Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Exit Regine Hildebrandt:
Die Schröder-Republik nimmt Abschied von einer bedingt nützlichen Nervensäge
Dass die Gewinnrechnungen des Kapitals über die Existenzbedingungen der Bevölkerung entscheiden und damit jede Menge Arbeitende „freisetzen“, war dieser „Nervensäge des Ostens“ einerseits selbstverständlich. Andererseits mühte sie sich, die einschlägigen sozialen Konsequenzen durch staatlich subventionierte Arbeitsplätze abzufedern. Weniger konform war ihr Beharren auf bestimmten sozialen Errungenschaften der DDR: Was sich vorher bewährt hatte, sollte auch weiterhin seinen Nutzen unter Beweis stellen dürfen, also auch einen positiven Beitrag für die „Wiedervereinigung in den Köpfen“ leisten. Als Nervensäge ihrer eigenen Partei hat sie die Ossis mit derselben Ideologie unverdrossen weiter agitiert, die die SPD aus dem Verkehr gezogen hatte, und weil sie mit ihrer Tour Erfolg hatte, wurde sie von ihrer Partei geduldet.
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Exit Regine Hildebrandt:
Die Schröder-Republik nimmt Abschied
von einer bedingt nützlichen Nervensäge
Manchmal sind Nachrufe nicht nur gefällig, sondern auch bezeichnend:
„Regine Hildebrandt war einmalig: Geradlinig, authentisch, schnörkellos hat sie sich für die Menschen im Land eingesetzt.“ (Brandenburgs Sozialminister Alwin Ziel, SPD) „Sie zeigte Charakter in einem Meer von Opportunismus.“ (Lothar Bisky, PDS, Berliner Zeitung, 28.11.2001) „… eigentlich war sie so, wie wir uns Politiker wünschen: Ehrlich, authentisch, integer, immer mit ganzem Herzen dabei …“ (AZ, 28.11.)
Denn soll man das vielleicht so verstehen, dass Politiker in ihrer übergroßen Mehrheit opportunistisch und verlogen sind? Neben ihren Regierungsgeschäften eigentlich nur damit beschäftigt, sich zu dem betörenden Charakter zu stilisieren, der sie beim Volk gut ankommen lässt? Nein, das soll man wohl nicht. Man soll wohl auch das, was Politiker bei Gelegenheit des Ablebens einer der Ihren über sich vermelden, als einen Akt ihrer notorischen Selbstdarstellung nehmen, mit der sie für sich werben wollen – auch wenn sie dabei schon ein wenig weit gehen: Berechnend, zynisch und verlogen bekennen sie sich zu dem verbreiteten Vorurteil, im Grunde genommen genau so zu sein: berechnend, zynisch und verlogen – und wollen sich dieses Bekenntnis honorieren lassen. Selbstverständlich nämlich wären sie gerne anders, als sie es sind. Von Ehrlichkeit und allen anderen Tugenden, die einen Charakter edel und groß machen, halten schon auch sie sehr viel – aber damit können sie einfach nicht dienen: Das verbietet ihnen ihr Beruf. Ihnen schwebt selbstverständlich auch jene Schnörkellosigkeit vor, mit der einer für seine Gesinnung einsteht. Aber sie wissen von sich, wie viele Schnörkel es zur glaubwürdigen Vermittlung von Schnörkellosigkeit braucht, und weil Gesinnung bei ihnen gleichfalls zu den eher nachfrageorientierten Charaktermerkmalen gehört, sollte man auch da von ihnen besser nicht viel erwarten.
So sind sie, die demokratischen Herren, an Zynismus einfach nicht zu übertrumpfen: Einer verblichenen Kollegin rufen sie ins Grab hinterher, menschlich und moralisch ein riesiger Ausnahmefall und viel besser gewesen zu sein, als sie es jemals werden könnten – und wollen damit vom Publikum doch nur den Professionalismus hoch angerechnet bekommen, mit dem sie sich auf alle Verlogenheiten einer werbewirksamen Selbstdarstellung verstehen: In einem Geschäft, in dem man um des Erfolges Willen gar nicht charakterlos und gerissen genug sein kann, blieb sie doch immer dieselbe grundehrliche Haut – Hut ab! Erst mal, denn wer in diesem Geschäft, in dem allein die Pose zählt, die beim Volk ankommt, einfach immer nur stur auf Anstand macht und seine Integrität kultiviert, der hat irgendwie doch seinen Beruf verfehlt. Ein Leuchtturm der Tugend – in einem ‚Meer von Opportunismus‘? Letztlich war sie schon ziemlich naiv, diese Gute!
Ersichtlich sind diese Zyniker nicht nur darauf aus, über ihr Volk zu herrschen: Sie wollen es glatt auch noch ausdrücklich wissen lassen, dass und wie sie es für blöd verkaufen und nach Strich und Faden verarschen, damit sie ihren Beruf ausüben können. Aber da soll es ja eine gegeben haben, die ganz anders war. Ob das so stimmt?
„Die Mutter Courage des Ostens“
„Sie wusste sehr genau, wie wichtig es für ein erfülltes Leben ist, Arbeit zu haben und Bedingungen, die es vor allem Frauen erleichtern, Arbeit und Familie in ein lebbares Verhältnis zu bringen.“ (Berliner Zeitung, 28.11.)
Politik für die Zukurzgekommenen hat die Verstorbene also
nie mit der Beseitigung der Ursachen verwechselt, die in
unserer feinen Marktwirtschaft so regelmäßig dafür
sorgen, dass es die kleinen Leute
mit ihren
einschlägigen Sorgen gibt. In der trostlosen Existenz als
Lohnarbeiterin dadurch zurecht zu kommen, dass frau
überhaupt irgendeinen mehr oder weniger schlecht
bezahlten Arbeitsplatz hat und sich dabei noch eine
Familie als kleines privates Glück
leisten
kann, war für die kirchlich erzogene und
DDR-sozialisierte
(Die Zeit,
29.11.01) Politikerin wahrscheinlich wirklich aus
tiefster Überzeugung der Inbegriff eines lebenswerten
Lebens, und das zu ermöglichen der Dienst
, den
Politik für die Menschen
zu erbringen hat:
„Sie vor allem war es, die das neue Land Brandenburg mit einem ganzen System von ABM überzog, um auf diese Weise die Massenarbeitslosigkeit zu mildern. …Ihr politisches Ziel war es auch, die Polikliniken aus der DDR zu retten und einen Familienausgleich in Form einer „Kinderkasse“ zu schaffen.“ (FAZ, 28.11.)
Dass die Gewinnrechnungen des Kapitals über die
Existenzbedingungen des Rests der Bevölkerung entscheiden
und damit jede Menge Arbeitende freisetzen
, war
ihr also einerseits selbstverständlich. Andererseits
mühte sie sich nach Kräften, die einschlägigen sozialen
Konsequenzen durch staatlich subventionierte
Arbeitsplätze abzufedern, damals ganz in Einklang mit der
Anschlusspolitik der Regierung, die eine massenhafte
Abwanderung aus dem Osten verhindern wollte. Weniger
konform war da schon das Beharren auf bestimmten sozialen
Errungenschaften der DDR – nach der toleranten Auffassung
der Wiedervereinigungsfreunde stand sie damit kurz vor
dem Verbrechen, dem grundverkehrten System posthum einen
Anschein von Existenzberechtigung zu verleihen. Die
Verstorbene dachte da weniger fundamentalistisch und eher
pragmatisch: Was sich vorher bewährt hatte, sollte auch
weiterhin seinen Nutzen unter Beweis stellen dürfen.
Darüber hinaus hätte es den Ossis das Gefühl gegeben,
dass der Laden, den sie aufgebaut hatten, doch nicht so
durch und durch schlecht und unmenschlich war, also auch
einen positiven Beitrag für die Wiedervereinigung in
den Köpfen
geleistet. Die sollte sich eben als
wirkliches Zusammenwachsen des nationalen Kollektivs
vollziehen, das nunmehr endlich unter die Fuchtel des
einen deutschen Staates geraten war – was andersherum
freilich die gewaltsame Ausgrenzung all derer
voraussetzte, die nicht das Glück hatten, zum
vergrößerten nationalen Haufen dazuzugehören. Damit war
sie dann wieder ganz im Einklang mit dem Rest der
Republik:
„Mit Massenunterkünften für Asylbewerber und der Auszahlung von Sozialhilfe nur noch in Gutscheinen setzte sie Mitte der neunziger Jahre in Brandenburg eine Ausländerpolitik durch, wie sie ansonsten nur in Bayern betrieben wurde.“ (Berliner Zeitung)
Nicht einsehen wollte sie hingegen, dass eine
marktwirtschaftlich verfasste Staatsgewalt, die alles für
die Förderung des Reichtums tut, den Unterhalt der vielen
brachliegenden Reichtumsquellen als glatte Verschwendung
empfindet. Da beharrte sie auch dann noch vehement auf
dem Widerspruch, dass ausgerechnet ein Staat, dem die
kapitalistische Rentabilität der Arbeit über alles geht,
kompensatorisch für die unrentabel Erklärten tätig werden
müsse, nachdem die Republik beschlossen hatte, derartige
Leistungen
für die Angleichung der
Lebensverhältnisse
für obsolet zu erklären. Deshalb
übertrat sie gelegentlich die vom Haushalt gesetzten
Schranken ihres Ressorts:
„‚Bis an die Grenze der Legalität‘ sei sie bereit zu gehen, sagte Hildebrandt, um von ihr als sinnvoll erachtete Projekte zu befördern.“ (ebd.) „Die Staatsanwaltschaft ermittelte gegen sie und einige ihrer Mitarbeiter. Die Verfahren wurden eingestellt. Jedoch rügte der Landtag die Haushaltspolitik der Ministerin.“ (FAZ)
Diese Lektion in Sachen soziale Marktwirtschaft ergänzte
ihre eigene Partei dann noch durch die positive
Klarstellung, dass die schon länger geübte Praxis der
Angleichung der Lebensverhältnisse
ab sofort auch
die gültige Programmatik der SPD zu sein hat: Der einzig
richtige sozialdemokratische Schluss aus der
Massenarbeitslosigkeit
besteht darin, dafür zu
sorgen, dass denjenigen, die auf Grund ihrer
betriebswirtschaftlichen Kalkulationen ständig
Arbeitsplätze vernichten
, jede Freiheit eingeräumt
wird, damit sie Arbeitsplätze schaffen
. So geht
moderne Wirtschaftspolitik, basta. Daran wollte sich die
Partei in Zukunft messen lassen – nicht unbedingt aber
die Verstorbene. Und das war er:
Ihr „Fehler“
„Die Rigorosität, mit der Regine Hildebrandt in dieser Situation auf ihren Positionen beharrte, wurde in der SPD mehr und mehr als Belastung empfunden.“ (Berliner Zeitung)
So ist das also mit der demokratischen Prinzipientreue:
Ohne die Tugenden des Pragmatismus und den Mut zur
Flexibilität stört sie nur. Als Ausnahme von der Regel
mag eine Partei das Festhalten an einer abweichenden
Überzeugung eine Zeit lang schon konzedieren können. Doch
weil solches auf Dauer der Geschlossenheit
, dem
Grund-Profil einer demokratischen Partei, abträglich ist,
hat damit auch wieder einmal Schluss zu sein. Das hat die
Verstorbene nicht so recht eingesehen, stattdessen an
ihrer Interpretation von Sozialdemokratie, an der
sie sich messen lassen wollte, festgehalten –
und der Bruch wurde unvermeidlich:
„Als Stolpe nach der Wahl 1999 partout nicht mit der PDS koalieren wollte, was das Wahlergebnis und die Stimmung im Lande durchaus nahe legten, sondern mit der CDU, den ‚Arschlöchern‘ von der CDU, wie sie einmal sagte, da hat sie ihr Landtagsmandat zurückgegeben.“ (SZ, 28.11.01)
Ihre Leistung
„Aber im Wahlkampf blieb sie unverzichtbar. Vor der Bundestagswahl 1998 tourte sie trotz ihrer Vorbehalte gegen Schröders Politik der neuen Mitte mit dem Kandidaten durch die neuen Länder. Dass Gerhard Schröder heute Kanzler ist, hat auch mit dieser beispiellosen Mobilisierung der Wähler im Osten zu tun.“ (Berliner Zeitung)
Dass ihre Position von der Partei zunehmend für
unmodern
befunden wurde, hinderte sie also nicht
daran, für dieselbe zu werben, und zwar mit dem ganzen
Einsatz ihrer Person und ihrem Nimbus, einfach nur immer
als unermüdliche Kämpferin für soziale
Gerechtigkeit
unterwegs zu sein. Wenn so eine wie sie
arbeitslosen Ossis das Wahlkreuz für Schröder ans Herz
legte, weil der sich im Falle seines Erfolges
höchstpersönlich um den Osten kümmern würde, dann musste
da doch was dran sein an der Verbesserung der
Lebensverhältnisse durch eine SPD an der Regierung:
„Bestimmt wird es mit der SPD gerechter zugehen als mit der CDU. – Die Angleichung von Ost und West wird ja jetzt Chefsache, habt ihr doch gehört gerade.“ (Hildebrandt im Wahlkampf, SZ, 28.11.)
So redete sie ihrer Partei ständig ins Gewissen und
hämmerte
ihr ein,
„den Osten nach der Wahl bloß nicht wieder zu vergessen, auch die Kitas nicht und schon gar nicht die arbeitslosen Frauen.“ (ebd.)
Als Nervensäge ihrer eigenen Partei hat sie die Ossis mit
derselben Ideologie unverdrossen weiter agitiert, die die
SPD aus dem Verkehr gezogen hat, und weil sie mit ihrer
Tour Erfolg hatte, der PDS das Monopol auf
den Titel ‚Stimme der Ostdeutschen‘
(Die Zeit, 29.11.01) erfolgreich streitig
machte, wurde sie von ihrer Partei geduldet.
Weil sie für ihren Kanzler die ostdeutschen Stimmbürger
so erfolgreich zu ködern verstand, nahmen der und sein
Wahlverein doch tatsächlich ihre nicht enden wollende
Suada von Gerechtigkeit
(SZ) in Kauf und erwiesen ihr jede Menge
Ehre: Vor einer Woche erst war sie in Nürnberg
abermals in den Vorstand der Bundes-SPD gewählt worden.
Sie erzielte das beste Ergebnis aller Bewerber
(FAZ, 28.11.01) – so weit zum
Zynismus der SPD.
Das aber alles willig mitzumachen, sich im Wahlkampf die Gesinnungsethikerin heraushängen zu lassen, als die man von dem eigenen Haufen abgehalftert wurde, und sich dann noch als dieses moralische Fossil zu Repräsentationszwecken in den Vorstand desselben Haufens wählen zu lassen: Das ist so zynisch, dass man sich fragt, ob’s nicht doch nur naiv war.