für ihre Vaterländer, als eigentlich un-nationale Elemente an ihrem eigenen Maßstab blamieren. Ihre Organisationen sind in der peinlichen Lage, sich distanzieren, also eine Verwandtschaft zu dem Monster einräumen zu müssen.

Andere Journalisten nehmen das Wort von der „Mitte der Gesellschaft“, aus der Breiviks Denken stammt, noch ernster und erinnern an islamfeindliche Äußerungen nicht vom rechten Rand, sondern von Vertretern der staatstragenden Parteien. Gab es im Zuge der Terrorfahndung nicht generell die Gleichsetzung von Islam und Islamismus? Wurde den Einwanderern nicht die Übernahme „abendländischer Werte“ sowie der „christlich-jüdischen Leitkultur“ abverlangt, wenn sie nicht gleich als feindlicher Fremdkörper behandelt werden wollten? Es ist diesen Journalisten kein Geheimnis, an welche Punkte der nationalen Agenda einer wie Breivik anknüpft. Sie stoßen so auf das hohe Gut, das er mit der ganzen über ihn erschrockenen Gesellschaft teilt: die nationale Identität, die Definition des völkischen Kollektivs, dem sein Staat verpflichtet ist, und die Abgrenzung dieses Kollektivs gegen die Anderen, gegen die es sich zu behaupten hat. Und dann verspüren sie keinerlei Bedürfnis, sich zu erklären, was für eine Gesellschaft das ist, die sich so abgrenzend definiert, geschweige denn, was das für ein Kriterium ist, mit dem diese Gesellschaft sich von anderen vorteilhaft unterscheiden und von ihnen abgrenzen will – sie sind zufrieden, wenn sie Schuldzuweisung und Ermahnung zu Papier bringen:

„Bevor die bürgerliche Mitte nach allen möglichen Verboten ruft, sollte sie sich ihre eigene Fremdenfeindlichkeit verbieten; und sich ihre nicht nur klammheimliche, sondern unheimliche Freude an aggressiv anti-islamischen Schriften versagen. In fast allen europäischen Gesellschaften greift so etwas wie eine anti-koranische Tollwut um sich.“ (SZ 29.6.11)

Demokratiewächter Prantl wendet sich diesmal gegen ein Verbot rechtsradikaler Parteien; so ist nicht zu heilen, was längst in der Mitte der Gesellschaft Fuß gefasst hat: etwas, das er hinreichend bestimmt findet, wenn er es eine Krankheit nennt, eine Abweichung vom Gesunden, Richtigen. Die Absurdität, die ganze Gesellschaft als Abweichung aufzufassen – wohl von sich selbst –, ist offenbar das Äußerste an Kritik, das er im Repertoire hat.

Die einen verstehen Breivik überhaupt nicht und rechnen ihn unter die Irren, die anderen verstehen ihn als Symptom des rechten Ungeists, den sie überhaupt nicht verstehen können, die dritten verstehen die ganze Mehrheitsgesellschaft nicht mehr, zu der er passt – drei Varianten desselben Beschlusses, auf die eigene geistige Heimat nichts kommen zu lassen: Aus dem von allen Kritikern geteilten Selbstverständnis, Höhe- und Endpunkt des politisch-moralischen Fortschritts zu sein, kann so einer wie Breivik unmöglich hervorgegangen sein.