Die Moral auf dem Vormarsch – die Patrioten machen mobil

Von der subjektiven Leistung des moralischen Individuums. Mit Anstand und Erfolg ganz frei und modern zur subjektiven Unterwerfung unter die gewaltmäßig eingerichteten Gesetze und Regeln des bürgerlichen Staates. Die Fortschritte der modernen Gesinnungswirtschaft.

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Die Moral auf dem Vormarsch – die Patrioten machen mobil

Einen Gegenstandpunkt vertreten, der seine praktische Parteinahme mit objektiven Urteilen begründet – über die Auffassungen anderer Leute wie über die Geschehnisse in Stadt und Land –, ist normalerweise alles andere als die schlichte Behauptung des Gegenteils. Gewöhnlich hilft die Negation des gesprochenen und gedruckten Unsinns, die energische Beteuerung des umgekehrten Befunds, der Wahrheit nicht auf die Sprünge. Mit der Umkehrung von so epochemachenden Weisheiten wie: „Es geht um die Glaubwürdigkeit der deutschen Außenpolitik“, „Deutschland ist ein ausländerfreundliches Land“, „Die Serben verletzen in Bosnien die Menschenrechte“, „Die Regierung unterstützt den Reformprozeß in Rußland“, „Niedrige Löhne schaffen Arbeitsplätze“ etc. sollte man es lieber nicht versuchen. Die Urteile, die da herauskommen, sind nämlich so verkehrt wie ihre Vorlage.

Ausnahmen gibt es freilich schon. Wenn sich in diesem unserem Land angesichts wirklicher wie eingebildeter Mißstände aller Art die kritische Sentenz durchgesetzt hat, daß Deutschland und seine Bürger unter einem erheblichen Mangel an Moral leiden, so ist in diesem Fall genau das Gegenteil richtig. In diesem Gemeinwesen mit seinen Arbeitslosen, seiner standörtlichen Zukunftssicherung, den Zerwürfnissen zwischen „Ossis“ und „Wessis“, mit seiner Stasi-Säuberung, seiner alltäglichen Brutalität gegenüber Ausländern, mit seinen zur weltweiten Friedenssicherung berufenen Soldaten und seiner Solidarität zwischen Gut-, Besser- und Garnichtsverdienenden kann von einem Verfall der Werte nicht die Rede sein. Vielmehr verzeichnet die schwarz-rot-goldene Gesellschaft – von ihren mächtigen Eliten über ihr partnerschaftlich tätiges Sozialwesen bis hinunter in den letzten gewalterfüllten Provinzschulhof – einen ziemlichen Überschuß an Moral und eine hemmungslose Orientierung an Werten.

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Das wird zunächst all denen, die sich aufgeregt mit den Entgleisungen anderer herumschlagen – Regierende und Regierte sind sich da übrigens ebenbürtig – nicht recht einleuchten, wenn nicht gar absurd vorkommen. Dabei zeugt schon der Eifer, mit dem sie die Verfehlungen ihrer Zeitgenossen quer durch alle Stände unter Anklage stellen, davon, wie groß der Bedarf an der Einhaltung guter Sitten ist. Es vergeht schließlich kein Tag, ohne daß Minister und Beamte einer Pflichtverletzung überführt werden, ohne daß Solidarität mit Arbeitslosen, Zonis, Behinderten, Ausländern – eben mit Opfern unseres untadeligen Systems – eingeklagt wird; der demokratische Kult des Opfers, das Respekt und Fürsorge verdient, hat sich nicht nur im Geschwätz von der „Betroffenheit“ der „Betroffenen“ und gar nicht Betroffenen ein Sprachdenkmal geschaffen, ohne das heutzutage keiner mehr zum Abitur oder in die Talkshow kommt. Er erstreckt sich längst auf verunglimpfte Soldaten und Politiker, auf den Planeten Erde alias „Umwelt“, auf ebenso kreuzbrave wie strohdumme, reaktionäre Frauenzimmer, auf den deutschen Fußball und das höchste Gericht, schließlich auf alles und jedes, was im bürgerlichen Gegeneinander mit seinen bescheuerten Entartungen der alten Rollen von Herr und Knecht für Miteinander, für eine gemeinsame Sache steht. Unter dem Eindruck, daß es wohl nicht ohne ein gewisses Quantum von Opfern unter den ungefiederten Zweibeinern abgehe, sind sensible Dichter und Denker seit geraumer Zeit damit beschäftigt, ihren Humanismus in sprachlichen Verbeugungen vor den Geschundenen und Zukurzgekommenen auszuleben. Im Namen der „political correctness“ vergattern sie sich und andere auf neue Bezeichnungen für alle Subjekte, die unter die Räder des Welthandels und seiner Weltordnung kommen. Damit wollen sie den Opfern die Reverenz erweisen, die ihnen gebührt; und als ob solche Schönfärberei die Wunderkraft besäße, irgendein Leid ungeschehen zu machen, erklären sie die Rede, die sich der überkommenen Namen bedient, nicht nur für „leichtfertig und zynisch“, sondern auch für den halben bis ganzen Grund der Übel. Daß die Pose des unerträglichen Mit-Leidens nicht gerade an Wahrhaftigkeit gewinnt, wenn sich Gewalt und Ausbeutung zum Problem sprachlicher „Diskriminierung“ verflüchtigen; daß sich für den Begriff der Herrschaft und ihrer notwendigen Konsequenzen herzlich wenig interessiert, wer angesichts des in Fahrt gekommenen Rassismus beschließt, nicht mehr „Neger“ oder „Türken“ zu sagen, fällt den Sprachbereinigern schon gar nicht mehr auf. Sie widmen sich dem leicht luxuriösen Geschäft hochanständiger Wortwahl, das – welch ein Sieg! – neben dem alltäglichen Mord und Totschlag einen ungeahnten Aufschwung nimmt. Diejenigen, die das Pech haben, unter dem Regime von Demokratie und Marktwirtschaft Neger, Türken und Proletarier zu sein und allen Grund haben, sich darüber Rechenschaft abzulegen, können beruhigt sein. Ideell verpaßt ihnen Rita Süßmuth ebenso wie jeder Konzernchef locker eine neue Identität. Deshalb gibt es heutzutage am verkehrten Platz zu viele farbige, ausländische Mitarbeiter und Mitbürger…

Der Ruf nach der Wahrung guter Sitten ertönt jedenfalls sehr kräftig. Er ist sogar fester Bestandteil des deutschen Satire-Magazins, das sich recht und schlecht bemüht, a- und antimoralisch den Standort Deutschland zu karikieren. Noch jeder ernste Wortbeitrag des zuständigen Hausschriftstellers mahnt Werte und Tugenden des höchsten Kalibers an, wobei die geistige Ahnengalerie ausgiebig bemüht wird – ganz als würden sich Geschäft und Gewalt heute an den Idealen von Aufklärung und Abendland blamieren. Während gewöhnliche Menschen schon einmal die in Sonntagsreden breitgetretenen Ideale an ihren werktäglichen Erfahrungen zuschanden werden lassen und „realistisch“ abwinken, ist für Intellektuelle das umgekehrte Verfahren zum Ersatz für Kritik geworden. Statt sich einen Reim auf die Gründe und Zwecke der Zustände und Taten zu machen, die ihnen mißfallen, greifen sie traditionsbewußt auf die Reime zurück, die andere dem Laden angedichtet haben, vor dessen rohen Verkehrsformen so mancher Humanist erschrickt. Das Ergebnis der aufregenden Suche nach Gerechtigkeit und Frieden, Achtung der Menschenwürde und christlicher Nächstenliebe, nach gewissenhafter Pflichterfüllung in hohen wie niederen Ämtern… fällt dann auch entsprechend aus. Politische Herrschaft und kapitalistisches Wirtschaften halten dem moralischen Lackmustest in so gut wie keinem Punkt stand, sämtliche Ideale werden in der Realität verletzt – und vor allem diejenigen, die ihrem Beruf unermüdlich menschenfreundlichste Missionen zuschreiben, lassen keine Gelegenheit aus, ihre und unser aller Prinzipien mit Füßen zu treten. Solange Kritik in der besten aller Staatsformen so ausfällt, braucht das System von Demokratie und Marktwirtschaft wenigstens keine Gegnerschaft zu fürchten. Es besteht ja ohnehin nicht darin, daß sowohl im Innern der Nation mit der Gewalt des Rechts um die Ausschließung von Reichtum konkurriert wird als auch nach außen, gegenüber anderen, ebenso famos konstruierten Gemeinwesen dieselben Werte zählen. Was die mehr oder minder belesenen Moralwachteln stört, sind ja nicht die objektiven Zwecke und die per Herrschaft in Kraft gesetzten Regeln, nach denen Staaten und Unternehmer, Bürger und -Innen Erfolg und Mißerfolg unter sich ausmachen. Sie registrieren unablässig Verstöße und Sünden wider den Geist, von dem sich ihrer Überzeugung nach sämtliche Zeitgenossen leiten lassen müßten. Im Unterschied zu Staats- und Rechtsanwälten messen sie die Taten ihrer Mitmenschen jedoch nicht am Gesetz, um Recht von Unrecht zu scheiden, sondern an einem Codex höherer Art. Von dessen Mißachtung wollen moralische Beschwerdeführer vom Bundespräsidenten bis zum Stammtischbruder künden, sooft ihnen etwas nicht paßt. Schadensmeldungen aller Art sind für sie Ungerechtigkeiten, Pflichtverletzungen, Un-taten. Christliche Politiker treffen unchristliche Entscheidungen, das Sozialministerium entlarvt sich als unsozial, Kriege sind sinnlos und unmenschlich dazu, obwohl weder Königstiger noch Goldhamster je dabei erwischt wurden, wie sie ihre Artgenossen reihenweise umlegten. Um groteske Zuspitzungen, die sich nichtsdestoweniger allgemeiner Anerkennung erfreuen, sind vor allem Politiker nie verlegen: Ein ermordeter Arbeitgeberpräsident ist natürlich ein Anschlag auf die Grundwerte der Demokratie, welche auch im Falle eines erschlagenen Ausländers zum Hauptgeschädigten ernannt wird, wegen „politischer Kultur“…

Gestandene Moralisten – vom Kanzler über die Bild-Zeitung bis ins alternative Lager von ‚konkret‘ – halten ihre aufwendige Rasterfahndung nach sittlichen Defiziten selbstverständlich nicht für die Präsenz von Moral im Lande. Obwohl es so ist, wovon die allgemeine Anerkennung zeugt, die ihre Wertmaßstäbe genießen. Wenn sie von Politikern und Jugendlichen, von Journalisten und Schwangeren, Unternehmern und Gewerkschaften lauter Worte und Taten erwarten, die vor ihrem Tugendkatalog Bestand haben, dann ist die Entdeckung von Fällen klarer Pflichtverletzung nicht nur unvermeidlich, sondern auch beabsichtigt. Und aus der negativen Bilanz ergibt sich für einen engagierten Wächter über die Sitten allemal die aufgeblasene Generaldiagnose vom allgemeinen Verfall, die sich dann auch gerne in ein „Menschenbild“ übersetzt. So stehen heute der christlichen Definition des Menschen als Sünder lauter säkularisierte Varianten desselben Blödsinns zur Seite, die den „Egoismus“ und den unausrottbaren „Materialismus“ der Rasse geißeln. „Wir alle machen Fehler“ – sagt der Kapitän der unterlegenen Fußballmannschaft ebenso wie der Politiker, den sie gerade der Korruption überführt haben. Der vorläufigen Vollständigkeit halber sei allerdings noch erwähnt, daß man sich mit einer gefestigten moralischen Weltanschauung nicht nur selbst zum Zwecke der Entlastung in den Zeugenstand rufen kann. Die Belastung anderer ist ebenfalls möglich und hat wieder Hochkonjunktur. Durch die Beschränkung des Urteils „mit unseren gerechten Normen des Zusammenlebens nicht vereinbar“ auf den Volkscharakter von Ausländern, durch ein differenziertes Menschenbild also, läßt sich ein schlagfertiger Rassismus veranstalten. Andere Sitten – so sehr man ihnen als aufgeklärter Geist auch Respekt zu zollen bereit ist – gewährleisten eben ihrer Natur nach nicht die Erfüllung unserer Reinheitsgebote…

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Damit beschäftigt, das Treiben ihrer Mitmenschen danach zu klassifizieren, ob es sich gehört oder nicht, verlieren die zahlreichen Mitglieder der ständig tagenden Ethik-Kommission die wirklichen Gründe für das Verhalten, das sie billigen oder verwerfen, gründlich aus dem Blick. Daß die Regierung Steuer- und Asylgesetzgebung nicht deswegen ändert, weil sie soziale oder humane Ideale vollstrecken oder mit Füßen treten will, könnten sie zwar wissen – es dürfte schon ums Abkassieren, um die Förderung der Wirtschaft und darum gehen, die Ausländer loszuwerden bzw. fernzuhalten –, interessiert sie aber nicht. Daß Frauen nicht Kinder kriegen oder abtreiben, weil sie sich für oder gegen das „Recht des ungeborenen Lebens“ entscheiden, ist auch kein Geheimnis. Und ein Arbeitsloser holt sein Stempelgeld auch nicht ab, um den gerechten Abstand zum vollen Arbeitslohn herzustellen oder zu unterlaufen. Aus der Perspektive von Moralisten aber sieht es haargenau so aus. Die brennende Frage „Dürfen die das?“ erschlägt jede Suche nach Gründen, die allemal bei den Grundrechnungsarten der famosen Gesellschaft landen würde, bei Notwendigkeiten, die durch Gewalt – das Mittel der Politik – in Kraft und dank demokratischem Procedere zugleich rechtfertigt sind. Ebensowenig verfällt der andere tadelnde Tugendsinn darauf, einen Gedanken auf die Maximen zu verschwenden, an denen sich so mancher Prüfling vom Kanzler bis zum Arbeitskollegen vergeht. Moralische Gesellschaftskritiker stört es nicht im Geringsten, daß sie sich in der Wahrnehmung ihres Richteramtes nur auf ein ‚nomos agraphos‘ stützen, das in der Auslegung seiner Anhänger ebenso oft Zwietracht wie Einheit stiftet.

Diese Unzuverlässigkeit des moralischen Arsenals, mit dem sich mündige Bürger an der Einordnung eigener wie fremder Taten zu schaffen machen, tritt in der Befassung mit öffentlichen wie privaten Affären zutage. Einmal dazu entschlossen, Arbeit für einen Wert und die Schaffung von Arbeitsplätzen für eine Pflicht anzusehen, erleidet die Gemeinde sogleich eine Spaltung in zwei Lager, wenn ein Unternehmer rationalisiert. Die einen bringen eine Pflichtverletzung zur Anzeige und zeihen den Mann der Wirtschaft der „Profitsucht“, die ihn zum rücksichtslosen statt zuvorkommenden Umgang mit dem ihm anvertrauten Personal anstachelt. Ganz nebenbei bringen sie den Profit, immerhin der Zweck des Marktwirtschaftens, auf einen „niederen Beweggrund“ herunter, der der eigentlichen Aufgabe des „Arbeitgebers“ entgegensteht. Die anderen gewahren am Stellenabbau durchaus den gelungenen Versuch, Arbeitsplätze zu schaffen, weil dadurch die übriggebliebenen erhalten werden. Die Rentabilität des Betriebs anerkennen sie locker als Sachzwang, dem sein Eigner ausgeliefert ist, wenn er seinem Beruf des Arbeitgebens nachgeht – so daß ein klarer Fall von verantwortlichem Vorgehen vorliegt. Wer gutes Regieren mit klaren Entscheidungen für sein demokratisches Bürgerrecht hält, dem ist bei der Einschätzung von Politikern die Tugend der „Durchsetzungsfähigkeit“ geläufig – es muß also auch nachgeguckt werden, ob sich beim Gebrauch der Macht nicht Unentschlossenheit breitmacht und alles nur „ausgesessen“ wird. Umgekehrt lassen sich freilich auch mehr Dialogbereitschaft und demokratiegemäßer Wille zu Kooperation und Kompromiß einklagen. Mit der Überzeugung, daß sich Lohn und Leistung allemal die Waage halten müssen, können Gewerkschafter für die beschissensten, dreckigsten und aufreibendsten Arbeiten die niedrigsten Lohngruppen aushandeln; liberale Politiker, die ebenfalls der Meinung sind, daß sich Leistung lohnen muß, halten ihre „besserverdienende“ Klientel für unterbezahlt und überbesteuert. Und Leser der Bild-Zeitung dürfen sich an der Nationalmannschaft und Boris Becker die Beschwerde zueigen machen, daß ihre Idole zumindest dann ein überhöhtes Einkommen beziehen, wenn sie verlieren. Daß ausgerechnet kritische Intellektuelle von ihrer Regierung höhere Intelligenzleistungen einfordern als die einer Birne, zeigt ebenfalls, wie sachfremd und opportunistisch Auswahl und Anwendung der Maßstäbe ausfallen, wenn darüber gerechtet wird, was wem zu- und ansteht. Die Anmaßung, einen Eignungstest am Personal der Macht vorzunehmen, kürzt sich auf einen bescheidenen Antrag zusammen, der die politische Herrschaft im Land von einem klugen Kopf ausgeübt sehen will. Weniger bescheiden führen sich Moralisten dagegen im Alltagsleben gegenüber ihresgleichen auf. Der Anspruch auf menschliches Wohlverhalten, der da anderen entgegengebracht wird, das ausgeprägte Rechtsbewußtsein derer, die als Frau, Nichtraucher, Nachbarn, Autofahrer, Kunde, Hausmeister der Umwelt und – nicht zu vergessen – als Deutscher auf Respekt dringen, mündet da nicht nur in solide Urteile über den minderen Wert der lieben Mitbürger; diejenigen, die das Versagen anderer vor dem, was ihre Pflicht und Schuldigkeit wäre, in ein definitives Charakterurteil übersetzen, schreiten nicht immer, aber immer öfter im Namen der Gerechtigkeit zu Taten…

Wenn deswegen wieder ganz Anständige aus allen Ecken der gesellschaftlichen Hierarchie den Ruf nach Toleranz ergehen lassen, dessen Befolgung sie mit der Wiederbelebung der auf der Strecke gebliebenen Moral verwechseln, ist das „Nest gedankenloser Widersprüche“ komplett. Und außerdem liegt der Beweis vor, daß moralische Gesellschaftskritiker gar nicht wissen, wie Moral geht. Da die Behauptung, daß es auf dem Feld des menschlichen Anstands und des gewissenhaften Zusammenlebens eher übertrieben als defizitär zugeht, nicht mit der Gesinnungswirtschaft des Standorts Deutschland kompatibel ist, versuchen wir es auch einmal mit einem kleinen Rückgriff auf Überliefertes.

Einige alte, aber richtige Gedanken darüber, wie Moral geht

Lange vor der Wiedervereinigung hat sich Hegel mit der Sache befaßt, und im Unterschied zu anderen Philosophen, die bis heute als „Aufklärer“ verehrt werden, weil sie Moral gepredigt haben, ist ihm eine Erklärung gelungen. Andererseits hat er sich nicht mit der Darlegung der Notwendigkeit begnügt, mit der so grandiose Verstandesleistungen wie der Satz „Das ist unverantwortlich!“ zustandekommen, mit der Willensleistungen wie eingestandenermaßen nutzlose Spenden für immer mehr Elendsgestalten Einzug in den bürgerlichen Alltag halten. Er hat das moralische Treiben auch noch befürwortet, weil er dessen Bedeutung für den Erhalt des bürgerlichen Staates und den Zusammenhalt der von ihm beherrschten Gesellschaft schätzte. Drittens ist ihm schließlich noch aufgefallen, daß die moralische Gesinnung, jene für den kapitalistischen Laden unentbehrliche Grundausstattung der Staatsbürger, „immerzu auf dem Sprung ist, ins Böse umzuschlagen“. Davor hat er gewarnt.

1. Wenn ein gigantisches Medienwesen jede Menge Wortmeldungen aus buchstäblich allen Ecken der Gesellschaft fördert – die Regierung hat zwar ihre garantierte Redezeit, aber auch Boxer, Knastbrüder und die Jugend dürfen das Ihre meinen –, wenn dann immer weniger von Interessen die Rede ist, dafür umso mehr von berechtigten Interessen, dann herrscht Freiheit. Das wohlorganisierte Stimmengewirr bezeugt jedenfalls die Abwesenheit von Despotismus, jenes Alptraums aller Demokraten und Orwell-Leser; verbindliche Festlegungen dessen, was einer zu tun und zu denken hat, gibt es in diesem Staate nicht. Andererseits ist dem vielfältigen Streit, der in allen Lautstärken abgewickelt wird, eine gewisse Kultur nicht abzusprechen, die das Abgleiten der Auseinandersetzungen um die Belange der einen, denen die anderer entgegenstehen, in ein anarchisches Hauen und Stechen verhindert. Diese Kultur wird nicht nur in der Tätigkeit von Moderatoren sichtbar, von schiedsrichternden Persönlichkeiten aus der Politik, Wissenschaft und den diversen Redaktionen, welche sich bei allen widerstreitenden Meinungen und Forderungen mit der Frage ihrer Zulassung befassen. Die Abwägung, ob die vorgetragenen Anliegen auch Anerkennung verdienen, ob ein Interesse nicht nur vorhanden, sondern auch billig ist, macht einen wesentlichen Bestandteil demokratischen Meinens und Forderns aus. Da findet sich so schnell niemand, der seine Ansprüche oder Beschwerden nicht ausdrücklich, nicht nachdrücklich als den „Regeln des Rechts und der Pflicht“ gemäß vorbringt. Ohne die Überzeugung, „welche etwas für recht hält“, also für keinen Verstoß gegen auch von anderen geteilten Maßstäben, läuft da gar nichts. Diese Art des Urteilens und Dafürhaltens, die dann auch zu allerlei eigentümlichen Handlungen beflügelt, stellt die Elementarform der Moral dar, deren Betätigungsfeld eine Vielfalt von alltäglichen, für normal angesehenen Leistungen von wichtigen Personen wie von Statisten ebenso einschließt, wie sie zu Exzessen anstachelt, vor denen sämtliche Moralisten dann pflichtschuldigst erschrecken.

a) Daß das Gutheißen oder Verwerfen von Handlungen am Recht Maß nimmt, welches von Staats wegen die erlaubten Wege, nach Gut und Glück zu streben, von den verbotenen scheidet, ist offensichtlich. Wer sich die Mühe macht, gute Werke von bösen Taten zu unterscheiden, wird allemal zuerst als juristischer Amateur tätig und fragt, inwieweit die Befolgung der Gesetze oder ein Verstoß gegen sie vorliegt; wenn jemand durch die Verletzung des Rechts sich Vorteile verschafft und andere schädigt, hat er nicht nur die Justiz gegen sich – er verspielt auch die Anerkennung aller rechtschaffenen Bürger. Diese Spezies begnügt sich nicht damit, die Regeln, nach denen sie regiert und benützt wird, als äußeren Zwang zu akzeptieren und im Rahmen des Erlaubten auf einen grünen Zweig zu kommen. Sie erwirbt sich die Gewohnheit des Willens, sich der Gewalt des herrschenden Rechts zu beugen, durch eine Verstandesleistung eigener Art. Als Bedingung dafür, daß sie nach Kräften ihren Interessen nachgehen kann, gewinnt sie dem obrigkeitlich verfügten Regelwerk ziemlich positive Qualitäten ab – ihm Genüge zu tun garantiert schließlich die Betätigung in allen möglichen Gewerben, zumindest in dem, in das es einen verschlagen hat. Die Einsicht in den Nutzen der Beschränkungen, die das Recht durchaus mit sich bringt, ist endlich unvermeidlich, wenn der Blick über den eigenen Tellerrand hinausschweift und gewahrt, wie sehr man auf die Einhaltung der Gesetze durch andere angewiesen ist, sooft man sich um Erwerb und Genuß bemüht. Deshalb verlegt sich der gesunde Menschenverstand des berechnenden Untertans darauf, den Respekt vor den Verkehrsformen, welche die öffentliche Gewalt gebietet, zum eigenen Bedürfnis zu erklären. Zum rechtschaffenen Menschen qualifiziert sich jeder, indem er die objektiven Vorschriften für den gesellschaftlichen Umgang der Bürger miteinander zu seinem Recht verklärt, sie „verinnerlicht“. Wobei „verinnerlichen“ eben nichts weiter bedeutet, als sie sich zueigen zu machen, ihre Einhaltung und deren Überwachung zu fordern, sowie zu demonstrieren, daß man dieses Recht durch das eigenen Wohlverhalten beanspruchen darf.

b) Durch die Einsicht in die Notwendigkeit, daß ein gelungenes Zusammenleben auf der von allen praktizierten Tugend der Selbstbeschränkung beruht, machen sich mündige Bürger zwar ziemlich prinzipiell gemein mit der Herrschaft, der sie unterworfen sind. Daß sie den Standpunkt ihrer Obrigkeit teilen und sich zu Nutznießern wie Kontrolleuren von Recht und Ordnung ernennen, verschafft ihnen aber bekanntlich keine Karriere in der Verwaltung, bei der Polizei und Justiz. Vielmehr erschließen sie sich ein weites Feld der Betätigung ihrer Freiheit.

Einmal zu dem Schluß gelangt, daß ihr Wohl wie das anderer damit steht und fällt, daß alle bei der Verfolgung ihrer Interessen Rücksicht üben und nicht ihrer Eigensucht umstandslos nachgeben, nehmen sie die eigenen wie fremden Handlungen unter die Lupe. Und zwar nicht unter Berufung auf die politische Ordnung und das Gesetz – das ist Sache der Rechtspflege –, sondern aufgrund innerster Überzeugungen. Mit der Übernahme des Amtes, das die theoretische Überwachung des Anstandes in der Gesellschaft erledigt, verschafft sich ein rechtschaffener Bürger nämlich auch die Kompetenz über die Maßstäbe, deren Einhaltung er verlangt. Im Reich der moralischen Gesinnung verkehren Persönlichkeiten, die ihre ganz eigenen Auffassungen von allgemein gültigen Normen vertreten. Und geprüft wird an allen kleinen und großen Affären des privaten wie öffentlichen Lebens, in denen sich die Leute mit ihren Interessen in die Quere kommen, sich also auch Vorteile und Schäden ergeben, ob die Absicht der Akteure den in Anschlag gebrachten Gerechtigkeitsvorstellungen entspricht oder nicht. Ob sie als Vollzug einer Gesinnung, die Gutes will, gelten können.

Da die Ausübung dieses komplizierten Handwerks so einfach ist, daß sich jedermann an ihm beteiligt, kommt es in der modernsten aller Gesellschaften zu einem flächendeckenden Dauerstreit in Familie, Arbeitswelt und in der politisierenden Öffentlichkeit. Der Eifer gegen unmoralische Handlungen findet in der Welt der Konkurrenz mit ihren Siegern und Verlierern reichlich Stoff, desgleichen in den Hierarchien der politischen Macht und in den Niederungen des privaten Glücks. Sein Programm sucht ja nicht nach Gründen für die merkwürdige Verteilung von Erfolg und Mißerfolg, Macht und Ohnmacht, sondern stellt die Frage nach ihrer Rechtfertigung. Und wo die einen hinter einem soliden Einkommen eine ebenso solide Leistung ausmachen, entdecken andere überhaupt keine respektheischenden Fähigkeiten und den Gebrauch unlauterer Mittel. Die Gunst von Moralisten gilt dem Erfolg wie dem Anstand, und die Verachtung stellt sich ein, sobald sie eine Tugend ihrer Wahl vermissen. Der Opportunismus, den sie beim Anlegen ihrer Maßstäbe für das, was sich gehört, an den Tag legen, ist zwar unübersehbar – er kommt ihnen aber als durchaus senkrechte Form der Kritik vor. Daß der Fleiß, den sie von jedermann erwarten, bei einem Unternehmer und Politiker ganz andere Leistungen einschließt als bei Arbeitern und Hausfrauen, berührt sie nicht weiter. Daß „korrektes Benehmen“ bei einem Chef der Deutschen Bank ganz andere Werke mit dem Siegel „wohlgetan“ versieht als bei einem Lehrling, ist ihnen selbstverständlich – aber eben nicht wichtig. Daß sie mit ihrem grandiosen Anspruch, alle sollten an ihrem Platz, in ihrer gesellschaftlichen Stellung „ihre Pflicht“ tun, nur mit einem ideellen Abziehbild der Ordnung, die ihnen serviert worden ist, hausieren gehen, heißt für rechtschaffene Bürger eben nur eines: daß sie sich damit das Recht erworben haben, auf die Wahrung des Anstands zu achten – weil sie eben keinen Interessengegensatz leiden können geschweige denn ausfechten wollen. Nicht einmal Politiker sind vor ihren Geschmacksurteilen sicher, Gesetze selbst halten sie bisweilen für ungerecht, und Urteilsschelte zählen sie zu ihren leichtesten Übungen…

c) Die Unzufriedenheit, die sich in der Entlarvung von Untaten, von hinterhältigen Konkurrenzpraktiken, von zwischenmenschlichen Rücksichtslosigkeiten und von Amtsmißbrauch aller Art äußert, ist in zweierlei Hinsicht sehr bescheiden zu nennen. Einerseits gehorcht sie dem Muster einer ideellen Amtsanmaßung – Moralisten verkünden unablässig, welche Verfehlungen ihrer Mitmenschen sie unterbinden würden, hätten sie was zu melden. Ständig schlagen sie sich damit herum, daß in der wirklichen Welt manches erlaubt ist, was ihre Gesinnung verbietet. Trotzig und resigniert zugleich gewahren sie ein ums andere Mal, daß sich andere nicht das Gewissen machen, das sie sich zugutehalten. Und nicht selten kommen sie zu dem selbstgerechten, aber betrüblichen Schluß, daß außer ihnen nur Lumpen unterwegs sind, denen leider niemand das Handwerk legt. Wenn sie dann noch einen Anfall von „Ehrlichkeit“ bekommen, geben sie auch noch zu, daß sie es – „unter diesen Umständen“ – mit der Befolgung ihrer moralischen Imperative auch nicht so genau nehmen (können). So wissen sie am Schluß auch noch, daß gute Taten und pflichtbewußtes Handeln in allen Lebenslagen keine Lebensmittel sind.

Andererseits ist das nicht das Ende der moralischen Gesellschaftskritik, geschweige denn der Auftakt für die Frage, worauf die pflichtvergessene Bande denn sonst scharf ist, von welchen un-moralischen Imperativen sie sich leiten läßt, wenn sie schon auf alles pfeift, was sich eigentlich gehört. Auf die Institutionen des bürgerlichen Lebens, auf die vorgeschriebenen Mittel und Wege, sich ein Ein- und Auskommen, aber auch verläßliche Dienste und Befugnisse zu sichern, hat sich der Einwand des Typs „ungerechte Vorteile“, „unverdiente Verdienste“, „unerlaubte, also böswillige Schädigung anderer“ etc. ja ohnehin nie gerichtet – gerade der Mißbrauch aller äußerst sinnvollen Einrichtungen von der Krankenkasse bis zu den freien Wahlen ist schließlich das Fahndungsgebiet der Fachleute für Tugend und Laster.[1] Deswegen mündet die Enttäuschung über die anhaltende Vergeblichkeit moralischer Erneuerung konsequent in zwei komplementäre Fortsetzungen. Die eine betrifft die Individuen, die dem Sittenkodex standesgemäßer Selbstbeschränkung notorisch zuwiderhandeln. Über sie wird ein Charakterurteil gefällt, weil sie nicht die eine oder andere Pflicht schuldig bleiben, sondern böse sind. Die andere betrifft die für die Exkommunikation zuständige Instanz: Vom Staat und seinem Recht, dem geltenden, wird verlangt, nicht länger Dinge zu dulden, die von der Moral für unerträglich erklärt worden sind.

So kommt die Moralität zur Gemeinschaft zurück, deren maßgebliche Gesinnung sie sein will.

2. Dem „Vorläufer“ von Marx, den wir – wegen seines Durchblicks – bislang referiert und zitiert haben, war – und das ist bei solchem Wissen ein starkes Stück – an diesen Leistungen des freien Willens viel gelegen. Hegel hat ein Gemeinwesen, in dem das Recht zwar befolgt wird, aber in dem Bewußtsein, daß es eben die Mächtigen für ihre Belange zweckdienlich eingerichtet haben und Gehorsam verlangen, für ziemlich unvollkommen und wacklig dazu gehalten. Die Bürger sollten sich der Ordnung, die ihnen der Staat und die in ihm ermächtigten Herrschaften verabreichen, nicht nur unterwerfen. Alle Untertanen sollten sich – unabhängig von ihrer Standes- oder Klassenzugehörigkeit, also auch ohne Rücksicht auf den Ertrag, den ihnen das Mitmachen und ihre Leistungen im Gemeinwesen einbringen – im Staat heimisch wissen. Die moralische Gesinnung war für den philosophischen Liebhaber des bürgerlichen Staates die Gewähr dafür, daß dessen Bürger das Gesetz und die von ihm ausgehende Macht nicht als äußerlichen Zwang hinnehmen; sich also ständig Rechenschaft darüber ablegen, daß sie mit ihren Interessen im Gegensatz zur Herrschaft stehen und die Gegensätze auszuhalten haben, in die sie das Recht stellt. Im moralischen Bemühen um Rechtschaffenheit und gerechte Behandlung sah Hegel die gelungene Überwindung des eigensüchtigen Materialismus, der den geheiligten Institutionen des Eigentums und der Familie, dem Recht insgesamt ganz schlicht ihren beschränkenden Charakter ablauscht. Der Ehrgeiz, sein Leben mit Anstand zu meistern und dafür in den Genuß des Wohlverhaltens anderer zu kommen, verbürgt eben die Bereitschaft, mit den Einrichtungen der bürgerlichen Welt zurechtzukommen, sie als Bedingungen und Mittel für Arbeit und Erwerb zu achten. Solche Untertanen, die alle Gebote und Schranken des geltenden Rechts, die eine ganze Produktionsweise und ein System der Bedürfnisse organisieren, akzeptieren; die aufgrund der Widrigkeiten, mit denen sie sich deswegen herumschlagen müssen, die aufgeregte Frage stellen, ob sich auch alle so betragen und miteinander verkehren, wie es „dem Menschen“ zu- und ansteht – solche Untertanen, die sich auf alle Erfolge und Niederlagen einen moralischen Reim machen, sind nicht nur gottgefällig. An ihnen hatte auch ein Hegel seine helle Freude, kam doch die Obrigkeit durch die Gewohnheit der moralischen Weltanschauung in den Genuß eines sittlich gefestigten Staatswesens, welches „in sich Bestand hat“. Und wo er recht hat, hat er recht. In der Pflege von Anstand und Gewissen seitens der Bürger, die sich selbst und untereinander mit der Forderung menschlichen Wohlverhaltens traktieren, welches ihre Gegensätze nichtig macht, fand und findet die Herrschaft bei der Organisation des erforderlichen Gehorsams eine zuverlässige Amtshilfe.

Daß die moralische Denk- und Handlungsweise, die über das Recht hinausgeht und sich bisweilen auch zu Zweifeln an der Gerechtigkeit des Rechts versteigt, diese Funktion hat, liegt an ihr. Denn noch allen praktizierten und geforderten Tugenden, von der Höflichkeit über den zuvorkommenden Umgang mit Frauen und anderen Abhängigen bis zum Respekt vor den „eigenen“ Meinungen „Andersdenkender“, ist ein Bedürfnis immanent: das nach Eintracht. Daß diese durch eine besondere Anstrengung der Art, wie sie im Katalog der guten Sitten aufgezählt werden, erst hervorgebracht werden muß, belegt den negativen Charakter des Imperativs, man solle sich höchstförmlich vertragen. Was im Toleranzgebot zusammengefaßt wird, ist eben ein Streitverbot, und das geht allemal von einer Unvereinbarkeit der Interessen und Rechte aus, die in den kleinen und großen Händeln des demokratisch-marktwirtschaflichen Lebens präsent ist. Unbekümmert um die Herkunft der stillschweigend vorausgesetzten Gegensätze verlangt die Moral allen Kontrahenten ein gewissermaßen sekundäres, zusätzliches Interesse ab – die fehlende Gemeinsamkeit soll in der Form gewahrt werden. Der Antrag auf „weise“ und „vernünftige“ Selbstbeschränkung, der allemal ein Nachgeben im Inhalt der Interessen und Bedürfnisse einschließt – wen das trifft, ist übrigens kein Geheimnis: das entscheidet keine noch so gefestigte Gesinnung, sondern die per Recht verteilten Mittel –, löst sich in eine Zumutung auf: Alle, die sich in die Querre kommen, sollen nicht die Ausschließlichkeit ihrer Anliegen registrieren und begreifen, um daraus ihre Entscheidungen abzuleiten. Dergleichen ist im Lehrbuch der Moral als „böse“ verzeichnet: „mit Wissen und Willen vollzogene Schädigung anderer“. Vielmehr haben sie sich als Kontrahenten in des Wortes erster Bedeutung zu vertragen, einzusehen, daß sie in ihren besonderen Interessen voneinander abhängig sind, und ihre gegensätzlichen Belange als Teil einer gemeinsamen Sache zu betrachten und abzuwickeln.

Daß dabei nicht jeder auf seine Kosten kommt, ist ausgemacht; dafür aber kommen alle zu ihrem Recht – der „Kompromißfähigkeit“ und der „Verzichtsbereitschaft“ sei’s gedankt. Was die gemeinsame Sache angeht, als deren Bestandteil die pflichtbewußten Kontrahenten ihr Fortkommen ansehen, zu der sie mit ihren Leistungen und Opfern beitragen, bleibt jedoch noch einiges zu bemerken.

Diese Abstraktion von ihren Interessen, die Bürger bei der Austragung ihrer Konflikte unter Zuhilfenahme moralischer Titel sowie Wahrung der Form beständig vornehmen, ist leider keine theoretische Einbildung, auf die sie ihre Entscheidungen gründen oder auch nicht. Sie ist real existent (dieses auf Anerkennung berechnete moralische Ausdrucksmonster aus alten Zeiten soll nicht ganz verlorengehen!) in Gestalt einer fix und fertigen Staatsgewalt. Vor ihr – und nicht von ihren Gewissenswürmern – relativieren (nicht) streikende Arbeiter, Hausfrauen, Mieter und noch schlimmere Subjekte ihre Interessen. Wobei diese Interessen samt den ihnen zu Gebote stehenden Mittel ihrer Durchsetzung offenkundig schon das Werk einer staatlichen, praktisch gültig gemachten „Definition“ sind, bei welcher die moralische Gesinnung der selbstbewußten Knechte immer wieder so zielstrebig landet. Wenn die Löhne und Arbeitsplätze der Rentabilität von Unternehmen unterworfen sind, dann werden moralische Lohnarbeiter des DGB schon einmal mit „ihrem“ Betrieb solidarisch und „retten ihn“ und das deutsche Wachstum dazu – durch den dosierten Verzicht auf Lohn und Arbeitsplätze. Wenn das Institut der Familie den Interessen der Frau, die sich darauf eingelassen hat, ihre Grenzen setzt, dann können mit Abtreibung, ehelicher Gewalt und Scheidung befaßte Frauen einfach nicht umhin, dem Gewaltverhältnis zum Ausdruck ihres Gewissens und ihrer Verpflichtung Opfer zu bringen… Die Verwandlung der staatlich gesetzten Abhängigkeitsverhältnisse in einen Kanon von Werten und Pflichten, denen sich Herr und Frau Bürger freien Willens verantwortlich wissen, taugt eben doch zu nichts anderem als zur – zwar umständlichen, aber – Bestätigung der geltenden Ordnung. Und daraus, daß die reale Zwangsgemeinschaft der Angelpunkt und das verläßliche Zentrum aller moralischen Gesinnung ist, machen ja auch weder Politiker noch Bürger ein Hehl. Lange bevor unter Patriotismus „die Aufgelegtheit zu außerordentliche Aufopferungen und Taten verstanden“ wird, ist für die Untertanen etwas anderes ganz normal, weil sie ihren Staat für eine positive Lebensbedingung halten. Nämlich „die Gesinnung, welche in dem gewöhnlichen Zustande und Lebensverhältnisse das Gemeinwesen für die substantielle Grundlage und Zweck zu wissen gewohnt ist.“ Der umgekehrte Einfall; daß die gar nicht so gut bedienten Bürger- und Innen ihre Rolle als Manövriermasse der Nation kündigen, also einmal eine echt gemeinsame Sache, selbst ausgedacht, zum „substantiellen Zweck“ machen könnten, tut sicher not, ist aber extrem unmoralisch.

Dazwischen gibt es übrigens nichts. Wer „ja“ sagt zum Gemeinwesen, in das es ihn verschlagen hat, hat sich aller Berechnungen gegen es entschlagen. Verbesserungsvorschläge betreffen da nur noch die Interessen der Nation, und sie gründen auf die Absicht von den eigenen Notwendigkeiten, wenn sie zum Zweck eines besseren Lebens eine bessere Behandlung einklagen, die auch und gerade dem Erfolg des Gemeinwesens dienen würde…

„Der Patriotismus aber gründet sich nicht auf diese Berechnung, sondern auf das Bewußtsein der Absolutheit des Staates.“ – meinte Hegel, und moderner können wir es auch nicht sagen. Damit rückt die Nation nämlich selbst in das Reich der Werte ein, jener moralischen Gedankenschöpfungen, die keinem niederen Kalkül entspringen noch durch ein solches zu erschüttern wären. Und als hätte er das wiedervereinigte Deutschland besucht, mit seinen Sorgen um die Beherrschung der Kriminalität, der organisierten, der Ausländer- und Steuerkriminalität; als hätte er das Superwahljahr mit seinem Persönlichkeitskult und Wahlparteitagen genossen und Buttons mit der Aufschrift „Ich bin stolz ein Deutscher zu sein“ erspäht, liefert der große deutsche Philosoph noch einen Beweis für seinen Einblick in die ewigen Geheimnisse der Moralität:

„Die Gesinnung des Gehorsams gegen die Befehle der Regierung, der Anhänglichkeit an die Person des Fürsten und an die Verfassung und das Gefühl der Nationalehre sind die Tugenden des Bürgers jedes ordnungsgemäßen Staates.“

3. Wer das Moralische so erfaßt wie Hegel und es gerade in seiner höchsten Leistung, der Kultivierung des Sinns für die nationale Gemeinschaft, schätzt, bemerkt auch zielsicher, welche Gefahren in dem moralischen Betrieb lauern. Auch darin unterscheidet er sich von alten und neuen Moralpredigern, die nur eines mitbekommen haben: daß man sich in aller Freiheit eine gute Gesinnung zulegen muß, damit man sie anderen ans Herz legen kann. Jedenfalls scheinen sich schon seinerzeit Leute darauf spezialisiert zu haben, die Gültigkeit moralischer Gesichtspunkte für sich auszunützen und der Kunst des „moralischen Argumentierens“ zu huldigen. Sie haben ein Mittel der Selbstdarstellung entdeckt und sich als Persönlichkeiten eingebracht, die sich in allen Lebenslagen ein Gewissen machen. Stets beschließen sie nach reiflicher Überlegung, Gutes zu bewirken und einen halbwegs kategorischen Imperativ zu befolgen; bei allem sind sie sich ihrer Verantwortung bewußt, und nichts tun sie einfach so, aus Gewohnheit, weil es alle machen, oder aus Berechnung – diese Instrumentalisierung des an und für sich korrekten Bedürfnisses nach Rechtschaffenheit ist dem alten Dialektiker auf den Senkel gegangen: „Ebenso muß sich der Mensch nicht überreden, daß er bei dem gemeinen Handeln des individuellen Lebens wichtige, vortreffliche Absichten habe.“

Desgleichen war dem Mann die Umkehrung des Verfahrens vertraut. Insbesondere an die Leistungen von Staatsmännern und Feldherrn, die er als Beitrag zum Fortschritt großer Nationen enorm schätzte, wollte er nicht die Meßlatte der Kammerdienerperspektive angelegt wissen. Die Wichtigkeit historischer Unternehmungen ist nämlich nicht falsch, sondern überhaupt nicht beurteilt, wenn ein mißgünstiger Zeitgenosse zu berichten weiß, der für seine Handlungen geachtete Mensch hätte auch nur seine Wäsche dreckig gemacht und öfter einen gehoben.

Wenn alle Welt Wert darauf legt, das eigene Treiben wie das ihrer Mitmenschen daraufhin zu inspizieren, welcher gute Zweck ihm innewohnt, dann hebt unvermeidlich in allem Trachten ein munteres Dichten an. Der aufgeklärte Mensch der Neuzeit weiß nämlich, was er sich und anderen schuldig ist, und unterlegt seinen eigenen Handlungen gute Absichten, was immer er tut. In allen gesellschaftlichen Sphären, vom Intimbereich bis hinauf zum Parlament wird geheuchelt, was das Zeug hält: „Heuchelei besteht darin, daß die Menschen böse handeln, sich aber gegen andere den Schein geben, eine gute Absicht zu haben, etwas Gutes tun zu wollen.“ Die Titel, unter denen heutzutage Politik gemacht und Kapital vermehrt wird, werden inzwischen längst für die Sache selbst genommen – und Hegel, der für Staat und Eigentum durchaus viel übrig hatte, würde an den verwegenen Etiketten ganz sicher manche „Unwahrhaftigkeit“ bemerken. Daß vor lauter Heuchelei – ohne die eine Zusammenrottung von rechtschaffenen Benefizkünstlern nicht zu haben ist – auch noch das Wörterbuch durcheinandergerät, durfte er nicht mehr erleben. So ist ihm nicht nur Marx, sondern auch die Erfahrung mit den Glanzleistungen moderner Verstellungskunst erspart geblieben, die veritable Kriege in Friedensprozesse verzaubert.

Nicht so gut weg kommen Verbrecher, wenn sie aus ihren, in gewissenhaftem Eigenbau verfertigten Vorstellungen über das Gute und Böse, das ihnen widerfährt, ihre Schlüsse ziehen. Sie verstoßen nämlich gegen das geltende Recht, das sich in Form der staatlichen Gewalt gegen sie richtet. Dennoch sei hier einmal zur Ehre einer erheblichen Anzahl von Gesetzesbrechern gesagt, daß sie Opfer ihrer zutiefst moralischen Einstellung sind. Jedenfalls fängt die kriminelle Verirrung bei vielen – vom gewerbsmäßigen Verstoß gegen Eigentum und Person ist nicht die Rede – ganz harmlos an. Da nehmen Bürger wie alle anderen das Recht ihres subjektiven Willens wahr und versuchen nach Kräften, die Verhältnisse, in die sie gestellt sind, als gut einzusehen. Wie vielen anderen gelingt ihnen das nicht immer; sie vermissen allzu oft die Vollstreckung der auch von anderen gebilligten Grundsätze, die zu haben und zu achten sie sich als ihre Rechtschaffenheit zugutehalten. Ihr Gesinnungshaushalt tut in einer Mischung aus guten und schlechten Meinungen über die Welt und die Leute, mit denen sie zu tun haben, seine Dienste. Bis ihnen plötzlich eines der eingebildeten und wohlverdienten Rechte vorenthalten wird; und wenn sie die bisherigen Zuwendungen ihres Chefs, die Zuneigung ihrer Frau oder auch die Erfolge ihrer nationalen und lokalen Sportidole als ihnen zustehende Anerkennung gedeutet haben, wissen sie sich in ihrer ganzen Ehre verletzt. Dann werden sie über den Spruch Hegels, daß das Recht manches erlaubt, was die Moral verbietet, sehr ärgerlich – und treten mehr oder minder spontan den Beweis an, daß ihre Moral mehr erlaubt.

Solange die Moral einer bürgerlichen Gesellschaft intakt ist, gibt es also jede Menge von Schwierigkeiten – das Maßhalten im Umgang mit einer unverwüstlich guten Gesinnung jedenfalls will gelernt sein, auch und gerade in bezug auf die Dosierung des Patriotismus.

Einige Anmerkungen zu den Fortschritten der deutschen Gesinnungswirtschaft

Die Moral aufrechter Bürger ist patriotisch, bevor sie sich ausdrücklich zu Fahne und Hymne bekennt. Das Bedürfnis, anständig traktiert zu werden, die kultivierte Enttäuschung darüber, daß die eigene Rechtschaffenheit nicht den ihr gebührenden Lohn einfährt, der Zorn über die „Ellenbogengesellschaft“, in der jeder nur an sich denkt und mancher Schmarotzer besser dasteht als die tüchtigen und ehrlichen Leute – dergleichen ist ja nicht zu verwechseln mit dem nüchternen Befund, daß die bürgerliche Konkurrenz um Geld und Macht eben kein gemeinschaftliches Unternehmen darstellt. Die Beschwerden über die Ungerechtigkeit selbst des Rechts und der politischen Führung wiederum sind alles andere als die Einsicht, daß das reale Gemeinwesen, der Staat, nur die gewaltsame Klammer, die Betreuung all der Gegensätze ist, die durch die öffentliche Gewalt selbst in Kraft gesetzt worden sind, so daß sich die Bürger in ihnen zu bewähren haben.

Die Moral aufrechter Bürger kritisiert nicht die politische Ökonomie, sondern bestellt mit ihrem geballten Sittlichkeitswahn beim Staat, den es gibt und dessen „Raison“ sie billigt und in ihren Grundsätzen gut heißt, die machtvolle Kritik an den Verstößen, die sie ganz klassenlos in allen Ecken der Gesellschaft ermittelt. Sie will gerade ohne Veränderungen an den Grundrechnungsarten des bürgerlichen Betriebs die Einheit und das gemeinschaftsdienliche Wirken der Bürger erzwingen lassen. Diese Veränderung ist als faschistisches Bedürfnis fest beheimatet in der Veranstaltung „Marktwirtschaft & Demokratie“.

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Mit dem Gesetz kommt die patriotische Gesinnung normalerweise ebensowenig in Konflikt wie mit der Politik. Sie ist ein anerkannter Bestandteil der Stimme des Volkes, die sich in allen möglichen Affären zu Wort meldet und die vielfältigsten Belange von der Warte des Autofahrers wie des Allergikers, der Mutter wie des Kindes, des Unternehmers wie des Arbeitslosen zur Sprache bringt. Als Volkes Stimme qualifiziert sie sich nicht durch die Anliegen, die sie vorbringt, sondern durch den Adressaten, an den sie sich wendet und der die Angabe des Absenders überflüssig macht. Die partikularen Interessen, mit denen die Politik als „Sachfragen“ zu tun kriegt, werden durch die Regierenden der Prüfung unterzogen, ob und inwieweit sie als Beitrag und Bestandteil der staatlichen Betreuung des Ganzen gelten können – und deswegen, quasi als letztes und einzig zählendes Argument, wissen alle Antragsteller ihre Sache als berechtigt anzugeben: Mit dem positiven Bescheid, den sie erwarten, würde nichts und niemand geschädigt, vielmehr ein Dienst an der Nation vollstreckt. Man politisiert – ganz gleich, ob man als Gewerkschafter, Atomlobby oder Jungfilmer etwas will – als Deutscher, der sein Recht als Mitglied des nämlichen Volkes verdient. Und als solcher befaßt man sich natürlich nicht nur mit den eigenen Angelegenheiten, sondern mit allen, die durch die nationale Öffentlichkeit auf die Tagesordnung gesetzt werden. In diesem demokratischen Treiben, das seinen Höhepunkt in der Ermächtigung durch das wählende Volk findet, hat der „emphatische“ Patriotismus seinen festen Platz. Noch nicht einmal in der Wahl der nationalen Themen unterscheidet er sich von denen, die ihn als eine Stimme „rechts von der Mitte“, die sie sind, registrieren. Als die Gewohnheit des Politisierens, wie sie „an Stammtischen“ stattfindet, ist sie allen demokratischen Führungskräften vertraut – und als Stimmenarsenal dazu, weswegen die Kandidaten gerne – und nicht wider Willen – verständnisvoll auf die Meinungen der Stammtische eingehen. Dazu brauchen sie gar nicht dort zu verkehren, um etwas in Erfahrung zu bringen. Das Leiden am prinzipiell prekären Zustand der Nation wie am Funktionieren des Volkes ist ja das Ihre.[2]

Zur eigenen Größe in der politischen Landschaft wird der Ruf nach dem Staat, der die kapitalistische Ordnung noch ein bißchen ordentlicher gestalten soll, dadurch, daß er sich polemisch zur herrschenden Politik stellt. Wenn sich „rechte Kräfte“ nicht mehr damit begnügen, die radikale Volksmoral zu zitieren und sich damit in der stattfindenden Parteienkonkurrenz zu „profilieren“ und „glaubwürdig“ zu werden, sondern die amtierenden Verwalter der Nation des Versagens auf ganzer Linie bezichtigen und gegen sie antreten, dann hebt das grandiose Schauspiel „Demokraten contra Faschisten“ an. Im wiedervereinigten Deutschland hat dieser Aufstand der patriotischen Gesinnung gegen die regierenden Patrioten stattgefunden, und zwar so, wie es sich gehört. Einmal als Versuch, den etablierten Parteien Konkurrenz zu machen und die fällige Rettung des Gemeinwesens, zu der sich „Mitte“ und „Links“ nicht bequemen wollen, in die Hände dazu bereiter Politiker zu legen. Zum anderen in Form einer Bewegung von unten, die sich unabhängig von der Politik mit den Feinden befaßt, vor denen Deutschland und sein Volk gerettet werden muß.[3]

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Der widerwärtige Verlauf der Auseinandersetzung um die Frage, ob sich das deutsche Volk des Auslands und der Ausländer erwehren kann und ob es dies besser durch demokratische oder durch braune Führer hinkriegt, hat bewiesen, daß in der Demokratie die Gesinnung des Volkes wirklich eine Macht darstellt. In den begeisternden Wahlschlachten des Jahres 94 haben die faschistischen Überlegungen, wie der Schutz der Deutschen zu gewährleisten sei, auf der ganzen Linie Recht bekommen; gesiegt haben dafür die Demokraten. So wurden Deutschland und die Demokratie auf einmal gerettet, so daß endlich selbst dem verbohrtesten Gemüt unter den Nationalisten klar wurde, daß beides ein- und dasselbe ist. Der Antifaschismus wurde als spezieller Auftrag von den Parteien übernommen, die wegen ihrer Auffassungen vom Recht der Nation ohnehin keine Schwierigkeiten haben, bei Schönhuber-Wählern glaubwürdig zu sein. So beschimpften C-Politiker die „Braunen“, sorgten nach Kräften dafür, daß sie in der organisierten Öffentlichkeit kaum zu Wort kamen, und verlasen deren Programm – natürlich nicht ohne darauf hinzuweisen, wie schlecht das deutsche Volk mit denen schon einmal gefahren ist. In Geschichte bewandert erwiesen sich auch große Lichterketten, die wieder einmal „den Anfängen wehrten“ – ein guter Deutscher würdigt eben nichts ohne die Fragen „Wo kommt das her?“ und „Wo führt das hin?“, stellt sich deswegen auch gern für den Beweis zur Verfügung, den das Ausland gefälligst zur Kenntnis nehmen soll: Das deutsche Volk ist nicht so böse wie seinerzeit. Klaus Kinkel schreibt derweil, daß die deutsche Politik heute den dritten Anlauf in derselben Sache unternehme, die Deutschland zweimal in diesem Jahrhundert falsch angepackt hat. Europa ist der deutsche Kampf gegen den Nationalismus – anderer, versteht sich – und kein Verrat am deutschen Volk, das seine Identität und das Bewußtsein seiner Gemeinschaft von Schäuble zugestanden kriegt. Weniger belesene Inhaber besagter Identität gehen unterdessen munter auf Ausländer los, müssen aber – sofern sie erwischt werden – zur Kenntnis nehmen, daß sie der höchste moralische Wert, der sie unabhängig vom Bildungsgrad mit Kohl und Schäuble eint, nicht zum Rechtsbruch befugt. Das Abservieren von überflüssigen und rechtlosen Ausländern wird nämlich in Deutschland organisiert und rechtsstaatlich vollzogen – und jede per Rechtsmittel erstrittene Ausnahme belegt den moralisch einwandfreien Charakter der massenhaft befolgten Regel…

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Zu einem Zerwürfnis zwischen der gesunden patriotischen Gesinnung und den in allerlei Kalkulationen und Rücksichten befangenen Realpolitikern ist es also nicht gekommen. Die Herrschaften des Standorts Deutschland machen nämlich nicht den einzigen aktenkundigen Fehler „von Weimar“ – sie organisieren den starken Staat, den die Rechten fordern, glatt selbst. So hat der Faschismus keine Chance, und die „Ewiggestrigen“ können zusehen, welche Landesverratsvorwürfe ihnen gegen die Demokratenbande noch zu Gebote stehen. Die meisten fühlen sich sowieso gut aufgehoben im Modell Deutschland – und mit der höchstoffiziellen Absegnung ihrer Ideale durch die regierenden Demokraten dürften sie erstaunt feststellen, wie viele Gesinnungsgenossen sie haben unter den anständigen Leuten, welche den Schritt in eine faschistische Organisation nie für nötig gehalten oder gewagt haben.

Ein anderes Zerwürfnis zeichnet sich ebenfalls nicht ab. Den viel beschrienen „Rechtsruck“ will die Sozialdemokratie nicht, auch kein Teil von ihr, so recht ernst nehmen. Der Übel größtes unter den historischen Irrwegen Deutschlands ist für „Linksparteien“ nämlich gar nicht so groß, daß sie der Nation oder wenigstens ihren Anhängern einen „Linksruck“ anbieten möchten. Die Phrase wird – wie alle anderen Titel des demokratischen Dauerwahlkampfs auch – für die möglichen Wähler in die Runde geworfen, die aus Gewohnheit und aufgrund der ehemaligen Traditionspflege von Gewerkschaften und SPD die Unterscheidung von Gut und Böse in politischen Dingen immer noch mit „links“ und „rechts“ vornehmen. Dabei war und ist das „links“ oder „rechts“ zu betreuende Sorgeobjekt allemal die Nation. Daß die Interessen der Arbeiter ein hohes Ansehen genossen haben, war der Politik von Sozialdemokraten nie so recht zu entnehmen – außer eben in dem Sinn, daß sie diese Sorte Staatsbürger um ihre Wahlstimme angegangen sind. Ihre „Stammwählerschaft“ hat sich freilich nie so genau an den suggerierten Automatismus gehalten; denn wer sich als tüchtiger Lohnabhängiger dazu entschließt, per Wahl darauf zu spekulieren, welche Regierung ihm mehr gewährt, macht nicht nur mit dieser Spekulation seine Erfahrungen. Er ist auch allen anderen Überlegungen gegenüber aufgeschlossen, die seiner Beglückung als Deutscher gewidmet sind. So daß sich die SPD zu Recht nicht ewig mit dem Anspruch, „Arbeiterpartei“ zu sein, begnügen wollte. Daß sie selbstverständlich eine „Volkspartei“ ist, hätte sie freilich nicht einmal aus Godesberg melden müssen.

Heute nun unterstreicht sie diesen ihren noblen Charakter dadurch, daß sie keine Gelegenheit ausläßt für die Demonstration, daß sie nichts von dem auslassen will, was die „Rechte“ für ein Drangsal der Nation hält. Sie teilt jedes Erfolgskriterium für eine deutsche Regierung, das andere Nationalisten aufbringen – und stellt sich als Verein hin, der den staatsdienlichen Umgang mit Ausländern und Verbrechern, mit Ost und West, mit Krieg und Frieden viel, viel besser erledigt…

Dafür, daß sie von Deutschen guter Gesinnung auch in den 90er Jahren gewählt wird, tut sie alles, die Opposition – insbesondere erklärt sie allen Wählern, daß das Projekt Deutschland für sie vor allem in Sachen Ausland und Ausländer haargenau denselben Auftrag darstellt wie für die nach rechts gerückten…

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Daß „rechts“ und „links“ heute nichts mehr bedeuten, weil es darauf gar nicht ankommt, weiß alle Welt, nachdem es Politiker und Journalisten aus allen Lagern tausend Mal erzählt haben. Aber nicht deswegen, weil die Probleme größer oder komplexer geworden sind, wie sie einem weismachen wollen; sondern weil die heutige Demokratie außer dem Erfolg der Nation keinen Wert mehr anerkennt. Was den lieben Bürgern für diesen Erfolg aufgeherrscht werden muß, ist die einzig brennende Frage. Nur wer sich die stellt, ist „kompetent“ – und aus dem Weg geräumt gehört der Schein, daß sich das Regieren nach irgendwelchen Bedürftigkeitsgesichtspunkten aus dem Volk richten müßte oder könnte. Dieser Schein stand einmal für „links“ in der parlamentarischen Sitzordnung, und weil er weg muß, ist die andere Seite auch nicht mehr „rechts“, sowie der Unterschied obsolet. Daß „Wirtschaftswachstum“ kein besonderes Interesse in der Marktwirtschaft ausmacht, sondern ein Sachzwang ist, mit dessen Bewältigung Deutschlands Stellung in der Welt entschieden wird, ist ohnehin nicht zu leugnen. Von daher sind alle Versuche, die vorgestern noch gültigen „sozialen Gesichtspunkte“ zum Leitfaden der Politik zu erklären, nicht mehr mit dem geballten Sachverstand aus dem Schatzkästlein der Volkswirtschaftslehre zu widerlegen. Sie werden gleich als Anschlag auf die Einheit der Nation gewürdigt. In einer Tarifrunde, in der es nur Lohnerhöhungen gibt, wenn Kostensenkungen abgehakt sind, „sitzen die Arbeitslosen mit am Tisch“ – womit der Gerechtigkeit und der Einheit arbeitender wie beschäftigungsloser Deutscher Genüge getan wäre. Kaum wird ein Artikel gedruckt, in dem über beim Aufbau des Ostens verschwendete Summen berichtet wird, fühlt sich keiner der vielen Wirtschaftsfachleute bemüßigt, auch nur ein Wort über die Eigenheiten des „Transfers“ von West- nach Ostdeutschland zu verlieren. Sofort wissen alle etwas über die finstere Absicht der Skandalgeschichte: Spaltung!

Gleichgültig, was auf der Tagesordnung des Parlaments steht – seit der Wiedervereinigung mündet noch jede Debatte in den Vorwurf zwischen Regierung und Opposition, die andere Seite würde mit ihrem Vorgehen Deutschland „entzweien“ und schon wieder Gräben aufreißen. War in der alten Leier vom „sozialen Frieden“ noch die Erinnerung daran vorhanden, daß es für gewisse Abteilungen des Volkes Gründe gibt, ihre Interessen durchzufechten – was auch eine bedingte Anerkennung „sozialer“ Ansprüche beinhaltete –, geht es heute um viel mehr. Die um die Gunst des Volkes konkurrierenden Parteien verdächtigen sich, durch ihre gar keine Verheißungen enthaltenden Parolen Dissens zu stiften. Unablässig warnt sich die Politik davor, die Ungeschicklichkeit zu begehen, den Untertanen Anlässe zum Zweifeln zu geben. Die Zweifel betreffen nichts anderes als die unverbrüchliche Einheit unter den diversen Führern der Nation, die das Recht auf eine ebenso unverbrüchliche Gefolgschaft aller Patrioten nach sich zieht. Wer so den einst so hochgelobten Pluralismus als Gift fürs Volk bespricht, macht aus dem Anspruchsdenken deutscher Politiker gegenüber der Manövriermasse wahrlich kein Hehl. Kein Wunder, daß diese Volksbeglücker inzwischen auch den Medien unumwunden die Leistung des Volksempfängers abverlangen. In der kritisch reflektierten Linientreue ihrer Staatssender wittern sie einen einzigen Sumpf von Zersetzung. Als vom Wahn der Manipulation beseelte Propagandisten ihrer deutschen Sache wollen sie jeden Streit verbieten – und entdecken mit ihrem Ideal eines keimfreien Patriotismus prompt neue Feinde.

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Das Verbot jeglichen Anflugs von Gegnerschaft gegen Deutschlands großartige Mission trifft vor allem die PDS. Am Umgang mit deren alternativen Nationalismus läßt sich studieren, wie unbekümmert Vertreter der Volksmoral über die Eigenarten hinwegsehen, die das Objekt ihrer Kritik so aufweist. Die Zumutung, die diese Partei für die Inhaber der Lizenz für Politik in Deutschland darstellt, ergibt sich keineswegs aus den matten Verbesserungsvorschlägen, mit denen sich die PDS ins politische Geschäft einbringt. Daß sich die erdreisten, die neuen Bürger zu repräsentieren, daß sie sich unter Berufung auf den Geist des Sozialismus anmaßen, am Standort Deutschland Korrekturen anbringen zu wollen, daß sie die Großtat der Wiedervereinigung an den Folgen messen, die sie für minder bemittelte Zonis hat – ein Sakrileg nach dem anderen! Da gebietet es die politische Moral allemal, so gut es geht, am Recht zu drehen und die „politische Auseinandersetzung“ nach dem Drehbuch der Stasi-Abrechnung abzuwickeln…

Das sitzt – und gibt den Neulingen auf dem Feld des demokratischen Kräftemessens Gelegenheit zu zeigen, daß sie äußerst guten Willens sind und die Eintrittskarten in das Etablissement der Nationaldemokratie schon längst gelöst haben. Kein Ideal aus dem westlichen Wertehimmel, dem sie sich nicht verschreiben würden! Als ob es im neuen Deutschland nicht genug Gründe gäbe, um und gegen etwas zu streiten, leiten sie die Berechtigung ihres Kampfes um Anerkennung glatt aus dem höchsten Dienst ab, den sich geläuterte Zonis vorstellen können: aus dem an der Einheit, die durch die Schlechtbehandlung ihrer Klientel so arg demoliert wird. Auf den ersten richtigen Satz über Marktwirtschaft & Demokratie wird man vergeblich warten – die Partei hat ganz andere Sorgen. Sie will sich nach allen Regeln der demokratischen Selbstdarstellungskunst salon- und politikfähig machen, was im politischen Sprachführer der Szene „Inhalte“ heißt.[4]

Als Vorbild für dieses Vorhaben kann sie sich die Grünen nehmen, die inzwischen mit der ganzen Selbstgerechtigkeit von Leuten, die sich lauter unbestreitbar gute Taten in den Kalender geschrieben haben, auf der PDS herumhacken, daß mancher Sozi alt aussieht.

Daß hinter den allerhöchsten moralischen Geschossen, die sich ein bürgerliches Gemüt aus dem großen Katalog des Jahrhunderts so ausleiht, auch nur ganz banale Verantwortung für Deutschland steckt, ist den Grünen nämlich auch nicht gleich zugestanden worden. Die etablierten Parteien haben an den Friedensorgien der Pershing-Ära zunächst nur den ungeheuerlichen Vorwurf heraushören wollen, mit ihrer NATO-Treue und gewissenhaften Kriegsvorbereitung würden sie der Menschheit verbrecherisch das höchste Gut, ihr Leben, nehmen. Dabei wollten die friedensbewegten Newcomer schon damals auf deutsche Landschaften und Bürger achten, als sie Raketen mit Magneten verwechselten. Und am Engagement für die Umwelt ist gestandenen Politikern der alten Garnitur nur aufgefallen, daß die Beschimpfung von Staat und Wirtschaft, sie wären mit den giftigen Produkten ihres Systems schon wieder zu Sündern wider das Leben geworden – was sie natürlich nie hinnehmen konnten. Daß dieser Vorwurf, als Systemkritik ernst genommen, niemanden darauf bringt, sich ins Parlament setzen zu wollen, wurde ihnen erst allmählich klar: Da wollten ein paar demokratische Nachwuchskünstler mit dem Standpunkt des Umweltschutzes Einzug ins politische Leben, Abteilung „Macher“, halten – und kaum ist ihnen das durch das Programm „Politikfähigkeit“ gelungen, steht der Haussegen nicht mehr schief.

Die Gewissenswürmer von gestern plädieren mit denselben Berufungstiteln wie damals locker für den einen oder anderen Kriegseintritt aus deutscher Verantwortung – so daß der Kanzler alle Register seines Könnens ziehen muß, um zu beweisen, daß sich auch für die realpolitischen Kalkulationen mit dem Irak, Jugoslawien, Afrika gute, werthaltige Gründe finden lassen. Die Umwelt, die den Menschen so ungeheuer viel vom Reichtum des Lebens nimmt, weil sie so versaut ist, hat für Grüne, die dank ihrer Teilhabe an der Macht nun „etwas bewirken“ können, heute ebenfalls ihre nationale Bedeutung in voller Pracht entfaltet: Man kann für sie Geld verlangen für die Staatskasse des Standorts Deutschland; und außerdem aus der Natur einen Rechtstitel für deutsche Einmischung überall verfertigen, weil Mahagoniholz und Atomstaub „an den Grenzen nicht halt machen.“

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Daß die gute Gesinnung auch dann, wenn sie sich voll an die national anerkannten und abgesegneten Werte hält, ihre Widersprüche nicht los wird, hat für viele noch einen unergründlichen Reiz. Wohl weil so viel Aufregung, auch die gerichtsverwertbare, damit zu erzeugen ist, findet sich immer wieder mal wer, der Tucholsky zitieren möchte. Der Haken ist nur der, daß Soldaten – ein für alle Mal – keine Mörder sind! Der Staat, der nach innen den Schutz von Eigentum und Person (zu der gehört das Leben) gewährt, verlangt nämlich zur allfälligen Fortsetzung dieser Wohltat die Sicherung seines Bestandes und seiner Rechte gegenüber dem Auslande. Wenn andere ihn nicht intakt lassen und „unsere Interessen“, die er verwaltet, unanständig berühren, müssen seine Bürger eben auch mal kurz ihr Eigentum und Leben opfern. Besser ist es natürlich, wenn sie das Opfern auf die Bürger anderer Nationen verlagern, was aber mit dem Rechtsbruch des Mordes überhaupt nichts zu tun hat. Im Krieg töten auch nicht eigensüchtige und beleidigte Rechtssubjekte, sondern Patrioten, die gerade ihrem langweiligen Untertanenalltag entfliehen und „zu großen Taten aufgelegt sind“; da „zeigt sich die Kraft des Zusammenhangs aller mit dem Ganzen“.

Wo sich der Moralismus an die Stelle der Kritik setzt und seine Abneigung gegen die inter-nationalen Tötungsorgien durch die Berufung auf das Strafrecht untermauert – Dichter mögen eben plausible Zuspitzungen –, will er auch anerkannt sein. Die Frage ist ja nicht, ob es – mit oder ohne „potentiell“ – stimmt, sondern die ganz andere, ob man das sagen darf. Das meinen andere natürlich nicht, weil sie den Soldatenstand für notwendig und es im Namen von allemal untadeligen Werten für gut halten, daß er seine Pflicht tut, Bestandteil des geltenden Recht ist er ja ohnehin. In diesem Sinne hat sich einer zur Wehr gesetzt und die Verunglimpfung der Wehrmacht mit einer anderen, frei erfundenen Verunglimpfung verglichen, der des Bundesverfassungsgerichts mit dem Volksgerichtshof. Berechnet war der Vergleich zweier Vergleiche darauf, daß die Unhaltbarkeit und Unzulänglichkeit des ersten Vergleichs eingesehen werde, auch und gerade vom höchsten Gericht. Darüber kommt die moralisierende Öffentlichkeit in Schwung – und keine Sau macht sich mehr einen Gedanken über die Notwendigkeit des Militärs für das Gemeinwesen, das wir lieben und dessen auswärtige Interessen wir im Frieden und im Krieg ganz nebenbei bedienen…

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Aufs Zuspitzen versteht sich auch die Redaktion von konkret, die nicht müde wird, ihre Rolle als Sammelpunkt linker Gegenmeinungen durch Veröffentlichungen zu erfüllen, die – wenn sie nicht gerade Geist und Papier für bierernste Auseinandersetzungen mit den ach so bedeutsamen Produkten des Kulturbetriebs verschwenden – als Beiträge zu einem Verabscheuungswettbewerb konzipiert sind. Auch Auseinandersetzungen finden statt – zwischen Autoren, die sich beim Verurteilen des deutschen Unwesens zu überbieten suchen. Leider verhält sich der Wille zu demonstrieren, wie schlimm deutsche Politiker und ihre patriotischen Statisten sind, umgekehrt proportional zum Eifer, erstens den Zwecken der Nation auf den Grund zu gehen, zweitens den Einsatz der zu Gebote stehenden Mittel zu analysieren. Zu denen gehört außer einem bißchen schlagkräftigem Kapital, einer Wehrmacht, diversen Bündnissen etc. auch die moralische Zuverlässigkeit des Volkes. Mit der geistigen Verfassung der deutschen Patrioten, wie sie sich in Worten und Taten offenbart, führt die Hamburger Zeitung ihren Krieg. Die Argumente und Zuspitzungen, die Schlüsse, die da in ausgesuchten Worten, immer unter dem Motto „Wir lieben dieses Land nicht!“, vorgetragen werden, stimmen leider selten.[5]

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Der Aufbruch der anderen

Wenn in diesem Heft auch von anderen Nationen berichtet wird, in denen erstens genauso, zweitens ein bißchen anders ein Zusammenspiel wie manches Zerwürfnis zwischen kalkulierter Politik und moralischem Patriotismus stattfindet, dann garantiert nicht, „um die Deutschen“ zu entlasten. Es ist einfacher. Der „durchgedrehte“ Nationalismus hier und anderswo hat seinen gar nicht guten Grund. Den verschiedensten Nationen gehen seit dem glorreichen Ende der „alten Weltordnung“ die bewährten „Lebensmittel“ und Sicherheiten ab, mit denen sie sich ihren Reichtum und ihre Macht erhalten und erweitert haben. Also sind sie unter heftiger Indienstnahme ihrer Untertanen, bisweilen auch auf nachdrücklichen Antrag leidender Patrioten auf neuen Wegen, um das ihnen Zustehende zu kriegen. Die dazugehörige Barbarei ist nicht mit deutschen Untaten zu vergleichen, sondern so groß wie nötig.

[1] Zur Erläuterung: Die Beschwerde: „Die Reichen werden immer reicher, die Armen immer ärmer!“ ist kein Einwand gegen die Hierarchie des Geldbeutels, sondern ein Antrag, die Differenzen – die man für keinen Gegensatz hält – zu mäßigen. Die ewig aktuelle Klage über die „Verschwendung von Steuergeldern“ hat nichts mit einer Aufkündigung des großartigen Arrangements zu tun, das die Regierten verpflichtet, ihre Herrschaften auszuhalten und die Interessen der Nation zu finanzieren, als wären die eine Auftragsarbeit von Funktionären eines Vereins gleichgesinnter Mitglieder. Vielmehr liegt da ein Bedürfnis nach ordentlicher Kassenführung vor, die als Recht und Lohn derer gilt, die von jeder Mark die Hälfte abgeben müssen. Wer „Schmarotzer“ an der „Solidargemeinschaft“ der Sozialversicherten dingfest macht, hat nicht die Geschäftsgrundlage von Zwangsversicherungen durchschaut, die er weder erfunden hat noch kündigen kann, sondern arme Schlucker zum Feind ernannt, weil sie sich ungerechterweise bereichern. Wenn schließlich bei Entlassungen größeren Stils ein „Mißmanagement“ in den Chefetagen deutscher Betriebe ermittelt wird, geht es auch nicht um die Grundrechnungsart, die in kapitalistischen Betrieben gilt; sondern um die abgrundtiefe Sorge um den Erfolg unserer deutschen Betriebe, die nur durch Führungsfehler ihrer Belegschaft Schaden zufügen „müssen“; die also – wären sie mit Geschick Sieger in der Konkurrenz geworden – nur ihresgleichen und deren Lohnabhängige in anderen Gegenden ruiniert hätten. Die leidige „Frauenfrage“, in der jahrelang jedes klärende Wort erhebliche Sympathieverluste nach sich zog, hat sich leider inzwischen genau so etabliert, wie die Argumente der Emanzinnen es befürchten ließen. Mit dem Hinweis auf die Leistungen und Opfer von Frauen & Müttern, wird dafür plädiert, diesem Geschlecht sämtliche „Verantwortung“ zu gleichen Teilen zu übertragen, die das staatliche und geschäftliche Führungswesen so zu bieten hat – was den Lohn für die Frauenwelt nach sich zieht, daß sie von höchster Stelle Anerkennung erfährt. Das haben sie nun davon, daß ihre Unterdrückung „Veränderungen“ unumgänglich macht.

[2] Das können auch die alternativen Moralisten aus Hamburg nicht übersehen haben. Dennoch sind sie stets für die Entgegensetzung von Demokratie und Faschismus zu haben, woraus ersichtlich wird, daß sie bei „Demokratie“ nicht den Laden meinen, wie er geht und steht. Noch nach zehn Kongressen über Nation und Nationalismus werden sie zu „antifaschistischer Politik“ raten, auch wenn sie dann im gesamten demokratischen Personal keinen einzigen Demokraten nach ihrem Bilde mehr aufspüren. Und vom Kapitalismus zu reden, halten sie dann immer noch für dasselbe wie „vom Faschismus schweigen“, auf dessen gewalttätige Umtriebe sie mit einer Runde demonstrativer Betroffenheit nach der anderen reagieren.

[3] Siehe hierzu: „Woher kommt und wie geht Rassismus?“, in diesem Heft S.8ff.

[4] Siehe hierzu: „PDS-Parteitag Januar 1995, Die PDS will ganz bundesdeutsch werden“ in diesem Heft S.53

[5] Das ist übrigens unser ganzer Einwand. Ein Fahndungsinteresse der Hamburger Machart, das immerzu nach Verharmlosern, Entschuldigern, alternativen Parteigängern der Nationalisten und Antisemiten, nach Leuten sucht, die die „Bedeutung“ von Auschwitz nicht erfassen, etc. etc. haben wir nicht. Über den Webfehler von gewissen moralischen Argumenten wissen wir jedoch noch einiges zu sagen. Demnächst.