Merkels Land
IV. Die deutsche Gewerkschaft: „Das Stärkste, was die Schwachen haben“
Einer deutschen Gewerkschaft ist auch im 21. Jahrhundert absolut klar, dass die Belange der Lohnabhängigen unter die Räder kommen, wenn sie mit den Arbeitgebern des Landes und ihrem Interesse an immer mehr Leistung zu möglichst niedrigen Lohnkosten alleine gelassen werden, sprich: wenn ‚unternehmerische Willkür‘ herrscht. Ein kämpferischer Eingriff in das herrschende Regelwerk und die Arbeitsbedingungen ist unbedingt nötig, mit ihm aber – dies die gute Nachricht – ein ‚gutes Leben‘ auch möglich: als Resultat kontinuierlicher, kämpferisch durchgesetzter Korrekturen dieser Arbeitsbedingungen. Den nötigen Kampf müssen seine Nutznießer in spe freilich auch führen und ‚Solidarität‘ an den Tag legen, statt sich immer nur als ‚Einzelkämpfer‘ jeder nach seiner Decke zu strecken – und dies ist der eher nicht so gute Teil der Nachricht ...
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Merkels Land IV. Die deutsche Gewerkschaft: „Das Stärkste, was die Schwachen haben“
Aus der Sicht der maßgeblichen deutschen Politiker gibt
es keine offenen sozialen Fragen im Lande: Sie
bewirtschaften sie schließlich. Darin wissen sie sich
dermaßen einig mit denjenigen, deren soziale Fragen sie
bewirtschaften, dass sie den Grad der Zufriedenheit
erheben lassen und in einem Bericht zur Lebensqualität
unter dem Titel Gut Leben in Deutschland
veröffentlichen. Für deutsche Gewerkschaften ist mit
alldem die ‚Soziale Frage‘ allerdings keineswegs
erledigt; sie meinen sogar, sie selbst in die Hand nehmen
zu müssen. In den Worten von IG-Metall-Chef Hofmann:
„Ins Regelwerk eingreifen, Arbeitsbedingungen verbessern – das schaffen wir 1891 und 2016 nur aus einem einzigen Grund: weil wir uns freiwillig zusammentun und weil wir solidarisch handeln... Und Solidarität lebt von einer Einsicht, die 1891 genauso gültig war wie heute. Das gute Leben für jeden Einzelnen ist nur möglich, wenn gemeinsam für dieses gute Leben gekämpft und gestritten wird.“
Einer deutschen Gewerkschaft ist auch im 21. Jahrhundert absolut klar, dass die Belange der Lohnabhängigen unter die Räder kommen, wenn sie mit den Arbeitgebern des Landes und ihrem Interesse an immer mehr Leistung zu möglichst niedrigen Lohnkosten alleine gelassen werden, sprich: wenn ‚unternehmerische Willkür‘ herrscht. Ein kämpferischer Eingriff in das herrschende Regelwerk und die Arbeitsbedingungen ist unbedingt nötig, mit ihm aber – dies die gute Nachricht – ein ‚gutes Leben‘ auch möglich: als Resultat kontinuierlicher, kämpferisch durchgesetzter Korrekturen dieser Arbeitsbedingungen. Den nötigen Kampf müssen seine Nutznießer in spe freilich auch führen und ‚Solidarität‘ an den Tag legen, statt sich immer nur als ‚Einzelkämpfer‘ jeder nach seiner Decke zu strecken – und dies ist der eher nicht so gute Teil der Nachricht: Mit seinem Appell trägt der oberste IG-Metaller der mit Blick auf die Mitgliederstatistik unübersehbaren Tatsache Rechnung, dass die abhängig Beschäftigten in ihrer übergroßen Mehrzahl von ihrem großartigen, in grauer Vorzeit und unter großen Opfern erstrittenen Recht, für die Erträglichkeit der eigenen Lebensbedingungen kollektiv streiten zu dürfen, wenig wissen wollen. Die Sorgen und Nöte, die zweifellos alle mit ihrer Einkommensquelle haben, hat in dieser Republik eben vorrangig jeder für sich. Und sehr zum gewerkschaftlichen Verdruss bewältigt sie vorrangig auch jeder für sich mit den Mitteln, die ihm dafür zur Verfügung stehen, und kümmert sich auf eigene Faust darum, seine notorisch unsichere Lage möglichst sicher zu machen und seine notorisch knappe Kasse möglichst gut zu füllen, um nebenbei in dieser nicht enden wollenden Anstrengung noch seinen ganz persönlichen Lebensentwurf unterbringen zu können. Gegen diese Praxis moderner Proletarier, sich als individuelle ‚Marktteilnehmer‘ aufzuführen, gegen diese Konkurrenz der Lohnabhängigen gegeneinander um ihr jeweils eigenes Fortkommen setzen deutsche Gewerkschaften die Einsicht, dass genau dafür diese Praxis auch immer wieder einmal unterbrochen und die Arbeiterschaft gemeinsam, als gewerkschaftliches Kollektiv um die ‚Marktbedingungen‘ streiten muss.
1. Der Kampf um ‚Gute Arbeit‘
Der ‚gerechte Lohn‘ und die Gesichtspunkte seiner Ermittlung
Zur Beförderung dieser Einsicht werben deutsche
Gewerkschaften mit den Vorteilen, die ihr Einsatz bringt.
Und was könnte zur Veranschaulichung dieser Vorteile
geeigneter sein als ein geeigneter Vergleich? 24
Prozent mehr Gehalt. Vier Stunden weniger Arbeitszeit im
Durchschnitt und sechs Tage mehr Jahresurlaub – das ist
die praktische Seite der Tarifbindung.
Solche und
andere Erfolge erzielen sie als kollektive
Tarifpartei, als die sie in den alljährlichen
Tarifrunden den regelmäßig wiederkehrenden
Korrekturbedarf ebenso regelmäßig seiner passgenauen
Erfüllung, nämlich einem Tarifvertrag zuführen. So
verhelfen sie Metallern, Lokführern, Opelanern und
öffentlich Bediensteten zu dem, was ihnen allen in der
Marktwirtschaft zusteht, nämlich: ‚Ein gerechter
Lohn für ein gerechtes Tagwerk‘, oder moderner: ‚Gute
Arbeit‘.
Was das genau ist, ist je nach Branche,
Lohngruppe und Konjunkturlage ganz unterschiedlich. Die
verschiedenen Gewerkschaften nehmen die vorfindliche
vielfältige ‚Tariflandschaft‘ zum selbstverständlichen
Ausgangspunkt ihrer Forderungen nach Lohngerechtigkeit.
So hält z.B. am oberen Ende der Lohnskala die IG Metall
anno 2016 und angesichts der brummenden Geschäfte der
Metallarbeitgeber 5 % mehr Lohn für finanzierbar, fair
und verdient
. Weiter unten, in der Kindererziehung –
also von einem ‚branchenspezifisch‘ niedrigeren Niveau
ausgehend – sind laut ver.di die hochgeschraubten
pädagogischen Leistungen der Beschäftigten mehr
Wert
, nämlich Höhergruppierungen, die sich sogar
zweistellig bemerkbar machen sollen. Noch weiter unten
gibt es dann eine Logistikbranche, für die dieselbe
‚Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft‘ neben einem
Tarifvertrag auch noch auszuhandeln versucht, dass
bessergestellte Postangestellte vom Haus- nicht in den
dortigen Niedrigtarif abgeschoben und auch
Amazon-Mitarbeiter besser, nämlich nach dem von ihr
ausgehandelten Einzelhandelstarif bezahlt werden.
Wodurch die Arbeitnehmer der verschiedenen Branchen und Betriebe sich die verschiedenen Verdienste verdient haben, die die jeweils zuständige Gewerkschaft für sie erstreiten möchte, ist dann wieder für alle gleich: durch ihre verschiedene Leistung an den verschiedenen Sorten von Arbeitsplätzen, die ihre Arbeitgeber ihnen bereitgestellt haben. Zwecks Untermauerung ihrer Forderungen nach einem gerechten Lohn kommt der ungemütliche Charakter der dafür erbrachten Leistungen ausführlich zur Sprache: die gewachsene Verantwortung, derentwegen Kita-MitarbeiterInnen mehr wert sind, nämlich immer neue pädagogische Anforderungen an das Erziehungspersonal, das längst mit zu großen Gruppen zu kämpfen hat, in die überforderte Eltern ihren ADS-Nachwuchs abschieben; die unzähligen Überstunden, die Lokführer an aufeinanderfolgenden Wochenenden und in flexibler Bereitschaft anhäufen; der vergangene Lohnverzicht in schweren Zeiten, auf den irgendwie so ziemlich alle Beschäftigtengruppen verweisen können... Die beliebig verlängerbare Auflistung hat eindeutig den Sinn, die tagtäglich erbrachten Opfer zu präsentieren, die überhaupt den Nutzen hervorbringen, den die privaten und öffentlichen Arbeitgeber und die von deren Rechnungen abhängige Kundschaft, Bürger oder sonst wie betroffene Menschheit daraus ziehen: Die Mühen der Beschäftigten sorgen z.B. für eine Kinderversorgung, die trotz aller sozialen Verwerfungen für ihre Veranstalter genauso verlässlich funktioniert wie ein kontinuierlicher Bahnverkehr mit kostensparender Unterbesetzung, und sie ermöglichen die satten Gewinne aller stolzen deutschen Erfolgsbranchen. Hier wie dort belegen Opfer wie Nutzen, wie wertvoll der betriebliche und gemeinschaftsdienliche Beitrag ist, den die Arbeitnehmer an ihrem Arbeitsplatz erbringen. Denn wertvoll muss dieser Beitrag sein, und zwar für die Arbeitgeber, denen es schließlich die verbesserten Arbeitsbedingungen abzuringen gilt – Dienstbarkeit für die Stifter der Einkommen ist und bleibt eben das Lebenselixier der abhängig Beschäftigten.
Gemäß der feststehenden Aufgabenstellung, die eigenen Forderungen im Interesse derselben Arbeitgeber unterzubringen, die mit ihren Ansprüchen an Lohn und Leistung ihre Angestellten traktieren, nehmen vorausschauende Gewerkschafter deren vorhersehbaren Konter selbst vorweg. ‚Finanzierbar‘ müssen ihre Forderungen selbstverständlich sein – für die Betriebs- bzw. die öffentliche Haushaltsführung, deren Rechnungen trotz der Abzüge aufgehen müssen, die die Geldansprüche ihrer Belegschaft natürlich darstellen. ‚Fair‘ sind deutsche Gewerkschaften als Tarifpartner darin, dass sie vorher prüfen und feststellen, ob sprudelnde Steuereinnahmen der öffentlichen Hand bzw. die aus der Belegschaft herausgewirtschaftete Ertragslage der Unternehmen auch wirklich den famosen ‚Schluck aus der Pulle‘ zulassen. Sie kennen einen ‚verteilungsneutralen Spielraum‘, innerhalb dessen ihre Forderungen die Kalkulation der Gegenseite nicht schädigen, also in Ordnung gehen; und der Umstand, dass die besagte Kalkulation umso besser aufgeht, je weniger die Arbeitnehmer von ihrer immer produktiver gemachten Arbeit haben, schlägt sich aus Sicht der Gewerkschaft als notorische Verteilungsungerechtigkeit nieder, der es mit einer ‚Umverteilungskomponente‘ entgegenzuwirken gilt; auch die steigenden Preise der Waren, die die Unternehmer flächendeckend teurer auf den Markt werfen, gehen in die gewerkschaftliche Rechnung ein: Ein ‚Inflationsausgleich‘ kostet die Unternehmer zwar Geld, wird ihnen aber in der Sicht der Gewerkschaft nicht wirklich weggenommen, weil es ohnehin direkt zu ihnen zurückfließt.
Genau die von ihnen ins Spiel gebrachten Kriterien werden den Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen von den Arbeitgebern wieder mit umgekehrten Vorzeichen entgegengehalten. Man nimmt die Gewerkschaften in ihrer verantwortungsvollen Dienstbereitschaft beim Wort, um ihre Forderungen als ‚überzogen‘, als Fall falschen Anspruchsdenkens zurückzuweisen. Gewiss sind die Leistungen der Belegschaften verdienstvoll, aber in € eben weniger wert. Denn um auch in Zukunft weiterhin Arbeitsplätze zur Verfügung stellen zu können, muss sich der Aufwand dafür in den Grenzen halten, die die wirklichen Herren der Kalkulation mit Kosten und Gewinnen und öffentlichen Haushaltsposten nun einmal besser kennen: Jedes halbe Lohnprozent addieren sie zu Millionensummen, die die kostbaren Arbeitsplätze endgültig unrentabel bzw. den Steuerzahler arm zu machen drohen. Jedes Zugeständnis in Sachen Arbeitszeit gefährdet die flexible Handhabung von ganz viel oder ganz wenig Arbeit, die deutsche Unternehmen für ihren Welterfolg genauso unbedingt brauchen wie staatliche Institutionen, die die Kinder der Betroffenen zu vertretbaren Kosten aufbewahren, etc. Und ob ein Inflationsausgleich bei der niedrigen Inflationsrate noch Sinn macht? Angesichts solcher von den Gewerkschaften nicht einfach von der Hand zu weisenden Einwände werden deren Forderungen zu der Verhandlungsmasse, als die sie ohnehin konzipiert waren; unter Verweis auf die jeweils passende Spielart von Gerechtigkeit werden dann die besonderen Leistungen und die Verantwortung des Führungspersonals gegen die besonderen sozialen Nöte der unteren Lohngruppen abgewogen, die Bedürfnisse der verbrauchten Frührentner gegen die Existenzunsicherheit der Azubis in Anschlag gebracht, Lohnprozente gegen Arbeitszeit verrechnet usf. Am Ende verdeutlicht eine simple, von beiden Seiten leicht abweichend bezifferte Prozentzahl den gemeinsamen Nenner, unter dem die für die Betroffenen so disparaten Größen negativ kommensurabel sind: Sie gibt die Gesamtwirkung auf die Kosten an, zu denen all die Arbeitsplätze wirklich ‚finanzierbar‘ bleiben, und damit ‚das Beste, was rauszuholen war‘.
Für eine solche Einigung mit dem Arbeitgeberlager sind
natürlich auch in Merkels Land mehr als gute Argumente
und Verhandlungsgeschick nötig. Dass Unternehmen und
öffentliche Arbeitgeber nicht wegen der
erbrachten Leistungen einen ‚angemessenen‘ Lohn zahlen,
sondern zu Zugeständnissen immer erst genötigt werden
müssen, ist schließlich der Ausgangspunkt, der die
Gewerkschaft als Macht auf den Plan ruft. Und der Inhalt
dieser Macht besteht nun einmal darin, als Kollektiv der
Arbeiter den Beweis antreten zu können, dass diejenigen,
die die Arbeitskräfte gewinnbringend um Arbeitsplätze
konkurrieren lassen, darin auch von denjenigen abhängig
sind, die einen solchen unbedingt zum Leben brauchen. Den
augenscheinlichen Widerspruch, dass die Lohnabhängigen
ihr fair bemessenes und wohlverdientes Recht erstreiten
und immer wieder erstreiken müssen; den bleibenden
Gegensatz, der darin zum Ausdruck kommt, erledigt eine
moderne Gewerkschaft theoretisch mit einem
beeindruckenden Unterscheidungsvermögen. Am
kapitalistischen Geschäftsgetriebe unterscheidet die
Arbeitervertretung zwischen einem fürs Allgemeinwohl
dienlichen Wirtschaftsfortschritt, für den sie sich stark
macht, und einem moralisch verwerflichen, bloß privaten
Bereicherungsinteresse: Wir wollen Wachstum, sie
wollen Profit.
(IG
Metall) Die kollektive Macht der Lohnarbeiter
richtet sich zwar in der Praxis gegen ihre privaten oder
staatlichen Dienstherren, ist aber im Interesse aller,
wenn sie dem systematischen Charakterdefizit namens
‚Profitgier‘ exakt auf Höhe des grundvernünftigen
marktwirtschaftlichen Wachstumsprinzips Grenzen setzt
bzw. den ‚Sparwahn‘ öffentlicher Kassenwarte auf sein
solides Normalmaß zurechtstutzt. Diesem widersprüchlichen
Kampf darum, die Vereinbarkeit der Interessen
von ‚Arbeitgebern‘ und ‚Arbeitnehmern‘ immerzu neu zu
erzwingen, widmen sich deutsche Gewerkschaften
mit einer klugen Handhabung des zweischneidigen
Erpressungshebels namens Streik.
Bei dessen wohl zu dosierendem Einsatz gilt es einiges zu
beachten, schließlich unterzieht er die Einsicht der
Mitglieder in die Notwendigkeit des gewerkschaftlichen
Kollektivismus einem Härtetest: Für die Verbesserung
ihrer Arbeits- und Entlohnungsbedingungen sollen sie
temporär auf Lohn verzichten, obwohl und weil für die
Lohnabhängigen – wie der Gattungsname besagt – alles
darauf ankommt. In dieses reichlich widersprüchliche
Kalkül geht ein, dass mit der zu erstreitenden Einigung
in einer Hinsicht garantiert alles beim Alten bleibt:
Hinterher muss wieder jeder als Einzelkämpfer an seinem
Arbeitsplatz aus dem gemeinsam erstrittenen Ergebnis für
sich das Beste machen. Um die
‚Mobilisierungsbereitschaft‘ ihrer Mitglieder kümmern
sich deutsche Gewerkschaften daher erstens mit einer
Streikkasse, die die Mobilisierung überhaupt aushaltbar
machen soll; zweitens mit Streikzielen, die einen vagen
Anhaltspunkt für die Frage geben, ob der ganze Aufwand es
wert ist; drittens mit einem höheren Wert,
nämlich der Urtugend der Solidarität
. Mit der
Berufung auf den guten Gemeinschaftsgeist ihrer
Mitglieder wird die Einsicht in die Notwendigkeit eines
kollektiven Kampfes, für den die Mitglieder einander
brauchen, in eine Frage des Anstands überführt, den sie
einander schulden und der der begrenzten Zielsetzung
ihres Kampfes durchaus entspricht. Für die knifflige
Frage, wann der Anstand Mobilisierung und wann er
Zurückhaltung erfordert, hat eine solidarische
gewerkschaftliche Basis ihre Führung, die auch fürs
rechte Maß beim Streiken sorgt. Die Gegenseite soll
schließlich unbedingt zu einer ‚fairen Einigung‘
hinmanipuliert werden, was sich aber in einem
freiheitlichen Wirtschaftssystem definitionsgemäß nicht
erzwingen lässt. Daher greifen verantwortungsvolle
deutsche Gewerkschaften zur ‚Ultima Ratio‘ Streik nur
dann, dann aber auch im Bewusstsein absoluter moralischer
Legitimität, wenn die Arbeitgeber den Willen zur Einigung
trotz aller wohlmeinenden Warnungen einfach nicht
aufbringen und damit die Gewerkschaft ‚zwingen‘, sie zur
Räson, dabei aber selbstverständlich nicht um ihren
Erfolg zu bringen. Der tischt schließlich erst den Kuchen
auf, von dem sich die organisierten Arbeitnehmer ihr
gerechtes Stück erstreiten wollen.
Was aus all dem konkret folgt, ist auch im Deutschland des frühen 21. Jahrhunderts nicht eindeutig entschieden. Der gewerkschaftliche Mainstream hat das Ideal zur Perfektion entwickelt, mit Warnstreiks bereits den Schaden, den man dem Arbeitgeber zufügen könnte, aber ersichtlich nicht zufügen will, so erzieherisch wirksam werden zu lassen, dass der echte Streik sich erübrigt. Angesichts der Resultate dieser Kunst können Zweifel an solcher Einvernehmlichkeit allerdings nicht ausbleiben – insbesondere bei ‚Spartengewerkschaften‘, die um die ‚Schlüsselstellung‘ und daher die Schlagkraft ihrer Mitglieder wissen und diese – etwa durch Lahmlegung von Bahn- und Flugverkehr – glatt einsetzen: Prompt ziehen sie sich von Seiten des DGB den Vorwurf zu, mit ihren überzogenen Forderungen und übertriebenen Kampfmaßnahmen die unabdingbare Voraussetzung der gewerkschaftlichen Verhandlungstätigkeit, ihre Anerkennung als konstruktive Kraft durch die Arbeitgeber, womöglich sogar den guten Ruf der Gewerkschaften in der Gesellschaft aufs Spiel zu setzen. Außerdem untergraben sie laut DGB mit derlei Kämpfen den Höchstwert der Gewerkschaft überhaupt, die Solidarität, Grundlage aller gewerkschaftlichen Macht, die heute doch Maßhalten für alle erfordert: Setzt sich eine Gewerkschaft im Interesse ihrer Klientel über den ‚Spielraum‘ hinweg, den das Kapital mit seinen jeweiligen Konkurrenzbedürfnissen absteckt, dann nimmt sie nach dem Dafürhalten des DGB nicht etwa der Gegenseite, sondern vor allem den Kollegen Geld weg.
Mit welcher Kombination aus Kampf und Einvernehmlichkeit auch immer ein Tarifvertrag zustande kommt, die ‚unternehmerische Willkür‘ wird in jedem Fall ausgebremst: Moderne Arbeitsplätze werden nach qualitativ und quantitativ unterschiedlichen Leistungsanforderungen genauestens unterschieden, denen dann der jeweiligen Branche gemäß ganz objektiv und verbindlich ein (Mindest-)Entgelt zugeordnet wird. Das ist natürlich nicht das Ende der unternehmerischen Freiheit, denn schon der Name der mit Unterzeichnung in Kraft tretenden ‚Friedenspflicht‘ erinnert daran, dass die Gewerkschaften bis zur nächsten Tarifrunde einige Modifikationen des Verhältnisses von Lohn und Leistung friedlich zu schlucken haben. Eben diese Maßnahmen nimmt die Tarifordnung mit ihren Mantel- und Rahmentarifverträgen möglichst vorweg, um sicherzustellen, dass es bei allen Veränderungen der Arbeitsplätze und -abläufe, Entlassungen und Einstellungen, Umgruppierungen etc. mit rechten Dingen, also wie vereinbart zugeht. So wissen die Betroffenen immerhin, dass die Umwälzungen ihrer Arbeits- und Lebensverhältnisse, die sie zu gewärtigen haben, in Ordnung gehen – es sei denn, ein Arbeitgeber nimmt Klagen der Gewerkschaft und mögliche Strafen in Kauf, um in der Zwischenzeit noch ganz andere Fakten zu schaffen. Solche skandalösen Ausnahmen kommen in dieser sozialen Republik zwar mit ärgerlicher Regelmäßigkeit vor, beweisen den deutschen Gewerkschaften aber nur den Segen der Regel: des regelgerechten, auf allen Ebenen mitbestimmten Kommandos über die Arbeit.
Das ist er dann, der Stolz der deutschen Gewerkschaften, das umfassende Ordnungssystem der Arbeitswelt, das sie mitgestalten, die Sorte ‚gutes Leben‘, die mit solchermaßen gewerkschaftlich groß geschriebener ‚Guter Arbeit‘ zu haben ist. Dank gewerkschaftlicher Beteiligung findet Ausbeutung von Lohnarbeit heutzutage in einem total objektiven und mit dem Stempel ‚sozial gerecht‘ versehenen Rahmen statt, in dem Unselbständige ihr Interesse an einem möglichst guten Auskommen mit dem Einkommen in aller Freiheit verfolgen können: Man kann sich für eine höhere Lohngruppe bewerben und qualifizieren, länger oder besser arbeiten als der vereinbarte Durchschnitt, wenn der Tarif so etwas vorsieht; Defizite in Sachen Qualifikation lassen sich mancherorts mittels Zulagen durch die Inkaufnahme von besonders viel Lärm und Schadstoffen kompensieren usw. Mit Sicherheit ungerecht in dieser Konkurrenz ums Geldverdienen ist alles, was den geltenden Vereinbarungen nicht entspricht, da steht die Gewerkschaft den Betroffenen mit Rat und Tat zur Seite. Die Arbeit geht ihr aber auch da nicht aus, wo alles mit rechten Dingen zugeht: Arbeitgeber geben ihren ständig neuen und verschärften Anforderungen gerne die Gestalt von ‚Chancen‘, also Angeboten an den notorischen Geldmangel ihrer Arbeitnehmer, finden bei Bedarf aber auch ohne pekuniären Extra-Anreiz ‚engagierte Mitarbeiter‘ für die Arbeitsplätze, die sie permanent renovieren, also allemal konkurrenzbeflissene, willige Erfüllungsgehilfen für ihr Profitinteresse. Andere Arbeitsgelegenheiten hat Merkels Land schließlich nicht im Angebot. Und so kommt noch jedes vereinbarte Tarifgefüge ziemlich automatisch wieder in die ‚Schieflage‘, die im Folgejahr nach Korrektur durch die Gewerkschaft verlangt.
‚Beschäftigung‘ und die unabdingbaren Notwendigkeiten zu ihrer Sicherung
Die Daueraufgabe der gewerkschaftlichen Tarifpolitik, im
Kampf um ‚Gute Arbeit‘ den Angriffen der Arbeitgeberseite
korrigierend hinterherzulaufen, schließt die bange Frage
nach dem Ob
bzw. Wie viel
der
Beschäftigung, eben der Gelegenheiten zum Arbeiten, das
da gut werden soll, allemal ein. Seit geraumer Zeit ist
diese Reflexion auf die unverzichtbare Bedingung des
gewerkschaftlich organisierten Interesses – dass es die
Arbeitsmöglichkeiten überhaupt gibt, auf deren
Ausgestaltung sich dieses Interesse richtet – zur
Richtschnur seiner Verfolgung geworden, und moderne
Gewerkschaften kümmern sich um
‚Beschäftigungssicherung‘: Die Arbeitsplätze,
die die Voraussetzung und Bezugsgröße des Kampfes um
‚Gute Arbeit‘ bilden, sind heutzutage dermaßen prekäre
Existenzen, dass die Arbeitervertretung eigentlich immer
gerade damit befasst ist, sie entweder vor übermäßigem
Abbau zu schützen, sie in ihrem Bestand zu erhalten oder
sich im besten Fall für ihren Aufbau einzusetzen. Das ist
keine leichte Aufgabe, weil dafür erstens nun einmal die
Arbeitgeber zuständig sind und sich deren namengebende
Tätigkeit zweitens von der Bedrohung derselben
Arbeitsplätze nur schwer unterscheiden lässt. Denn wenn
Unternehmensführungen Arbeitsplätze abbauen, outsourcen,
ins Ausland verlagern, durch Zeitarbeiter oder
Werkverträgler ersetzen oder ‚Tarifflucht‘ begehen, um
aus der verbleibenden Arbeit mehr Ertrag
herauszuwirtschaften, dann mag ihr unausbleiblicher
Verweis auf die Sicherung der Wettbewerbsfähigkeit ‚im
Interesse der Arbeitsplätze‘ noch so verlogen sein: an
der Anerkennung dieses Kriteriums als Voraussetzung eines
solidarisch zu erstreitenden guten Lebens kommt eine
Gewerkschaft einfach nicht vorbei, es gilt nun
einmal. ‚Beschäftigungssicherung‘ bedeutet auch auf
gewerkschaftlich in der Sache nichts anderes als die
Sicherung der Konkurrenzfähigkeit der Unternehmen.
Eine verantwortliche Gewerkschaft kann das freilich keinesfalls den Arbeitgebern überlassen, will sie den Betroffenen ‚unnötige Härten‘ ersparen: So viele Entlassungen, wie vorgesehen, sind bestimmt nicht nötig, mit ein bisschen kollektivem Lohnverzicht und Flexibilisierung kann man Arbeitsplätze retten, nämlich rentabler machen. Solche Zugeständnisse machen deutsche Gewerkschaften aber nur gegen das unternehmerische Garantieversprechen, dass die auf diese Weise rentabel gemachte Arbeit auch angewandt wird – was regelmäßig darauf hinausläuft, sie exakt so lange anzuwenden, wie es sich für die Firma rentiert: Erst dann schließt sie den Betrieb. Im Vergleich zu solch bitteren Pillen ist es zweifellos besser, es dazu gar nicht erst kommen zu lassen, etwa mittels Öffnungsklauseln, mit denen Unternehmer im Falle geschäftlicher Schieflagen ihre Belegschaften tarifvertragsgemäß dafür haftbar machen, dass sich ihre weitere Beschäftigung lohnt. In jedem Fall ist gewerkschaftliche Differenzierungskunst verlangt, um echte Geschäftsnotwendigkeiten, denen man Rechnung tragen muss, von bloßer Unzufriedenheit mit der Gewinnlage zu scheiden, die keine Abweichung vom Tarif rechtfertigt – eine Entscheidung, die, davon gehen am großen Ganzen orientierte Gewerkschaften aus, besser nicht dem Betriebsrat des betroffenen Unternehmens überlassen bleiben sollte, auch wenn der aus den eigenen Reihen kommt. Der ist nach langjähriger gewerkschaftlicher Erfahrung nämlich zumeist empfänglich für eine übertriebene Auslegung der Gleichung, dass gut für die Belegschaft ist, was gut für den Betrieb ist, der sich an ihren Diensten bereichert. Als gar nicht übertriebene Normalität gelten dagegen inzwischen Tarifverträge, die gleich ganz allgemein die Ausnahme der Öffnung als Regel vorsehen.
Was gut für die Beschäftigung ist, kann an der tarifvertraglichen Norm nicht spurlos vorbeigehen. Die Millionen Arbeitslosen, die bei Tarifverhandlungen immer mit am Tisch sitzen, beweisen der Gewerkschaft, dass es die wettbewerbsfähigen Arbeitsplätze nicht gibt, die es bräuchte, um sie zu beschäftigen. Von daher geraten die Konkurrenzbedingungen des nationalen Standorts überhaupt in den Blick, und da entpuppen sich auch ihre eigenen Errungenschaften als Schranken des Wachstums, ohne das kein Beschäftigungszuwachs zu haben ist. Also leisten die Gewerkschaften ihren Beitrag zum deutschen Beschäftigungswunder: mit Arbeitszeitmodellen, deren Attribut ‚flexibel‘ nicht falsch zu verstehen ist; mit Tarifabschlüssen, die sich über die Jahre in Reallohnverlusten niederschlagen; mit der Fixierung von Niedriglohngruppen auch in den besseren Branchen; mit Entgeltmodellen, die die Bezahlung explizit an den Betriebserfolg koppeln. Und wenn trotz dieser zur Normalität gewordenen tarifpolitischen Errungenschaften die Anstrengungen der Unternehmen nicht nachlassen, die Arbeit ihrer Belegschaften ganz ohne gewerkschaftliche Mitbestimmung noch ertragreicher zu organisieren, dann wissen deutsche Gewerkschaften auch darauf eine Antwort: den offensiven, flexiblen Einsatz ihrer Tarifmacht. Ein Boom der Leiharbeit ist zwar ärgerlich, beschäftigt aber Millionen, für die – wenn es sie nun einmal gibt – eine fürsorgliche Gewerkschaft einfach zuständig ist. So avanciert dank gewerkschaftlicher Mitwirkung das Geschäft mit der kostensenkenden Untervermietung von Arbeitskraft aller Art zu einer eigenen ‚Zeitarbeitsbranche‘, deren Beschäftigte seit 2015 den passenden Tariflohn verdienen, mit dem sich für die Leihbetriebe die attraktiven Billiglohnangebote verfertigen lassen, die die Leiharbeitsplätze sichern.
Deutsche Gewerkschaften sind insgesamt ziemlich zufrieden
mit ihren Anstrengungen, die ‚Arbeit der Zukunft‘
selbstbewusst zu gestalten. Sie gehen die Anforderungen
an, die ‚Globalisierung‘ und ‚Digitalisierung‘, also die
Zukunft schon heute an die Beschäftigung stellt und die
sich extrem vergangenheitsorientiert auf
Kostenoptimierung zwecks Gewinnmaximierung reimen. Der
ohnmächtige Hebel, den die Arbeitervertretung in Sachen
‚Beschäftigungssicherung‘ zu bieten hat, nämlich die
sozialfriedliche Abwicklung der nötigen Opfer der
Umwälzung aller Beschäftigungsverhältnisse, fällt ganz
einfach zusammen mit dem elementarsten Dienst an ihrer
Klientel: dem ‚Erhalt‘ genau der Arbeitsplätze, die es
jeweils gibt, und die genau so ausgestattet und
ausgestaltet sind, wie es die Unternehmensrechnung
gebietet. Wenn sie mit dieser Tarifpolitik nach eigener
Auskunft die Strahlkraft des
Normalarbeitsverhältnisses
sichert, das sich durch
sichere Arbeit, geschützt durch Gesetz und Tarifverträge,
festes und ausreichendes Einkommen auszeichnet
, dann
lebt diese Strahlkraft ganz sicher nicht von einer
nüchternen Prüfung der Frage, wofür diese Einkommen
ausreichen und wie sicher und fest sie der Schutz durch
Gewerkschaft und Sozialstaat eigentlich macht. Strahlend
ist das alles nur im Vergleich zur wachsenden Welt der
‚atypischen‘ Beschäftigung, die die Gewerkschaften heute
herausfordert.
2. Der Kampf um Soziale Sicherheit
Anno 2017 erstreckt sich die tarifpolitische Zuständigkeit der deutschen Gewerkschaften nur noch auf etwas mehr als die Hälfte der abhängig Beschäftigten. Und neben der vielbeklagten Tarifflucht, dem Dauereinsatz von Zeitarbeit, Praktika und Kettenbefristung, Minijobs und ausländischen Wanderarbeitern hebeln deutsche Unternehmen und z.T. auch öffentliche Arbeitgeber die gewerkschaftlichen Eingriffsmöglichkeiten in die ‚Gestaltung der Arbeitswelt‘ darüber aus, dass sie die Arbeit gar nicht mehr von ‚abhängig Beschäftigten‘ verrichten lassen. Sie schreiben zu erledigende Tätigkeiten kreativ als ‚Werke‘ aus, um deren Vergabe sie ‚Soloselbständige‘ konkurrieren lassen; im IT-Sektor erledigen ‚Crowdworker‘ ihr ‚Clickwork‘, indem sie einander ganz selbständig im Buhlen um Aufträge unterbieten und dergleichen mehr: Arbeitsalltag für ein Prekariat, das den größten Niedriglohnsektor Europas bevölkert – und viel zu tun für eine Gewerkschaft, die ihren Anspruch auf Interessenvertretung auf alle Lohnabhängigen erstreckt.
Letztlich ist doch nur sozial, was ‚Arbeit schafft‘!
Mit dem bloßen Anspruch müssen deutsche Gewerkschaften
sich auch dort nicht begnügen, wo sie über keine
wirksamen Ansatzpunkte verfügen. In der deutschen
sozialen Marktwirtschaft kennen sie den Staat
als Ansprechpartner, der sich der Leiden der
Lohnabhängigen auf seine Weise längst umfassend
angenommen hat – als die ‚soziale Frage‘, die er stets im
Griff haben will. Er hat dem lohnabhängigen Teil seiner
Bevölkerung nicht nur die allgemeinen Bürgerrechte
spendiert, sondern lauter soziale Extravorkehrungen, die
die ‚sozial Schwachen‘ zum Leben unbedingt brauchen. Auf
dessen Macht zur Korrektur auch der modernsten prekären
Verhältnisse setzt der DGB und erteilt sich den Auftrag,
die Inhaber der Staatsmacht von den vielen
Korrekturnotwendigkeiten zu überzeugen. Dass die
angesprochene Korrekturinstanz selbst maßgeblich an der
Herbeiführung der beklagten Zustände beteiligt ist,
beweist den gewerkschaftlichen Liebhabern des
Sozialstaats nur umso deutlicher, wie unentbehrlich sie
dafür sind, die Politiker auf den rechten Weg
zurückzuführen. Und sie beweisen, wie robust diese Liebe
ist, wenn sie die mit den verhassten Hartz-Gesetzen
begonnenen Reformen des Sozialstaats unter den
irreführenden Begriff der ‚Deregulierung‘
fassen: In den neuen Regeln des Arbeitsmarkts,
die gewiss nicht weniger geworden sind darüber, dass sie
so eindeutig unternehmerfreundlich ausfallen, sehen sie
die Abwesenheit von Regeln; der staatliche
Angriff auf die Interessen der Lohnabhängigen – das
berühmte ‚Besitzstandsdenken‘ – wird als
Unterlassung dessen gedeutet, was doch die
eigentliche, schützende Aufgabe des Staates wäre, deren
entschlossene Inangriffnahme die lohnabhängige Mehrheit
so dringend braucht. Deswegen ist eine Neuordnung des
Arbeitsmarktes durch
– eben – den Gesetzgeber
unerlässlich
– und wofür? – um unsichere
Beschäftigungsverhältnisse zu begrenzen
. Das
Leitmotiv: Sozial ist, was Arbeit schafft
macht
sich der DGB zwar nicht zu eigen, hinter seine brutale
Wahrheit will aber auch er nicht zurück: Der
Missbrauch von Zeitarbeit, Werkverträgen,
Befristung und Minijobs gehört bekämpft, ihr
Gebrauch geht nämlich in Ordnung, solange
deutsche Unternehmen sie für ihr Wachstum brauchen und so
‚Beschäftigung sichern‘. In der Festlegung der
richtigen Grenzen durch die Politik liegt das
Ziel gewerkschaftlicher Lobbyarbeit, die damit genau an
der richtigen Adresse ist. Denn Arbeitnehmerfreunde mögen
es dem deutschen Staat zwar vorwerfen, aber so
kurzsichtig, das Soziale aus dem Blick zu verlieren,
gerade wenn er die Lohnzahlung auf seinem Standort
ausdrücklich davon befreit, einen Lebensunterhalt
gewährleisten zu sollen, ist er wirklich nicht. Es sind
in der Tat seine sozialen Gesichtspunkte, auf
die sich die Vertreter der Lohnarbeiterbelange berufen,
um von der Politik Verbesserungen einzufordern, die oft
genug nur darin bestehen, weitere Verschlechterungen zu
bremsen.
So verweisen Gewerkschafter gerne auf die nachteilige
Wirkung der ‚atypischen‘ Beschäftigungsformen nicht nur
auf die Konten der Arbeiter, sondern auch auf die
staatlichen Sozialkassen, die mit der klassischen
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung von
Stammbelegschaften doch viel verlässlicher aufgefüllt
werden. Wenn aber die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts
bei realistischer Betrachtung nur mit einem gehörigen
Anteil von ‚working poor‘ zu sichern ist, dann
wirbt der DGB für eine Regulierung, die drohenden
Folgeproblemen wie Alters- und
Kinderarmut Rechnung trägt. Und wenn trotz aller
guten Argumente für die Berücksichtigung der sozialen
Interessen ihrer Klientel die Neuregelung der Zeitarbeit
auch wieder zu wünschen übrig lässt, der Missbrauch von
Werkverträgen partout nicht eingedämmt wird und
Flüchtlinge integrationsförderlich zum Sonderangebot im
Billiglohnbereich hergerichtet werden, dann kennen
Gewerkschafter immer noch einen unschlagbaren Einwand
gegen solch unsoziale Fehlgriffe: Wir dürfen keine
Standards aufgeben, weder bei den Arbeitsbedingungen noch
beim Mindestlohn. Wir brauchen sie weiterhin als untere
Haltelinie, um die Spaltung nicht nur des Arbeitsmarkts,
sondern der Gesellschaft zu verhindern.
Das von ihnen
betreute Arbeitnehmerinteresse behandeln deutsche
Gewerkschafter ziemlich schamlos als von
Haltelinien
einzuzäunende Restgröße, für die sie
als soziale Rechtsanwälte und Wortführer eines
gesamtgesellschaftlichen ‚Wir‘ gegenüber dem Staat
eintreten: Die Begünstigten müssen sich in ihren
Umständen aufgehoben sehen und nicht aus der Gemeinschaft
ausgeschlossen fühlen! Das ist das elementare
demokratisch-marktwirtschaftliche Versprechen der
‚gesellschaftlichen Teilhabe‘ – so viel sozial muss sein.
Dass der von der ansonsten drohenden ‚sozialen Spaltung‘
betroffene Staat dann nach seinem Kalkül
verbindlich festlegt, wie viel das ist, ist im Preis
einer solchen gewerkschaftlichen Interessenvertretung
inbegriffen.
Nirgends zeigt sich der gewerkschaftliche Sinn für die
Kalkulationen, von denen die ihrer Mitglieder abhängen,
deutlicher als beim gesetzlichen Mindestlohn. Schon in
der langjährigen Werbung für das Gesetz zur ‚Verhinderung
von Lohnarmut‘ führt der DGB die Vorteile an für die
Konjunktur, für den fairen Wettbewerb der
Unternehmerschaft, für die Entlastung des Staatshaushalts
etc. – so selbstverständlich gehen die gewerkschaftlichen
Anwälte staatlicher Schranken der Lohndrückerei davon
aus, dass das von ihnen vertretene Interesse eine
abhängige Variable der maßgeblichen Interessen
von Unternehmerschaft und Staat ist; und genauso
selbstverständlich ist ihnen, dass die Gewerkschaft als
Organisation der Arbeiterschaft den Verschlechterungen
der Lebenslage der Lohnabhängigen nichts entgegenzusetzen
hat, die sich in ihrem alternativlosen Bemühen um ihr
individuelles Einkommen für Löhne verdingen, die keinem
mehr ein Auskommen bieten. Das wird absehbar auch so
bleiben, das steht für die Arbeitervertretung felsenfest,
so dass eben nur der Staat da einen Boden
einziehen kann. Was den arbeitnehmerfreundlichen Gehalt
der gesetzlichen Regelung ausmacht, den die heutige
Gewerkschaft da feiert, so hat Marx den bereits im
vorletzten Jahrhundert kritisch auf den Punkt gebracht:
Zum Schutz gegen die ‚Schlange ihrer Qualen‘ müssen
die Arbeiter ihre Köpfe zusammenrotten und als Klasse ein
Staatsgesetz erzwingen, ein übermächtiges
gesellschaftliches Hindernis, das sie selbst verhindert,
durch freiwilligen Kontrakt mit dem Kapital sich und ihr
Geschlecht in Tod und Sklaverei zu verkaufen.
Im
Vergleich zum damaligen Streit für eine gesetzliche
Beschränkung des Arbeitstages ist allerdings ein
entscheidender gesellschaftlicher Fortschritt
unverkennbar: Der moderne Sozialstaat erspart den
Arbeitern und ihrer Gewerkschaft die Probe aufs Exempel,
ob sie sich angesichts der ruinösen Konsequenzen ihrer
eigenen Konkurrenz je wieder zusammengerottet hätten, um
dem Staat ein Gesetz abzutrotzen, und spendiert ihnen
nach nur zehn Jahren Überzeugungsarbeit den Mindestlohn
glatt von sich aus. So viel sozialstaatliche Fürsorge
gegen allen Widerstand der Unternehmerschaft bestätigt
der Gewerkschaft ihr prinzipiell gutes Bild von der
Republik: Mindestlöhne schaffen würdigere
Arbeitsbedingungen. Existenz sichernde Einkommen sind ein
Zeichen des Respekts für getane Arbeit.
Das ist sie
also, die aktuell-zeitlose Elementarfassung des
marktwirtschaftlichen Lohninteresses, für dessen
Vertretung die Gewerkschaft zuständig ist und für dessen
Erfüllung es der Staatsgewalt bedarf: Die materielle
Wertschätzung der Arbeit muss dem Kriterium genügen, die
moralische Wertschätzung zu belegen, die die Arbeit
verdient.
Wie hoch der Lohn dafür sein muss, ist natürlich nicht eindeutig zu beantworten, mit dem Kriterium des gesetzlichen Existenzminimums, an dem sich der Mindestlohn, hochgerechnet auf eine Vollzeitstelle, bemisst, aber ziemlich treffend auf den Begriff gebracht. Dass er – im wohlverstandenen Interesse derjenigen, für die der Verlust eines nicht mehr rentablen Arbeitsplatzes allemal ein größeres Übel darstellt als ein Hungerlohn – nicht zu hoch sein darf, weiß auch die Gewerkschaft, deren Vertreter der Staat deswegen beruhigt in die zuständige Mindestlohnkommission berufen kann. Und die gute Nachricht lautet: Die 8,50 € haben keine Arbeitsplätze vernichtet und können getrost auf 8,84 € angehoben werden.
Dabei gilt für das Mindestlohngesetz natürlich wie für alle Beschränkungen der unternehmerischen Freiheit: Bloß weil sie Gesetz sind, gelten sie nicht einfach – da kennen sich deutsche Gewerkschaften, durch 125 Jahre Erfahrung geschult, aus. Jederzeit ist damit zu rechnen, dass findige Unternehmer den Mindestlohn nur auf dem Papier bezahlen und ihre Beschäftigten falsche Stundenzettel unterschreiben, weil sie um ihren Job fürchten. Das Interesse, mit dem es die Gewerkschaften zu tun haben, ist schließlich so sehr das gesellschaftlich herrschende, dass die von ihm benötigten ‚Grauzonen‘ bisweilen ziemlich flächendeckend ausfallen. Genau diese Praktiken des Unterlaufens von Mindestlohn, Entsendegesetz etc. beweisen der Gewerkschaft umgekehrt die Notwendigkeit und Nützlichkeit der staatlichen Gewalt, also des eigenen Kampfs um ‚soziale Sicherheit‘: Sie macht sich praktisch – ob ausdrücklich berufen oder nicht – zum Anwalt von Niedriglöhnern, ausländischen Billigarbeitern und wie auch immer sonst noch Benachteiligten, denen nur mit einem kollektiven Rückhalt überhaupt zu dem Recht zu verhelfen ist, das sie als Individuen nur auf dem Papier haben. In deren Namen übernimmt sie die Rolle des Wächters über die Einhaltung der staatlichen Reglementierungen des Billiglohnsektors.
Die „Arbeitswelt von morgen“ und die Gewerkschaft schon heute: „flexibel“
Um soziale Sicherheit für alle Arbeit zu
gewährleisten und speziell die der Zukunft in Richtung
‚Gute Arbeit‘ zu steuern, reicht es heute aber nicht mehr
aus, auf Mindestrechten und ihrer Einhaltung zu bestehen.
Denn die Digitalisierung bedeutet einen revolutionären
Umbruch – zurück zu einer Individualisierung und
Vereinzelung der Arbeitnehmerschaft. Die Arbeiter von
heute, das sind immer mehr Soloselbstständige, Click- und
Crowdworker, oft ohne jede Rechte. Mit diesen Umwälzungen
in der Arbeitswelt verändert sich auch die Rolle der
Gewerkschaften. Gerade ihnen kommt eine Schlüsselfunktion
bei der Gestaltung der Arbeitswelt von morgen zu.
Um
einen tieferen Einblick in die Umwälzungen zu bekommen,
die die Digitalisierung
in Gestalt tätiger
Unternehmensleitungen so mit sich bringt, erhebt die
Gewerkschaft eigens Fakten zum ‚digitalen Prekariat‘ und
stellt fest: Es gibt weder feste Arbeitszeiten noch
Urlaubsanspruch oder Kündigungsschutz; mit bis zu 80
Stunden Arbeit 4.0 in der Woche kommt man auf
durchschnittlich 1500 € im Monat, und in Bezug auf
unser Sozialversicherungssystem
ist ein
Totalausfall namens Schutzlücke
zu vermelden.
Erwartungsgemäß herrscht auch in dieser Sphäre der
Arbeitswelt alles andere als Zufriedenheit, was aber noch
lange keinen Ruf nach der Gewerkschaft erschallen lässt.
Dem stehen nicht nur die individualisierten
Beschäftigungsformen entgegen, sondern auch die
Beschäftigten selbst, die es sich als persönliche
Freiheit zurechtlegen, das vorgegebene Arbeitspensum
individuell um die sonstigen Notwendigkeiten des Alltags
herum gruppieren zu können.
Durch diesen repräsentativen Vorgeschmack auf die
Arbeitswelt von morgen
sehen sich die
Gewerkschaften als ordnungspolitische Kraft im Land
herausgefordert. Den neuen Gegebenheiten gilt es mit
anspruchsvollen neuen Formen von Regulierung
zu
begegnen, mittels derer der Staat nicht weniger als den
Arbeitnehmer-, Arbeitgeber- und Betriebsbegriff
neu zu definieren hat – i.e. den Fortschritten der
Unternehmenspraktiken anzupassen, die diese Begriffe im
Sinne eines arbeitsrechts- und gewerkschaftsfreien
Umgangs mit der Arbeit längst umdefiniert haben. Die
Soloselbständigen müssen als moderne Ausprägung der
Spezies Arbeitnehmer definiert werden, wenn das
Arbeitszeitgesetz und der Kündigungsschutz überhaupt für
sie gelten sollen; die Auftraggeber von zahllosen
Mini-Sub-Unternehmern müssen als Arbeitgeber definiert
werden, um auf Fürsorgepflichten wie
Sozialversicherungsbeiträge festgelegt werden zu können;
die verschiedenen Beschäftigungsverhältnisse müssen als
eine Sorte Betrieb definiert werden, wenn die
betriebliche Mitbestimmung als Element einer wirksamen
Arbeitnehmervertretung greifen soll. Kurzum: Was den
Arbeitnehmern fehlt, sind die elementaren
Voraussetzungen der Schutzrechte, die sie
unbedingt brauchen.
Gleichzeitig fehlen der Gewerkschaft die Voraussetzungen,
ihre beanspruchte Schlüsselfunktion bei der Gestaltung
dieser schönen neuen Arbeitswelt auch tatsächlich ausüben
zu können. Wie gut, dass der Adressat ihrer Bewerbung um
diese Gestaltungsrolle ein offenes Ohr hat: Auch die
Kollegin Nahles (IGM) ist schließlich schwer für den
Erhalt und Ausbau Guter Arbeit
, von der der
deutsche Staat so gut lebt. Wenn sie in ihrer Funktion
als Arbeitsministerin zu diesem Zweck in ihrem
Grünbuch Arbeiten 4.0
die Frage stellt: Wie
wollen wir in Zukunft arbeiten?
und den DGB dazu
ausdrücklich konsultiert, lässt man sich dort nicht
zweimal bitten: Die Digitalisierung braucht Regeln,
damit die Technik dem Menschen dient und nicht der Mensch
der Technik.
Das heißt allerdings, dass Technik und
Mensch als Erstes dem Profit dienen müssen, für dessen
Produktion beide überhaupt nur zum Einsatz kommen. Als
selbstverständliche Bedingung der fairen Teilhabe an
den Vorteilen der Digitalisierung
müssen die
Unternehmen die Chancen voll ausnutzen können, die
für sie aus einem flexibleren Einsatz der
Arbeitskräfte gemäß ihren Geschäftsbedürfnissen in
Produktion, Forschung und Entwicklung sowie Verwaltung
entstehen. Ganz folgerichtig ist es diese und keine
andere Flexibilität, aus der man beim DGB Chancen für die
Beschäftigten zu verfertigen gedenkt: ein
selbstbestimmter Arbeitsbeginn am Morgen, damit der
Nachwuchs noch in die Kita gebracht werden kann, das
Aufhäufen von unbezahlten Überstunden zu einem
Sabbatical, Home-Office am Abend, wenn die Familie Ruhe
gibt, und was der arbeitnehmerfreundlichen Ideen mehr
sind, die sich an die Auflösung fester Arbeitszeiten
knüpfen. Geradezu beispielhaft, was dem obersten
Gewerkschafter unter der Rubrik neues Verständnis der
Arbeitszeit
als gewerkschaftlicher Beitrag einfällt,
um tarifvertraglich gesichert ... mehr persönliche
Wahlfreiheit
zu schaffen: Warum sollte es für
Schichtarbeiter beispielsweise nicht auch Teilzeit
geben?
Ja, warum eigentlich nicht? Eine andere als
die vorfindliche Arbeitswelt 4.0 gibt es nun einmal
nicht, um in ihr den Menschen in den Mittelpunkt
zu stellen. Und um ihn dorthin zu stellen, um aus einem
einseitigen Instrument im Sinne der Unternehmen
Arbeitszeitsouveränität
im Sinne der Beschäftigten
zu machen, liegt mit der betrieblichen Mitbestimmung
schon ein maßgeschneidertes Instrument vor. Mit dessen
Erweiterung auf die Arbeitswelt 4.0 ist die
demokratisch-selbstbestimmte Berücksichtigung der Belange
der Mitbestimmenden schließlich definitionsgemäß
gewährleistet und für eine moderne Arbeitervertretung das
Aufgabenfeld präpariert, dessen Bewirtschaftung ein
Gutteil ihrer veränderten Rolle
ausmacht: Wenn
heutzutage die Flexibilitätskompromisse
nun einmal
vor Ort im z.T. erst noch zu definierenden Betrieb und
nach dessen Notwendigkeiten geschlossen werden, gilt es
eben die Interessen der Betroffenen so zu wahren, wie sie
da hineinpassen. Für die fällige gesetzliche Stärkung der
betrieblichen Mitbestimmung braucht es natürlich wieder
gute Gründe, nämlich einen Nutzen der entscheidenden
gesellschaftlichen Instanzen aus der
Innovationskraft
ihrer Belegschaften: Wer
mitbestimmt, ernst genommen und wertgeschätzt wird, ist
motiviert und nutzt mit seinen Ideen, die er in den
Betrieb einbringt, auch dem Unternehmen.
So billig,
mit ideellem Lohn für ihre Beschäftigten, wäre
materieller Nutzen für die deutschen Unternehmen zu
haben. Falls das nicht überzeugt: Mit dem mitbestimmten,
also sozialfriedlich organisierten Lohnverzicht ist
Deutschland bekanntlich mit ganz vielen geretteten
Arbeitsplätzen gestärkt aus der Krise gekommen!
In solchen Zukunftsfragen verzeichnet der DGB aktuell
einige Erfolge. Die Bundesregierung hat sich sogar dem
Ziel verschrieben, die Tarifbindung insgesamt wieder
auszuweiten, und hat die Stärkung der
‚Sozialpartnerschaft‘ zur Zutat aller Reformen erhoben,
die der deutschen Industrie den zukünftigen Erfolgsweg
pflastern sollen. Dass der Staat, nach dessen Macht die
Gewerkschaften so dringend rufen, für ihre Beteiligung
dann auch seine Kriterien des standortpolitischen Nutzens
vorgibt, ist auch hier im Preis enthalten: Noch
flexiblere Anwendung der Leiharbeit als sie die
gesetzliche Neuregelung ohnehin erlaubt? Können die
deutschen Unternehmen haben – aber nur sozialfriedlich
qua Tarifvertrag. Solche Tarifpolitik vom Feinsten
(Nahles) ist ein erster
Schritt in Richtung der ausgehandelten
Flexibilität
, zu der auch die Abweichung vom als
starr geltenden
Arbeitszeitgesetz gehören soll. Die
politisch beförderte Privilegierung
der
Tarifpartnerschaft ist für die Gewerkschaften um den
Preis zu haben, den sie – bei aller Differenz im Detail –
auch selbst im Angebot haben: ihre Beteiligung an dem
großen Flexibilitätskompromiss
, den der deutsche
Standort braucht. Die Politik nötigt deutsche
Gewerkschaften damit zu nichts, was ihnen fremd wäre: In
ihrem unermüdlichen Dienst an den Arbeitnehmern wollen
und müssen sie schließlich die Instrumente gestalten, die
Beschäftigung sichern, also auch so, dass sie
sie sichern – in der deutschen „Arbeitswelt von morgen“.
3. Deutscher Erfolg in der Standortkonkurrenz als Bedingung für eine noch sozialere Republik
So viel ist nämlich klar: Um die ‚Arbeit der Zukunft‘
gestalten zu können, muss sie zunächst einmal in
Deutschland stattfinden und nicht anderswo. Und für diese
genuin soziale Zwecksetzung sind in Zeiten der
Globalisierung passgenaue Tarifverträge und
Betriebsvereinbarungen zwar nötig, aber keineswegs
hinreichend. Dass zur Erhaltung und Steigerung der
‚gesamtgesellschaftlichen‘ Beschäftigung ein
hinreichendes Wachstum von zusammengezählten
Kapitalerträgen auf deutschem Boden unbedingt
her muss, entnehmen deutsche Gewerkschaften der
unbestreitbaren Tatsache, dass das ohne Wachstum
jedenfalls nicht gelingt. Und damit die Sozialpartner
ihrer Aufgabe nachkommen und es in gehöriger Rate und
Masse erarbeiten bzw. erarbeiten lassen können, müssen
die ‚Rahmenbedingungen‘ stimmen. Auch für diese Aufgabe
ist selbstverständlich ‚die Politik‘ zuständig, mit der
sich der DGB im Prinzip einig weiß. In der Praxis aber
versagen irregeleitete Politiker dann doch ein ums andere
Mal an den gewerkschaftlichen Maßstäben guten Regierens,
wenn sie in ihrem steten Bemühen um einen möglichst
großen Anteil am weltweiten Geschäft immer wieder in die
Mottenkiste neoliberaler Rezepte
greifen,
einsinnig sozialstaatliche Leistungen kürzen, Unternehmer
und Geldbesitzer der Welt im Gegenzug mit Befreiung von
Sozial-, Umwelt-, und sonstigen Auflagen sowie Steuern
ködern etc. Zu solchen kurzsichtigen und vor allem
kontraproduktiven Ansätzen kennen Gewerkschaften
erfolgversprechendere Alternativen
arbeitnehmerfreundlicher Politik.
Deshalb bemühen sich die Gemeinwohlexperten von der
Gewerkschaft um den Beweis, dass soziale Rücksicht
deutsches Wachstum und deutsche Wettbewerbsfähigkeit
stärkt: Mehr Geld in den Taschen von Beschäftigten,
Arbeitslosen und Rentnern schafft ‚Binnennachfrage‘, die
die deutsche Wirtschaft gut gebrauchen kann, um über ihre
exportweltmeisterliche Exportabhängigkeit
hinauszuwachsen. Und die Zufriedenheit, die das stiftet,
ist selbst eine Produktivkraft der nationalen
Gesamtbelegschaft: Der vorbildliche soziale Frieden ist
ein Standortfaktor, den es unbedingt zu pflegen gilt.
Außerdem wären die Kosten einer nachfrageorientierten
Politik nach Keynes durchaus finanzierbar: durch das
Wachstum, das sie auslöst, und mit Hilfe einer
gerechteren Steuerpolitik, die die zur Kasse bittet, bei
denen sich dieses Wachstum am ehesten als Bereicherung
niederschlägt. Überhaupt müssen soziale Kosten kein
Nachteil sein – wenn es nämlich dem deutschen Staat
gelänge, den Nachteil, den diese Kosten dann doch
darstellen, auch dem Rest der Welt in Gestalt von
verbindlichen vorbildlichen Standards aufzudrücken:
Für einen gerechten Welthandel
lässt der DGB seine
Basis gegen das TTIP-Abkommen aufmarschieren, mit dem
sich die deutsche Politik ihre Handlungsfreiheit
beschneiden, also die Möglichkeit einer besseren
Politik verbauen würde. Von dieser Handlungsfreiheit kann
der deutsche Staat überhaupt nicht genug haben, muss
seine soziale Wirtschaftspolitik doch die
Konkurrenzfähigkeit des Wirtschaftsstandorts gegen die
Konkurrenten sichern – z.B. die Wirksamkeit der
sinnreichen Vorkehrungen, mit denen die deutschen
Stahlkocher die von ihnen angewandte Arbeit rentabel
machen: Denn das Wohl deutscher Stahlarbeiter gebietet,
dass der deutsche Staat dem chinesischen gleichgerichtete
Anstrengungen als ‚Lohndumping‘ verbietet und seinerseits
wettbewerbsschädliche Klima- und Umweltgesichtspunkte
fahren lässt. So viel ‚Herz aus Stahl‘ bringen DGB,
Gesamtmetall und Wirtschaftsminister Gabriel glatt
gemeinsam auf. Weil deutsche Arbeitsplätze immer dann
bedroht sind, wenn deutsche Unternehmen und der Standort
als Ganzes im harten internationalen Wettbewerb zu
unterliegen drohen, geraten überhaupt alle Momente
nationaler Politik in den gewerkschaftlichen Blick: eine
zukunftsfähige Infrastruktur, eine Bildungspolitik, die
den nötigen Wissensvorsprung deutschen Kapitals genauso
sichert wie das Recht – lebenslänglich! – auf
Weiterbildung für die fortschrittlichen Arbeitsplätze,
die daraus entstehen sollen, usf. Unter dem Strich sorgen
die schwierigen Bedingungen einer realistischen, auf
Umsetzung zielenden, sozialeren Politik wie von selbst
dafür, dass der DGB seinem guten Anliegen den
nachgeordneten Stellenwert einräumt, den es braucht, um
es voranzubringen.
Mit solchen wohlmeinenden Alternativen löst der DGB seine
Eintrittskarte in den Wettstreit um die richtige
Wachstumspolitik. Die politische Stimme der Gewerkschaft
hat ihren festen Platz, wann und wo immer die Frage
gewälzt wird, wie die Nation ihre Drangsale am besten
bewältigt. Neben ihrem geballten Sachverstand in allen
gewichtigen Fragen werfen die Gewerkschaften noch ihre
gesellschaftliche Bedeutung in den Ring und lassen sie
bei geeigneten Anlässen, vorzugsweise am 1. Mai, von
möglichst viel Fußvolk bezeugen. Diesen allesamt ungemein
konstruktiven Anstrengungen trägt die deutsche Politik
Rechnung und weist dem DGB die Rolle zu, als manchmal
auch unbequemer
Dialogpartner überall den
Gesichtspunkt der Arbeitnehmerfreundlichkeit einzubringen
– so geht die endgültige Lösung der ‚sozialen
Frage‘ vom Standpunkt des sozialen Staates. Das Angebot
nehmen deutsche Gewerkschafter gerne an und führen den
praktischen Beweis, dass die sozial Schwachen, die den
Staat am dringendsten brauchen
, an Deutschland genau
das haben, was sie brauchen: ein Erfolgsmodell von Staat,
der mit Wachstum für Beschäftigung, mit internationaler
Durchsetzung für deren Sicherung und als soziale Gewalt
für deren Aushaltbarkeit sorgt. Grund genug für die
deutsche Gewerkschaft, auf ihren Beitrag dazu stolz zu
sein:
„Ohne Sozialstaat wäre das politische und ökonomische ‚Erfolgsmodell‘ Bundesrepublik nicht möglich gewesen! Und dieser Sozialstaat wiederum wäre ohne das Engagement von Millionen von Gewerkschafterinnen und Gewerkschaftern nicht möglich gewesen!“
*
Ein Kollateralschaden ihres eigenen Erfolgs bleibt der
deutschen Gewerkschaft 2017 allerdings nicht erspart:
Als Gewerkschaft macht sie sich tendenziell
überflüssig. Mit ihrem unermüdlichen Einsatz für die
wohlverdienten Rechte, die der demokratische Staat den
‚Bürgern am Arbeitsplatz‘ angedeihen lassen soll, hat sie
die Lohnabhängigen erfolgreich zu Bürgern
erzogen. So erfolgreich, dass die meinen, mit eben diesen
Rechten alles Nötige für ihren alltäglichen
Überlebenskampf beisammen zu haben. Sie schließen
folglich von allen erfahrenen Härten der Konkurrenz
umstandslos darauf, dass die Politik die zuständige
Instanz ist, Gerechtigkeit herzustellen. So landet jede
Unzufriedenheit bei einem Auftrag an den Staat,
entsprechend für Ordnung zu sorgen. Nur eine Minderheit
lässt sich überhaupt noch mobilisieren und für den
Standpunkt gewinnen, als Mitgliederbasis ihrer
gewerkschaftlichen Vertretung zu fungieren, also ihre
Konkurrenz um eine von oben angeleitete Praxis der
Solidarität zu ergänzen. Die große Mehrheit setzt von
vornherein darauf, dass sie mit ihren Interessen bei
denen, die die Verhältnisse machen, bei Politik und
Unternehmen also, an der richtigen Adresse ist. Die
Gewerkschaften im Lande ergänzen, benützen und befördern
diese Politisierung der Unzufriedenheit, indem sie jeden
Ruf nach dem Staat als Auftrag an sich aufgreifen, als
Lobby für die Belange der deutschen Lohnarbeiterschaft
beim Staat und als für die soziale Ordnung im Lande
mitverantwortliche politische Kraft tätig zu werden. Der
DGB ist schließlich das mit mehr als sechs Millionen
Mitgliedern ... größte politische Netzwerk dieser
Republik
, als das er sich – zumal im Wahljahr 2017 –
berechtigt sieht und sich darum bemüht, Einfluss auf die
Politik zu nehmen und seine Basis als Wähler zu
mobilisieren. Mit ihrem Einsatz für eine Politik im Namen
der deutschen Arbeitnehmerschaft leistet die
Arbeitervertretung in Merkels Land damit ihren nicht
geringen Beitrag dazu, die Arbeitnehmerschaft für
deutsche Politik einzunehmen. Dumm nur, dass die
erfolgreiche Politisierung ihrer Klientel auch einer
Zweitkarriere des DGB als vorwiegend sozialdemokratische
Lobbytruppe eher entgegensteht. Nicht eben wenige der
‚hart arbeitenden Menschen‘ haben ja so gründlich
verstanden, dass sie vor allem anderen einen starken
Staat brauchen, dass sie die Frage nach den
sozialen Leistungen, die er ihnen schuldet, mit
mehr staatlichem Durchgreifen und mehr
nationaler Durchsetzung beantwortet wissen
wollen – gegen In- und vor allem gegen Ausländer, die,
anders als sie, nicht das Privileg verdienen, zum
deutschen Volk zu gehören, dem die staatliche Fürsorge zu
gelten hat. Der deutschen Gewerkschaftsbewegung wiederum
beweist der Rechtsruck im einfachen Volk, wie wichtig sie
als Wahrer und Verteidiger der deutschen Demokratie ist.
Die Arbeitervertretung in Merkels Land deutet den
gehässigen Nationalismus unverdrossen als Ausdruck einer
– fehlgeleiteten – sozialen Unzufriedenheit und als
Auftrag an sich, diese Unzufriedenheit wieder in
Zustimmung zu ‚unserer‘ Republik und zu den regierenden
Parteien zu überführen: Mehr Soziales zur Abwehr von
Faschismus – leicht haben es deutsche Gewerkschaften mit
ihrer nationalen Aufgabe noch nie gehabt.