Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Die Nation im Fieber der Kapitalismus-Debatte:
Was erlauben Münte!
Müntefering „kritisiert die international wachsende Macht des Kapitals und die totale Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns“, bei dem „der Mensch“ ebenso wie „die Zukunft ganzer Unternehmen und Regionen“ „aus dem Blick geraten“. Außerdem würde, so der SPD-Chef, „durch international forcierte Profit-Maximierungs-Strategien die Handlungsfähigkeit von Staaten … rücksichtslos reduziert“ und „auf Dauer unsere Demokratie gefährdet“. Das ist für ihn „die Form von Kapitalismus, gegen die wir kämpfen, in der sich Leute aus der Wirtschaft und den internationalen Finanzmärkten aufführen, als gäbe es für sie keine Schranken und Regeln mehr“.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Die Nation im Fieber der
Kapitalismus-Debatte:
Was erlauben Münte!
Das Jahr 2005 hat begonnen, wie das vorige aufgehört hat:
mit der „Umsetzung“ von „Hartz IV“, der Vertreibung aller
Arbeitsfähigen aus dem Stand der Sozialhilfe, die
sogleich die Arbeitslosenstatistik „ehrlich“ macht und
auf einen neuen Rekordstand treibt. Mit Firmen, die
beharrlich weiter Leute entlassen, weil sie ihr Zeug
nicht loswerden, und anderen, die so gut verdienen wie
nie, deswegen weiter rationalisieren und ebenfalls Leute
entlassen, Löhne kürzen, Arbeitszeit verlängern und mit
dem Rest des Ladens nach Osten auswandern oder zumindest
darüber nachdenken
. Und mit einer Regierung, die
das mit Steuersenkungen für diese Firmen begleitet,
verspricht, keine Reformpause
einzulegen,
getrieben
von einer Opposition, die sich noch
reformwütiger gibt. Mit Arbeitern, die immer mehr dem
Druck zuwandernder Billiglöhner ausgesetzt und von ihren
Chefs immer öfter mit auswärtigen Hungerlöhnern
verglichen werden. Mit einem Staatsoberhaupt, das sich
vor der versammelten nationalen Unternehmerschaft zum
Sprachrohr ihres Klasseninteresses macht, Vorfahrt für
rentable Arbeit fordert und alles Übrige für
nachrangig
erklärt, weil die Senkung des
Lebensunterhalts der Massen als das Erfolgsrezept der
Nation gilt. Der Kapitalismus, das alternativlose
System
, nach dem sich moderne
Gesellschaften
organisieren, geht seinen Gang, und
niemand will sich ihm in den Weg stellen.
Niemand? Fast niemand! Denn: Unkritische
Stellung zur Gesellschaftsordnung des privaten Eigentums
war gestern. Heute haben wir
eine
Kapitalismusdebatte
. Und zu verdanken ist das
Franz Müntefering, dem Vorsitzenden der SPD, und seinen
Kollegen in Partei und Regierung: Sie haben es
unternommen, im von kommunistischen Bestrebungen
besenrein gesäuberten Deutschland den von ihnen politisch
verwalteten Kapitalismus von oben zu
kritisieren, und haben damit viel Zustimmung und
Widerworte ausgelöst.
*
Wenn Politiker das von ihnen demokratisch-rechtsstaatlich betreute Wirtschaften kritisieren, dann deswegen, weil sie sich Sorgen um dessen Gelingen machen. Schließlich sind sie zuständig für einen Standort, an dem der ortsübliche Kapitalismus tagein tagaus mit allem Zubehör stattfindet, das es für die gewalttätige Förderung des privateigenen Reichtums und die Betreuung der zugehörigen Armut braucht. Dafür ist konstruktiv begleitendes Gesetzgeben und viel kritische Sorge um das Siegersystem der Geschichte angesagt.
Wenn nun der Chef der großen Regierungspartei
als Systemkritiker auftritt, ist zumindest eines
klar: Es kann sich nicht um die altväterliche Art des
Kritisierens handeln, bei der sich die
Geschädigten dieser feinen Wirtschaftsordnung
aus dem beschränkten Geisteszustand bloßer Betroffenheit
heraus- und zu Klarheit über Art und Gründe ihrer
Schädigung hinarbeiten wollen, um im eigenen Interesse
mit ihr Schluss zu machen. Bei der regierungsseitigen
Kritik an den obwaltenden Zuständen ist zwar auch von
Interessen die Rede, aber nicht von
Klasseninteressen, sondern eher von denen des Großen
Ganzen. Müntefering und die Seinen machen Furore damit,
dass sie als Anführer einer großen, demokratischen
Volkspartei
den Kapitalismus
als Bedrohung
der Interessen ihres Gemeinwesens anklagen. Dabei hatte
man sich doch gerade erst darauf geeinigt, zur
herrschenden Wirtschaftsweise durchaus auch mal wieder
„Kapitalismus“ sagen zu dürfen, also den alten Titel, den
kommunistische Systemfeinde und sogar zur
Weltverbesserung aufgelegte Sozialdemokraten „alter
Schule“ so lange in denunziatorischer Absicht
der guten Sozialen Marktwirtschaft angehängt hatten,
künftig offensiv und ohne falsche Scham als Markenzeichen
eines historischen Erfolges zu übernehmen. Bei
Müntefering klingt „Kapitalismus“ plötzlich wieder wie
ein Schimpfwort; gegen den, besser: gegen das, was sie so
nennen, ziehen Sozialdemokraten schwer vom Leder; und das
gleich auf der höchsten Ebene
: der des Generellen,
des Parteiprogrammatischen, der Werteebene
(NRW-Steinbrück, SZ,
30.4.05): Müntefering kritisiert die
international wachsende Macht des Kapitals und die totale
Ökonomisierung eines kurzatmigen Profithandelns
, bei
dem der Mensch
, wahlweise auch das Sozialwesen
Mensch
, ebenso wie die Zukunft ganzer Unternehmen
und Regionen
aus dem Blick geraten
. Außerdem
würde, so der SPD-Chef, durch international forcierte
Profit-Maximierungs-Strategien die Handlungsfähigkeit von
Staaten … rücksichtslos reduziert
und auf Dauer
unsere Demokratie gefährdet.
(SZ, 13.4.) Das ist für ihn die Form
von Kapitalismus, gegen die wir kämpfen, in der sich
Leute aus der Wirtschaft und den internationalen
Finanzmärkten aufführen, als gäbe es für sie keine
Schranken und Regeln mehr
. (BamS, 17.4.) Und das geht wirklich zu
weit – wo es die Sozialdemokratie an der Macht doch an
Schranken und Regeln
für die anderen, die
berühmten ‚kleinen Leute‘, und zwar im Interesse des
Erfolgs der Wirtschaft
und nach den Bedürfnissen
des internationalen Finanzkapitals
, wahrhaftig
nicht hat fehlen lassen und wo sie doch auch überhaupt
nicht daran denkt, von diesen Regeln
irgendetwas
zurückzunehmen: Kaum hat er die unverschämten
Profit-Maximierungs-Strategen
übel ausgeschimpft,
macht Müntefering deutlich, dass seine Kritik am
Verhalten einzelner Teilnehmer des Marktes nicht als
Distanzierung von den Arbeitsmarktgesetzen der Koalition
zu verstehen sei. Eine Rücknahme von Teilen der
Hartz-IV-Gesetze lehnt er ab.
(FAZ, 19.4.) Eben deswegen hat er aber
auch – meint er – alles Recht der Welt, von den
Begünstigten seiner Politik zu verlangen, dass sie sich
so aufführen, als gäbe es
auch für sie
Schranken und Regeln
, und mangelnde Ethik bei
einzelnen Unternehmern
zu rügen, vor allem bei denen,
die „anonym sind, kein Gesicht haben“,
„wie Heuschreckenschwärme … Unternehmen
abgrasen und dann weiterziehen…“ (alles Münte, BamS, 17.4.)
Das ist für viele starker Tobak: Kapitalismuskritik von
Seiten eines Vorsitzenden, dessen Partei eine
Bundesregierung trägt, die eine gegenteilige Politik
betreibt
(FAZ, 19.4.)!
Und das nur
– das durchschauen Kenner der Szene,
die berufsmäßigen Öffentlichkeitsarbeiter ebenso wie die
Amateure aus dem Lager der Wahlberechtigten, natürlich
sofort –, um einen Knüller im Wahlkampf zu landen und die
düsteren Wahlaussichten in NRW vielleicht doch noch zu
wenden! Das empört die einen, weil der Mann es doch „gar
nicht ernst meint“, andere, weil er es zwar nicht ernst
meint, von sensiblen Kapitalisten aber so verstanden
werden könnte, als wollte Deutschland sie nicht haben;
noch andere, seine Anhänger nämlich, freut es, weil das
Thema
, wie ernst oder unernst auch immer gemeint,
bombig eingeschlagen hat. Und alle miteinander
interessieren sich überhaupt nicht weiter dafür,
was da dem interessierten Publikum eigentlich
als Stoff der demokratischen Willensbildung zur
Beurteilung angedient wird: ein starkes Stück
aktueller staatsbürgerlicher Kritik-Kultur, die
nach dem Willen der Regierungspartei durchaus auch über
die nächsten Abstimmungstermine hinaus Gültigkeit
behalten soll.
*
Der in NRW noch regierende Kandidat Steinbrück
unterstützt in eigener Wortwahl
(SZ, 30.4.) zum Tag der Arbeit
seinen Parteivorsitzenden. Er verweist auf die
erheblichen Vorleistungen
sozialdemokratischer
Politik zugunsten der Wirtschaft
, beklagt die
mangelnde Unterstützung unseres Reformkurses von
Seiten der Wirtschaft
, wünscht sich mehr
Anerkennung durch die Herren Rogowski, Hundt oder
Henkel
, die stattdessen mit ihrem Genöle
am
kollektiven Pessimismus
mitarbeiten und sich
weigern, ihrer unternehmerischen Pflicht zur
Legitimationsbeschaffung
für die Regierungspolitik
nachzukommen, in diesen Zeiten
, in denen es
Verlierer und Verlustängste
gibt. Er bestätigt
ausdrücklich, dass die Kapitalismuskritik eine Frucht
der Enttäuschung über die Wirtschaft beim
Reformprozess
ist. Und wenn er bei all den
kapitalfreundlichen Bemühungen der Regierung die
Rendite für den Standort Deutschland vermisst
, dann
ist das, nach allem vorher Gesagten, gleichbedeutend mit
seiner Unzufriedenheit über die politische Rendite
für die SPD, die sich mit ihrer Reformpolitik von den
genannten Herren
so ungerecht behandelt und so
schlecht gemacht sieht, dass sie um den Verlust der
Regierungsmacht fürchten muss.
Die amtierenden politischen Verwalter des
kapitalistischen Gemeinwohls sind also so richtig
unzufrieden mit ihrer herrschenden Klasse. Sie haben sich
redlich bemüht, es ihr recht zu machen, ihre
Geschäftsbedingungen im Lande zu verbessern, obwohl das
nicht zu ihrer Beliebtheit beigetragen hat, und sehen
sich jetzt um die verdiente Anerkennung betrogen; von
Leuten, die immer mehr wollen, immer mehr
Erleichterungen für die Unternehmer, immer mehr
Beschränkungen für die Arbeitnehmer,
die jedes
Augenmaß verloren haben und aktiv an einer kollektiven
Pessimismusfalle mitarbeiten.
(ebd.) Nicht als ob sie an ihrer Politik
rückblickend einen Mangel oder auch nur eine gewisse
Einseitigkeit entdeckt hätten: Die Sozialdemokraten
bekräftigen ohne jede Einschränkung, dass Alle und Alles
abhängig sind vom Erfolg des Unternehmerinteresses,
halten strikt daran fest, dass auf den deswegen alles
ankommt – Die SPD will, dass Unternehmen erfolgreich
sind und Gewinne machen…
–, bestehen dabei aber
ebenso hartnäckig auf dem Dogma, dass es beim
erfolgreichen Gewinnemachen mitnichten um den
Zweck der ganzen Wirtschaftsweise, sondern in
Wahrheit und letztendlich bloß um die unerlässliche
Bedingung für das Lebensglück der ganzen
restlichen Mannschaft ginge: … denn das ist die
Voraussetzung für Arbeit und Wohlstand
(Müntefering, FAZ, 19.4.). Wenn
sie um des Kapitalerfolges willen die Leute ein
ganzes Stück ärmer gemacht haben, dann für genau diesen
grundguten Zweck: Arbeit und Wohlstand für alle!
Umgekehrt hat die Koalition mit ihrer Politik der
Verelendung das Ihre zur Sicherung und Mehrung des durch
Arbeit zu verdienenden Wohlstands getan; mehr und
Besseres geht überhaupt nicht dafür zu machen: Ab jetzt
liegt es an „der Wirtschaft“, die Gewinne, für die die
Regierung alles zurechtgemacht hat, auch zu machen und
Leute dafür arbeiten zu lassen. Die Regierung hat ihren
Job als Vermittler
der berechtigten
Interessen
von Kapital und Arbeit erledigt; jetzt
müssen Kapital und Arbeit zu den regierungsamtlich
verordneten Bedingungen zueinander finden – zu
Bedingungen, für die die regierende Sozialdemokratie
ihrer eigenen Selbsteinschätzung nach durchaus ein
kleines Dankeschön von Unternehmerseite verdient hätte.
Die sieht das allerdings ein wenig anders. Ob und wie
viele Arbeitsplätze sie „schafft“, ist tatsächlich einzig
und allein eine Frage ihrer Kalkulation, nicht
die irgendwie einzufordernde Folge verbesserter
Kalkulationsbedingungen; darüber ist sach-
und fachgerecht zu entscheiden, also rein nach
Rentabilität und ganz bestimmt nicht danach, ob mehr
Arbeitsplätze der Regierung gelegen kämen. Und schon gar
nicht ist für Kapitalisten die Pflege ihrer Anliegen
seitens der Politik eine Gunst, für die man dankbar zu
sein hätte: So etwas ist pure Selbstverständlichkeit,
Dienst am gemeinen Wohl, das ohnehin mit dem der
„Wirtschaft“ zusammenfällt. Insofern können
Kapitalisten gar nicht irgendein Augenmaß
verlieren
, wenn sie mit nichts zufrieden sind, immer
mehr Förderung ihrer Anliegen einfordern und mit ihren
ständigen Mängelrügen die Regierung in Verlegenheit
bringen: Genau mit solcher Maßlosigkeit setzen sie die
Maßstäbe für das einzig wahre Gemeinwohl, an denen die
Politik und der Rest der Gesellschaft sich zu bewähren
haben.
*
Aus der ersehnten Flut von neuen Arbeitsplätzen wird also
nichts; der Ruf der Regierungsparteien als
erfolgversprechende Lenker der nationalen Geschicke
leidet unter diesem Misserfolg und unter den offensiven
Anschuldigungen „der Wirtschaft“, in Berlin ließe man es
nach wie vor an der nötigen Fürsorge für die wahren
Diener des gemeinen Wohls fehlen. Darauf
reagiert die SPD-Führung mit dem Versuch eines
Befreiungsschlages, der die Schuldfrage
hinsichtlich der bestehenden Wachstumsschwäche
und
der Lage am Arbeitsmarkt
klären und damit auch das
geschwundene Ansehen der Sozis bei den kleinen
Leuten
sanieren soll, die sich von den Genossen
der Bosse
– wie Wahl-, Parteien- und andere
demokratische Forscher den Sozialdemokraten seit längerem
zu bedenken geben – durch die jahrelangen Reformen am
Standort einseitig benachteiligt sehen. Die Parteispitze
gibt ihrer Empörung darüber Ausdruck, dass sie mit ihrem
prokapitalistischen Einsatz die verdiente
Wahlkampfunterstützung der Arbeitgeber nicht bekommt,
weder in Form von Arbeitsplätzen noch in Gestalt von
warmen Worten. Ihre Beschwerde über diese Gemeinheit legt
sie ausgerechnet dem Proletariat vor, das die
ungemütlichen Folgen dieses Einsatzes dauernd auszuhalten
hat: Ihre alte Wählerschaft soll einsehen, wie ungerecht
es wäre, jetzt von der regierenden Sozialdemokratie
abzufallen. Ihre Verarmung war nämlich ausgesprochen gut
gemeint; eben als Vorleistung in einem
Dreiecksgeschäft im Interesse aller und vor allem zu
ihren Gunsten. Die Verbilligung des Personals am
Standort sollte der Wirtschaft
auf die Beine
helfen, die sollte dann wieder ihrem eigentlichen Beruf –
der Schaffung von Arbeitsplätzen – nachgehen, und der
Staat hätte auch seinen Vorteil vom Rückgang der
Arbeitslosigkeit: geringere Sozialkosten, mehr Einnahmen
und zufriedene Wähler. Nun stellt sich einmal mehr
heraus, dass schleppendes Geschäft sowieso kein Grund für
mehr Arbeitsplätze am Standort D ist. Gute
Unternehmenszahlen
sind aber auch noch lange kein
hinreichender Anlass für Neueinstellungen, sondern werden
stattdessen häufig noch besser durch weitere
Rationalisierung, Entlassungen und Betriebsverlagerungen.
Und die Arbeitsplätze, die es gibt, werden von den
Arbeitgebern immer mehr selbst als der schönste Lohn
betrachtet, also immer schlechter bezahlt. So hat sich
das Gemüt der benützten wie der nicht gebrauchten
Geringverdiener im Land nicht wesentlich aufgehellt.
Münteferings Anliegen ist es nun, die Sprachregelung
durchzusetzen, dass die Regierung nur für einen guten
Zweck und nur angesichts alternativloser
Sachnotwendigkeiten
alles für die (inter)nationale
Kapitalistenmannschaft getan habe, diese aber mit
ihrem Beitrag zu dem gut geplanten Deal übel in
Verzug sei. Sie lasse dadurch Sinn und Zweck der
Reformpolitik scheitern und bleibe die Gegenleistung für
die Verarmung der Bevölkerung schuldig. Die hat deswegen
keinen Grund zum Groll gegen die SPD, auch nicht gegen
die wohlgeratenen Exemplare unter den Kapitalisten,
die einem hohen unternehmerischen Ethos folgen
(Steinbrück, SZ, ebd.), umso
mehr aber gegen die anonymen, angloamerikanischen
Heuschrecken des Finanzkapitals.
Konsequent orientiert sich deswegen auch der Kanzler
streng an den moralischen Bedürfnissen der Opfer seiner
Reformpolitik, wenn er sich zum Sprecher derer macht,
die, dauernd von der Regierung in die Pflicht genommen,
nun auch einmal von den Ackermännern und Konsorten eine
Leistung für die Gesellschaft
sehen wollen. Wie
seine Parteigenossen knüpft er an den volkstümlichen
Idealismus der Abhängigkeit an, der von politischen
Führern und Wirtschaftskapitänen
erwartet, die Nöte der Minderbemittelten zu regeln. Der
Unmut, den das Scheitern dieser zutraulichen Erwartung
hervorruft, muss derzeit dringend von der SPD ab- und zu
den wahren Verantwortlichen
hingelenkt werden.
Deswegen bietet sich der Kanzler als fordernder
Fürsprecher dieser untertänigen Enttäuschung an: Unter
Berufung darauf, dass er den deutschen Gehaltsempfängern
gerade 4,5 Milliarden Euro für die Senkung von
Lohnzusatzkosten
von ihrem Lohn abgenommen hat,
hofft
der Kanzler, dass dies bei den Betrieben
auch bemerkt
werde, und verlangt eine angemessene
Antwort
der Unternehmer: Diese dürften nicht
Verlagerungsandrohungen sein, sondern die Vornahme von
mehr Einstellungen
(Schröder,
FAZ, 20.4.). Und er beschwert sich, wenn das
unterbleibt, ganz im Sinne Münteferings darüber, dass
derzeit Teile der Unternehmerschaft ihn und sein Volk
einfach hängen lassen. Das ist ihm Anlass für ein Lob der
patriotischen Einstellung der Arbeitnehmerinnen und
Arbeitnehmer, die er sich in diesem Umfang auch auf der
anderen Seite wünschen würde.
(ebd.)
*
So überzieht die SPD unter Müntes Führung das
unfreundlich-freche, jedes gute Wort verweigernde und
damit wenig förderliche Benehmen der
herrschenden Klasse gegenüber ihrer dienstfertigen
Regierung, die so scharf wäre auf öffentliche Anerkennung
aus dem Lager der Kapitalisten, mit ihrem aktuellen
Vorwurf: Manche aus dem Lager der Unternehmer nähmen
alles mit, was ihnen die Politik auf Kosten der
Geringerverdienenden hinschiebt, und dann wären sie auch
noch undankbar. So sähen sie typischerweise aus, die
Auswüchse des Kapitalismus
, die man zusammen mit
dem guten Volk bekämpfen
müsse.
Die Kritik an den Auswüchsen
des Kapitalismus
gehört schon seit Urzeiten zum Programm der SPD und hat
den Kapitalismus selbst schon immer gut aussehen lassen:
Wenn das Schlimmste an ihm sein soll, dass er zu
Auswüchsen
fähig ist, dann kann er so schlimm
nicht sein, solange er von sozialdemokratischen Gärtnern
gewissenhaft beschnitten wird. Die Zeiten sind allerdings
vorbei, in denen die SPD den Kapitalismus damit
kritisierte, dass er beim rücksichtlosen Fertigmachen der
Lohnarbeiter die soziale Frage
nicht so würdigte,
wie sie das für den Bestand von Staat und Gesellschaft
für wichtig hielt. In Erinnerung geblieben ist der
früheren Sozialstaats-Partei immerhin, dass es auch heute
noch auf das Soziale
ankommt; und das ist
inzwischen, im Zeitalter der globalisierten
Arbeitslosigkeit, das, was Arbeit schafft
.
Deswegen kritisiert sie heute scharf die Kapitalisten,
die unnötig und mutwillig Arbeitsplätze
vernichten und sich nicht, wie etwa die SPD in den
Jahrzehnten des Strukturwandels
in NRW, darauf
beschränken, nur so viele Arbeitslose zu schaffen wie
unbedingt nötig. Wenn dann die Unternehmer alle
Vorleistungen
rot-grüner Politik einfach
einkassieren, rücksichtslos mit der wahlentscheidenden
Arbeitslosenstatistik umgehen und ihrerseits die
Regierung kritisieren, dann ist er fertig, der moderne
Auswuchs des Kapitalismus
.
Als ideologischer Ertrag dieses Kritikwesens bleibt
jedenfalls, dass ein Kapitalismus ohne die von
Müntefering gerügten Eigenheiten, den man so
gemütlich-verlogen wieder einmal den rheinischen
(Steinbrück, SZ, ebd.) nennt
(im Unterschied zu dem angloamerikanischen
für
Raubtiere
), inklusive Hartz-IV eine wirklich feine
Sache ist. Und außerdem eröffnet man mit dieser Kritik
ein gemeinsames Lager aller, die zusammen mit
Müntes SPD jene gegeißelten Auswüchse bekämpfen
.
Aus den 74% Zustimmung zu solcher
Kapitalismuskritik
im Politbarometer hofft die SPD
möglichst viele Prozente zu Wählerstimmen umzuschmieden,
und setzt auf die, die als getreue, bescheidene,
nationale Dienstnaturen bereit sind, sich
nicht etwa darüber aufzuregen, was man ihnen
antut, sondern darüber, dass nicht ausreichend
gewürdigt und statt dessen mit
Frechheit quittiert wird, was sie alles schon
freiwillig für den Aufschwung hergegeben haben.
Diese Würdigung fordert die SPD für ihre Wähler ein:
Genau darin besteht ihr moderner Wahlkampf in der
Abteilung Kapitalismusdebatte
.
Da haben dann auch einmal wieder die Linken in der SPD
ihren Auftritt: So als hätte Müntefering nicht eine auf
Wahlkampfwirkung berechnete bodenlose Beschwerde
vorgetragen, sondern Maßnahmen
gegen die
wachsende Macht des Kapitals
angekündigt,
verlangen sie nun, dass Taten
baldmöglichst den
Worten folgen müssten. Damit leisten sie getreulich
ihren Beitrag zur sozialdemokratischen Kampagne:
Sie stehen dafür ein, dass Müntes Schelte eben mehr als
bloßes Wahlkampfgetöse sei. Der lässt sich nicht lumpen
und kündigt gleich konkrete Maßnahmen … im Kampf gegen
die Auswüchse des Kapitalismus
an (t-online-nachrichten, 4.5.): Mit der
Öffnung des Entsendegesetzes für alle Branchen
und
einem Plädoyer
für einheitliche Steuersätze in
Europa
tritt er an zum Kampf gegen die Auswüchse der
innereuropäischen Lohn- und Steuerkonkurrenz, die die
hauseigenen Lohnsenkungsprogramme und Steuerreformpläne
stören; und auch mittels der Veröffentlichung von
Managergehältern
und der besseren Versorgung von
kleinen und mittleren Unternehmen mit Krediten
(ebd.) wird er den
Spekulanten wuchtige Schläge verpassen. Erst recht, wenn
sich die kämpferische Klasse der Konsumenten von
der schwäbischen Ute Vogt zu Käuferstreiks
anstacheln lässt gegen Firmen, die in großem Stil
Leute entlassen
(t-online-nachrichten, ebd.). Wenn denen
dann niemand mehr etwas abkauft, werden sie bestimmt in
großem Stil Leute einstellen. Das wird die Heuschrecken
schrecken!
*
All diese Umtriebe der sozialdemokratischen Konkurrenz
hält das konservative Lager für rundum extrem unpassend.
Auch wenn das Manöver um die Auswüchse des
Kapitalismus
am Ende nichts als ein ideologisches
Schönreden des freien Marktwirtschaftens ist: Die mit den
Ausdrücken der abservierten Linken daherkommende
Tour der SPD können die christdemokratischen
Fans dieser Wirtschaftsordnung einfach nicht leiden. Die
Schadensfälle dieser Ökonomie zu benennen, ist
eine Sache und keineswegs unüblich. Sie aber in
irgendeinen kausalen Zusammenhang mit dem Wirken
unserer Kapitalisten
und unseres
Kapitalismus
zu bringen, ist eine andere, durch und
durch böse Sache, auch wenn der von Münte & Co behauptete
Zusammenhang noch so bescheuert und antikritisch ist. Den
Versuch, die eigene politische Haut dadurch zu retten,
dass man sich in die Pose des Systemkritikers
wirft, finden sie einfach unanständig. Die Christenunion
inszeniert deswegen eine heuchlerische Aufregung über die
von Müntefering benützten Wörter. Selber geübt
seit Geislers Zeiten im Besetzen von Begriffen
,
versucht sie, Müntes Kapitalismuskritik zu skandalisieren
und daraus einen Wahlkampfschlager für sich zu machen.
Weil sie sich selbst mit dem Niederen in der Politik gut
auskennt, fällt ihr die Feststellung nicht schwer, dass
solche Geschäfte mit den Ängsten der Menschen zu
betreiben, diese parteipolitisch auszunützen, das
Niederste (ist), was ein Politiker tun kann
(CDU/CSU Fraktionsgeschäftsführer
Röttgen, SZ, 20.4.). Korrekt geht die Erinnerung
an die Geschädigten des kapitalistischen Wirtschaftens
und ihre Ängste
: nämlich nur so: als Kritik am
Versagen der regierenden Konkurrenzparteien, die
die Verantwortung dafür nicht übernehmen und sie
stattdessen allen anderen, und am Ende sogar dem System
anhängen wollen, dessen segensreiches Wirken sie an der
Regierung nicht zu organisieren wissen. Solches Versagen
lassen die nach Regierungsverantwortung lechzenden
Mannschaften der CDU/CSU nicht durchgehen, und schon
gleich nicht, dass sich die sozialdemokratischen
Verursacher allen Elends, die es
einfach
nicht können, sich auch noch an die Spitze der durch ihre
Inkompetenz Geschädigten stellen.
Also missdeuten sie Müntefering und die Seinen und rennen
mit Hurra das von der SPD aufgerissenen Scheunentor zur
Verteidigung der Marktwirtschaft noch einmal ein. Die
vorwurfsvollen Töne, die die SPD bei ihrem antikritischen
Bekenntnis zum Kapitalismus aus Wahlkampfgründen für
angezeigt hält, nehmen sie als Angriff auf unser freies
Wirtschaften, werfen sich schützend davor und ersuchen
den Wähler, vorerst den in NRW, um den Auftrag, den
Standort zu retten. Sie wissen nämlich manchen Fall, wo
investitionsfreudige Hedge- und Private-Equity-Fonds
insolvente Firmen durch Aufkauf gerettet
haben
sollen, wo ohne späteres ertragreiches Ausschlachten und
Zerschlagen aufgekaufter Firmen noch viel mehr
Arbeitsplätze zuschanden geworden wären; nebenbei
erinnern sie, unterstützt von seriösen Redaktionen, an
Geschäfte von SPD-Regierungen mit den von Münte
verfluchten Heuschrecken-Investoren und plädieren
leidenschaftlich dafür, nur ja nicht zu vergessen, dass
es die Kapitalisten sind, die Arbeitsplätze schaffen,
indem sie ihr gutes Geld riskieren, ohne sich unnötig den
christdemokratischen Kopf darüber zu zerbrechen, wer sie
eigentlich in so großer Zahl vernichtet. Schaudernd
stellen sich CDUler vor, welch abschreckendes Bild der
deutsche Standort bei den internationalen
Arbeitsplatz-Stiftern mit den dicken Geldbörsen abgibt,
wenn linke Ideologien
hierzulande regierungsseitig
verbreitet werden, und behaupten entsetzt in historische
Abgründe zu blicken: Kauft nicht bei Juden!
habe
es schon einmal in Deutschland geheißen, und die
Unternehmer dürften nicht die neuen Juden werden! Die
politisch hochanständige Warnung Wehret den
Anfängen!
haben Linke und Demokraten eben nicht
gepachtet; dazu ist man, aus von Münte gegebenem Anlass,
auch als gestandener rechter Bundeswehrwissenschaftler im
Stande:
„60 Jahre nach Kriegsende werden heute wieder Menschen mit Tieren gleichgesetzt, die … als Plage vernichtet, ausgerottet werden müssen. Diese Plage nennt man heute Heuschrecken, damals Ratten oder Judenschweine.“ (M. Wolffsohn, T-Online-Nachrichten, 3.5.)
Den Kapitalismus kritisieren gehört sich nicht;
schließlich hat er gesiegt und damit alle
anderen konkurrierenden Gesellschaftsmodelle
auch
gleich unwiderleglich widerlegt. Kapitalisten
kritisieren gehört sich aber erst recht nicht: Da gab’s
doch schon mal einen, der – Deutsche Bank hin, IG Farben
her – gewisse Kapitalisten nicht leiden konnte, dann zwar
weniger die, als ein paar Millionen eher einfache Leute
ausgerottet hat, wissenschaftlich gesehen aber leicht als
Kronzeuge gegen Münte herhalten kann: Wer einem
ehrenwerten Profitmacher etwas Schlechtes nachsagt,
unterwegs ist zum Antisemitismus und vernichtet demnächst
Andersdenkende!
*
Die angegangene Unternehmerschaft ihrerseits zeigt
nachdrückliches, aber maßvolles Entsetzen über die
Kapitalismuskritik der SPD
(FAZ,18.4.). Sie ruft die SPD zur
Besinnung auf
(FAZ,
20.4.) und warnt die Regierung, zart besaitete
Hedge-Fonds-Manager könnten sich so sehr vor Münte
erschrecken, dass sie womöglich das Investieren
einstellen, was außerordentlich schädlich für den
Standort Deutschland wäre
(ebd.). Arbeitgeberpräsident Hundt findet
die ganze Debatte zum Kotzen
und verlangt, die SPD
solle wieder auf den richtigen Weg der Agenda 2010
zurückkehren.
Wenn es aber schon eine Kapitalismusdebatte
gibt,
dann machen Kapitalisten auch mit und wollen
selbstverständlich selbst bestimmen, was dabei
herauskommt: ein Kompliment natürlich, und das hat sich
der Laden verdient, wie er alternativlos
geht und
steht, ohne dass es irgendwelcher Beschönigungen
bedürfte. Deswegen treten einige fröhlich an die
Öffentlichkeit, begrüßen
die Debatte und teilen
mit: Ich bin gern Kapitalist – in unserer sozialen
Marktwirtschaft
, weil es sich beim Kapitalismus eben
um eine zutiefst menschliche
und zutiefst
demokratische Ordnung
handelt, zu der es keine
Alternative
gibt, weshalb wir mehr und nicht
weniger Kapitalismus brauchen
(der Vorstandsvorsitzende der BASF, SZ,
6.5.). Solche Frohnaturen denken nicht daran, sich
das Etikett für die Ordnung ihres Vorteils, das sie sich
gerade erst von den kommunistischen Denunzianten
zurückerobert haben, wieder madig machen zu lassen. Sie
bestehen darauf, dass das Kapitalistische
selbst
der Ehrentitel der sozialen Marktwirtschaft ist; eine
Dekoration durch das Soziale
hat der Kapitalismus
jedenfalls nicht nötig.
Die mitregierenden Unternehmerverbände der Nation gehen
ganz selbstverständlich davon aus, dass sie einen
Anspruch auf mehr Kapitalismus
haben: auf
mehr Lohnsenkung, mehr Sozialreform und mehr
Geschäftsförderung am Standort. Und das fordern sie von
der Regierung ein. Deren Bedürfnis nach Anerkennung ihrer
bisherigen politischen Vorleistungen
rührt sie
insofern wenig und ist aus ihrer Sicht auch höchst
ungerecht: Sie finden das alles einfach ein bisschen
wenig, was da bisher passiert ist. Und den Wunsch, trotz
dieses Mangels der Regierung dennoch mit den gewünschten
Komplimenten zu kommen und auf Optimismus zu machen, nur
damit die vor ihren Wählern besser dasteht, sehen sie
schon gleich nicht ein. Dafür, der SPD zuliebe die
nationale Bilanz aus Sicht des Kapitals zu schönen,
wissen sie keinen Anlass. Wozu auch, wenn die Union und
die FDP zur Regierungsübernahme bereitstehen, mit
Programmen, die ihnen recht sind. Sie haben auf ihre
eigene und nicht auf die Rendite des Staates
(Steinbrück) zu sehen. Wenn
der Regierung ihre eigene nicht ausreicht und sie mehr
von der der Geschäftswelt auf deutschem Boden, unter
Verwendung der deutschen Arbeiterklasse, abkriegen will,
dann – bitteschön – steht es ihr ja frei, hierzulande die
Investitionsbedingungen
zu verbessern, wie es die
Unternehmer schon immer fordern. Insofern können sie
Probleme im Verhältnis der herrschenden Klasse zu ihrem
regierenden politischen Ausschuss schon bestätigen. Bloß
beantwortet sich die Schuldfrage für sie genau
andersherum als so, wie die SPD sie in Umlauf zu bringen
gedachte: Die Regierungsparteien kommen ihrer Pflicht,
ihren Kapitalisten das Feld zu bereiten, nicht so nach,
wie die es von ihnen erwarten können. Ihr Gewerbe ist
prinzipiell unkritisierbar, ihre Ethik
rundum makellos.
*
So kommen am Ende die Kritiker und die vermeintlich
Kritisierten, ohne ihre Debatte
beenden zu müssen,
zu einem gemeinsamen Ergebnis: Die einen halten den
Kapitalismus hoch, weil er, wenn man von seinen
Auswüchsen
absieht, einfach gut ist. Die anderen
sagen das sowieso schon immer, bestreiten aber der SPD
entschieden das Recht, sich irgendwelche Kritik an ihrem
Geschäft und ihren Klassengenossen auszudenken, nur um in
den Genuss zu kommen, das schöne System weiter zu
regieren. Gemeinsam sorgen sie immerhin dafür,
dass der Kapitalismus selten einen besseren Ruf hatte als
zu Zeiten der Kapitalismusdebatte.