Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Fortschritte der Gewerkschaft
Von der „Gegenmacht gegen Unternehmerwillkür“ zur „Modernisierung des Flächentarifs“
Die IG Chemie baut 10 % Lohnspielraum in ihren Tarifvertrag ein und erntet dafür Lob und Skepsis in den anderen Gewerkschaften.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Fortschritte der
Gewerkschaft
Von der „Gegenmacht gegen
Unternehmerwillkür“ zur „Modernisierung des
Flächentarifs“
Dem politischen Geist der Zeit, wie ihn die großen
Volksparteien verkünden, entnimmt auch die Gewerkschaft
die große Richtlinie ihrer Politik. In Sachen
Fortschrittlichkeit und Reformeifer läßt sie sich nämlich
nicht überholen. So hat sie schon beim Rentenproblem, das
bekanntlich erstens in der Vielzahl alter und
arbeitsunfähiger Menschen besteht und zweitens in deren
gutem Leben auf Kosten der jüngeren Generation, noch vor
der SPD die regierungsamtliche Erkenntnis nachvollzogen,
daß die Rentnerschwemme, der mit demographischen
Mitteln nun einmal nicht beizukommen ist, durch eine neue
Rentenformel wenigstens verbilligt werden muß. Damit hat
sie ihre Flexibilität bewiesen und außerdem die
wohlverstandenen Interessen ihrer Mitglieder vertreten,
die ohnehin schon immer weniger verdienen. Daß hieran
erst recht nichts zu ändern ist, sieht die organisierte
proletarische Gegenmacht gegen die Privatmacht des
kapitalistischen Eigentums mittlerweile nicht bloß ein.
Sie nutzt den Monat, der mit dem Tag der Arbeit
beginnt, zu einer Klarstellung darüber, wie sie sich die
Gestaltung des nationalen Lohnsystems in der Zukunft
überhaupt vorstellt. Nach Angaben ihres Gesamtchefs plant
die deutsche Gewerkschaftsbewegung die Modernisierung
des Flächentarifvertrags
. Dieses traditionsreiche
Bollwerk gegen Unternehmerwillkür
soll so
ausgestaltet werden, daß es alle betriebswirtschaftlich
begründeten Verstöße von Arbeitgebern gegen vereinbarte
Lohnregelungen von vornherein als Ausnahmen von der Regel
regulär genehmigt.
Wie so etwas auf einer ersten Stufe aussehen kann,
verdeutlicht sogleich die IG Chemie mit dem Abschluß
eines Flächentarifvertrags, der es den Unternehmern
anheimstellt, im Falle betrieblichen Bedarfs bis zu 10%
weniger Lohn als formell vereinbart zu zahlen. Für den
nötigen sozialen Ausgleich sorgt die gleichfalls
vertraglich niedergelegte unverbindliche Erwartung der
Gewerkschaft, Unternehmen, die im Geld schwimmen, könnten
eventuell bei den Löhnen ja auch mal was drauflegen. Auf
dieser Basis haben die Arbeitgebervertreter ihre Bedenken
gegen die Tradition der starren Regelungen
zurückgestellt und der Arbeitnehmervertretung wie bislang
die Rolle des Tarifvertragspartners zugestanden – ein
Sieg der Gewerkschaft, nicht zuletzt über sich
selbst
. Von der demokratischen Öffentlichkeit wird
die IG Chemie dementsprechend mit Komplimenten für ihren
Mut zum Fortschritt
bedacht; auch wenn mancher
Kommentator zu bedenken gibt, daß dieser Vertrag wohl
doch nur ein erster Schritt zur Abschaffung des
überkommenen Unsinns von Flächentarifverträgen überhaupt
sein könne.
Bei den Kollegen der IG-Metall gibt man sich hingegen
zurückhaltend. In der Sache steht man da nämlich selber
schon länger an der Spitze der Bewegung: Das gibt es
bei uns schon alles
(Zwickel) – die Sache mit den
10% freilich noch nicht. Denn mit einer so pauschalen
Lizenz zum Lohndrücken wird, so befürchten die Metaller,
„dem Mißbrauch Tür und Tor geöffnet“, statt
einen sachdienlichen Gebrauch der
unternehmerischen Freiheit in der Entlohnungsfrage zu
fördern, über den die Gewerkschaft den Überblick behält.
Deswegen hält die bekanntermaßen linksradikale IG Metall
das Modell
der IG-Chemie für so nicht
übertragbar
.
Wie dann? Man darf sicher sein: Auch Zwickel & Co werden Wege finden, den Flächentarifvertrag dermaßen zu modernisieren, daß sich kein Unternehmer mehr daran zu stören braucht. Denn das ist die Überlebensstrategie der Gewerkschaftsbewegung fürs neue Jahrhundert: Sie arbeitet daran, sich als Garant ihrer eigenen Überflüssigkeit unentbehrlich zu machen.