Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Das neue deutsche Tagelöhnertum – voll trendy!
Mit dem Bekenntnis der Politik zum Niedriglohnsektor und der starken Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse wird diese „neue Existenzweise“ zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Das Elend derjenigen, die sich als Teilzeitarbeiter bei mehreren Arbeitgebern, als Leiharbeiter oder Niedriglöhner durchschlagen, wird in einschlägigen Artikeln und Talkshows nicht beschönigt. Eher schon wird teilnahmsvoll gefragt, wie es die Betroffenen denn schaffen, „unter diesen schwierigen Umständen“ über die Runden zu kommen; und man zieht den Hut vor der Energie und dem Lebensmut, den sie dabei zeigen. Dass sie solche Arbeit annehmen müssen, wird von keinem der mitfühlenden Journalisten kritisiert – im Gegenteil: Je dürftiger die Entlohnung, desto mehr brauchen die Betroffenen diese Arbeit und desto mehr von ihr brauchen sie.
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Das neue deutsche Tagelöhnertum – voll trendy!
Mit dem Bekenntnis der Politik zum Niedriglohnsektor und der starken Zunahme der prekären Arbeitsverhältnisse wird diese „neue Existenzweise“ zum Gegenstand der öffentlichen Diskussion. Das Elend derjenigen, die sich als Teilzeitarbeiter bei mehreren Arbeitgebern, als Leiharbeiter oder Niedriglöhner durchschlagen, wird in einschlägigen Artikeln und Talkshows nicht beschönigt. Eher schon wird teilnahmsvoll gefragt, wie es die Betroffenen denn schaffen, „unter diesen schwierigen Umständen“ über die Runden zu kommen; und man zieht den Hut vor der Energie und dem Lebensmut, den sie dabei zeigen. Dass sie solche Arbeit annehmen müssen, wird von keinem der mitfühlenden Journalisten kritisiert – im Gegenteil: Je dürftiger die Entlohnung, desto mehr brauchen die Betroffenen diese Arbeit und desto mehr von ihr brauchen sie.
Diesem gemeinen Realismus verleiht der Spiegel eine höhere Weihe. Er widmet den working poor eine Titelgeschichte und kündigt mit der Überschrift „Moderne Zeiten“ an, wie er das Elend der Leiharbeiter und Niedriglöhner einordnet: Menschen drehen sich im anonymen Räderwerk der Moderne. Es herrscht eine „Ära der Unsicherheit“:
„In Deutschland gibt es zwei Arbeitswelten, sie existieren nebeneinander – und driften immer weiter auseinander.
Da ist auf der einen Seite die Welt der Beschäftigten in Normalarbeitsverhältnissen; sie leben in langfristigen und gesicherten Anstellungen und waren das Modell des deutschen Wirtschaftswunders. Jahrzehntelang stieg ihr Einkommen. Auf ihnen basiert das deutsche Sozialstaatsmodell mit seinen Sicherungssystemen, die über Abgaben und Steuern finanziert werden. Diese Welt verschwindet nicht, aber sie schrumpft.
Auf der anderen Seite ist eine zweite Welt entstanden, flexibler und vielfältiger, bunter, aber auch brutaler. Hier gibt es keine lebenslangen Jobs, sondern viele Beschäftigungsformen: Teilzeitarbeit und zeitlich befristete oder projektbezogene Vollzeitarbeit, Leiharbeit und Minijobs, in denen man für 400 Euro nur ein paar oder 40 Stunden in der Woche arbeiten muss und oft zur Selbständigkeit gezwungen ist. In dieser neuen Arbeitswelt wird manchen der große Wohlstand versprochen, aber es gibt auch Menschen, die 35 Stunden arbeiten und dennoch nicht von ihrem Einkommen leben können.“ („Ära der Unsicherheit“, Spiegel Nr.12, 22.3.10; daraus auch alle folgenden Zitate)
Es ist eine zweite Welt entstanden. Die mag einem gefallen oder nicht, man mag sie für „bunt oder brutal“ halten. Jedenfalls ist sie da und sie ist neu. Dagegen erscheint die erste Welt mit ihren eher langweiligen „langfristigen und gesicherten Anstellungen“ und ihrer eigentümlichen Neigung zum Schrumpfen als Verlierer.
Im Ton des objektiven Beobachters einer Entwicklung entwirft der Spiegel vom Arbeitsmarkt das Bild zweier Welten, die „auseinander driften“ und in der die eine das strikte Gegenbild der anderen ist. Kein Wort von den unternehmerischen Nutznießern der „langfristigen und gesicherten Anstellungen“, die damit immerhin die Arbeitslosen produziert haben, die sich bei ihnen jetzt um die befristeten Anstellungen bewerben; kein Wort von den politischen Machern der alten und neuen Welt, die die Fortschritte des Kapitals arbeits- und sozialrechtlich festschreiben, kein Wort von der Benutzung der neuen Freiheiten, die die „erste Welt“ immer mehr schrumpfen lässt.
Der Spiegel stilisiert die radikalisierte Unterordnung der Leute unter die Geschäftsinteressen der Unternehmer zum Ausdruck einer kulturhistorischen Zeitenwende. Die wachsende Existenzunsicherheit der Lohnarbeiter wird zum Charakteristikum einer neuen Epoche und damit unausweichlich und unwidersprechlich. Die neuen Härten des Zurechtkommens müssen sein, weil sie nun mal existieren und weil die „neue Zeit“ sie verlangt. Die tatsächlichen Subjekte ihrer Durchsetzung soll man sich dagegen als zufällig Begünstigte eines interesselosen Geistersubjekts namens Wandel vorstellen:
„Die deutsche Wirtschaft hat von diesem Wandel profitiert. Noch vor wenigen Jahren galt der Arbeitsmarkt als verkrustet, jetzt ist er flexibel und wettbewerbsfähig wie kaum ein anderer... In rund einem Viertel aller deutschen Unternehmen, die Leiharbeit nutzen, (werden) bestehende feste Arbeitsverhältnisse zugunsten von Zeitarbeitsjobs reduziert... ,Der Trend geht zu einer weitreichenden Flexibilisierung des Arbeitslebens.‘ sagt Hans-Jörg Bullinger, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft.“
Der Wandel bricht – Fügung der Weltgeschichte – die „Verkrustung“ des Normalarbeitstages auf und schafft Arbeitnehmer, die, immer und jederzeit verfügbar, den Verwertungsinteressen „der Wirtschaft“ nützen. Das neue deutsche Tagelöhnertum als Trend!
Dem kann sich der moderne Mensch selbstverständlich nicht entgegenstellen. Stattdessen gilt es so manche Wohlstandsvorstellungen aus dem Verkehr zu ziehen, mit denen Apologeten der alten Welt meinten, die „Realität“ beschönigen zu müssen:
„So haben sich die Zukunftsforscher der Vergangenheit die Gegenwart nicht vorgestellt. Der französische Sozialwissenschaftler Jean Fourastié beschrieb 1949 in seinem Buch ‚Die große Hoffnung des 20. Jahrhunderts‘ eine Dienstleistungsgesellschaft mit Wohlstand für alle, die Jobs für alle bereithält – auch für jene, die in der industriellen Produktion ihre Aufgabe verloren haben. Fourastié behielt in vielem recht, doch das goldene Zeitalter will einfach nicht anbrechen.
Vielleicht ist es ja längst vorüber, vielleicht werden im Rückblick jene Jahre die goldenen sein, die früher als eher verkrustet galten: die Ära der Deutschland AG und des Rheinischen Kapitalismus, der in der alten Bundesrepublik für Ausgleich und soziale Partnerschaft stand.“
Die Vorstellung einer Wirtschaft, von der alle angemessen leben können? – Gehört in die Welt der Märchen. Ein Arbeitsplatz, an dem man sich sein Leben verdienen kann, wenn man denn schon auf einen angewiesen ist? – Eine Schnapsidee!
„‚Die Idee, in einer solchen (globalisierten) Welt für alle gute Jobs zu schaffen, ist eine Schnapsidee‘, sagt Hilmar Schneider, Chef des von der Post finanzierten Instituts zur Zukunft der Arbeit. ‚Unser Fehler ist, dass wir mit dem Normalarbeitsverhältnis etwas zur Norm erhoben haben, was keine Norm war und langfristig keine Norm sein wird.‘ ... Man habe in der Vergangenheit eine Phase erlebt, die außergewöhnlich war, meint der Arbeitsexperte. Die Wohlstandsexplosion der sechziger bis neunziger Jahre sei historisch nicht normal gewesen, jetzt würden die Verhältnisse nur wieder korrigiert.“
Der Spiegel findet
Gefallen an einem Experten, der in seinem Opportunismus
gegenüber den Zuständen, die Staat und Unternehmer gerade
als Norm etablieren, Selbstkritik übt und sich und seinen
Zunftbrüdern vorwirft, die bescheidenen
Lebensverhältnisse von früher – das
Normalarbeitsverhältnis! – nicht als ein „Zuviel an
Wohlstand“ erkannt zu haben. So viel Wohlstand musste
explodieren! Die Vergangenheit – ein Irrtum der
Geschichte, die eigentlich schon damals befristete
Arbeitsverträge und mehr existentielle Unsicherheit hätte
hervorbringen müssen! Die Zustände, die gestern
selbstverständlich waren, dürfen eben nicht die
Berufungs- und Anspruchstitel von heute sein, nur weil
sich heute das Pech, von Lohnarbeit leben zu müssen, noch
etwas drastischer bemerkbar macht: Die neue
Arbeitswelt ist unumkehrbar.
Ist die zunehmende Existenzunsicherheit der Lohnabhängigen als „neue Realität“ erst einmal anerkannt, bleibt die positive Sicht darauf nicht aus:
„... die Zeitarbeit ist nicht zwingend gleichbedeutend mit Abstieg... Für viele ist der Job auf Zeit zumindest der Weg zurück in die Arbeitswelt.“
Jenseits dessen, worum es bei der Zeitarbeit geht, kommt es dem Spiegel auf die Haltung an, die man dazu einnimmt. Und da entscheidet der Vergleich der persönlichen Lebensumstände. Man muss die Anstellung bei einer Zeitarbeitsfirma nicht als Verschlechterung gegenüber früher begreifen, man kann sie – realitätsgerecht und zukunftsorientiert – auch als ein „Zurück in die Arbeitswelt“ feiern, die nun mal nichts Besseres als solche Jobs in Aussicht stellt. An gesundem Zynismus mangelt es dem Spiegel wahrlich nicht: Die Zwangslage, in der sich die Lohnabhängigen befinden, und die schäbigen Arbeitsangebote, vor denen sie stehen, als „unumkehrbar“ unterstellt, sieht er es als Frage der persönlichen Lebensklugheit an, in jeder Zumutung der Arbeitgeber eine Chance für das persönliche Fortkommen zu sehen.
Und er weiß auf leuchtende Beispiele dieser positiven
Einstellung zu verweisen. Eine Avantgarde unter unseren
Zeitgenossen hat sich die „Anforderungen der modernen
Arbeitswelt“ offenbar gleich so zu eigen gemacht, dass
sie darin ihr wahres Lebenselixier entdeckt. So mancher
scheint, laut Spiegel,
auf „ungesicherte Arbeitsverhältnisse“ geradezu gewartet
zu haben, um das Korsett der Festanstellung
abzuschütteln und um was Eigenes zu machen.
So kommt es, dass man sich als Leiharbeiter zunehmend in bester Gesellschaft befindet:
„Es sind nicht nur die schlecht Qualifizierten, die in diesem Kosmos zu Hause sind. Schon heute arbeiten Vorstandschefs auf Zeit und Bankmanager, hochqualifizierte Facharbeiter und Ingenieure in ungesicherten Arbeitsverhältnisse.“
Woran man endgültig sehen kann, wie klassenneutral sich der Wandel vollzieht. Auch ein Vorstandsvorsitzender weiß heute oft noch nicht, für welchen Konzern er morgen die Verringerung der Stammbelegschaft beschließen wird. Aber auch für diejenigen, die darüber Teil einer „flexiblen Randbelegschaft“ werden und in „Phasen der Nichtarbeit“ über ein weniger gut gefülltes Bankkonto verfügen, hält die neue Zeit Positives bereit:
„Vorübergehende Arbeitslosigkeit wird kein Stigma mehr sein, da sie zur Alltagserfahrung der Menschen gehören wird.“
So einfach bringt der Spiegel die Welt in Ordnung.