Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Chronik des Corona-Wahljahres 2021
III. Merkel entschuldigt sich – wofür?
Ende März, nach einem nächtlichen Kompromiss über zwei zusätzliche Ruhetage rund um das alljährliche Gedächtnis des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu, kommt es zu einem nach Auskunft ihrer Liebhaber in der Demokratie höchst ungewöhnlichen Vorgang: Die oberste Chefin der Nation gesteht ein, einen politischen Fehler begangen zu haben, und bittet ihr Publikum um Verzeihung.
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Länder & Abkommen
Chronik des Corona-Wahljahres 2021
III. Merkel entschuldigt sich – wofür?
Wie es sich für eine lebendige Demokratie gehört: Längst ist die mit viel Sachverstand gewälzte Frage, wie die Pandemie am besten zu bekämpfen, die Dynamik der dritten Welle zu durchbrechen oder wenigstens zu verlangsamen sei, in den Händen der deutschen Politik zur veritablen Machtfrage herangereift. Die Bundesregierung ringt in einigen ‚Bund-Länder-Treffen‘ mit den Landesfürsten um Deutschlands Pandemiekurs 2021; letztere bestehen dabei auf der Autonomie ihrer Regionalmacht, mit der sie, gemessen an den ‚Notbremse‘-Plänen des Bundes, hauptsächlich destruktiv in Erscheinung treten. So geht es dahin, bis es Ende März, nach einem nächtlichen Kompromiss über zwei zusätzliche Ruhetage rund um das alljährliche Gedächtnis des Leidens, Sterbens und der Auferstehung Jesu, zu einem nach Auskunft ihrer Liebhaber in der Demokratie höchst ungewöhnlichen Vorgang kommt: Die oberste Chefin der Nation gesteht ein, einen politischen Fehler begangen zu haben, und bittet ihr Publikum um Verzeihung.
„Ich habe mich zu diesem kurzen Pressetermin entschlossen, weil ich heute Vormittag entschieden habe, die notwendigen Verordnungen für die am Montag vereinbarte zusätzliche Osterruhe ... nicht auf den Weg zu bringen, sondern sie zu stoppen. Um es klipp und klar zu sagen: Die Idee eines Oster-Shutdowns war mit bester Absicht entworfen worden, denn wir müssen es unbedingt schaffen, die dritte Welle der Pandemie zu bremsen und umzukehren. Dennoch war die Idee der sogenannten Osterruhe ein Fehler. Sie hatte ihre guten Gründe, war aber in der Kürze der Zeit nicht gut genug umsetzbar, wenn sie überhaupt jemals so umsetzbar ist, dass Aufwand und Nutzen in einem halbwegs vernünftigen Verhältnis stehen... Und auch um ein Zweites klipp und klar zu sagen: Dieser Fehler ist einzig und allein mein Fehler, denn am Ende trage ich für alles die letzte Verantwortung. Qua Amt ist das so, also auch für die am Montag getroffene Entscheidung zur sogenannten Osterruhe. Das habe ich den Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten vorhin auch in einer kurzen Videokonferenz erläutert und darüber auch die Vorsitzenden der Fraktionen im Deutschen Bundestag informiert. Und es ist mir wichtig, das auch hier zu sagen: Ein Fehler muss als Fehler benannt werden und vor allem muss er korrigiert werden, und wenn möglich, hat das noch rechtzeitig zu geschehen. Gleichwohl weiß ich natürlich, dass dieser gesamte Vorgang zusätzliche Verunsicherung auslöst. Das bedauere ich zutiefst, und dafür bitte ich alle Bürgerinnen und Bürger um Verzeihung. Diese zusätzliche Verunsicherung bedauere ich umso mehr, als wir uns, dabei bleibt es leider, mitten in der durch die Mutation ausgelösten dritten Welle der Pandemie befinden ... und ich bin zutiefst davon überzeugt: Wir werden das Virus gemeinsam besiegen. Der Weg ist hart und er ist steinig, er ist von Erfolgen, aber auch von Fehlern und Rückschlägen gekennzeichnet. Aber das Virus wird langsam, aber sicher seinen Schrecken verlieren.“ (Merkel am 24.3.21)
In dem Gemisch aus Häme und Respektsbekundungen, die Merkels Erklärung in Politik und Öffentlichkeit hervorruft – je nachdem, welches Lager der ewigen Nörgler am Pandemiemanagement der Regierung sich jeweils äußert –, sollte der wirkliche Gehalt der Entschuldigungsrede der Kanzlerin nicht ganz untergehen:
1.
Worin ihr Fehler bestanden hat, was die Kanzlerin sich daher vorzuwerfen hat und was sie sich deshalb auch nur vorwerfen lässt, definiert sie mit ihrer Selbstkritik. Die bezieht sich explizit nicht auf ihren Befund, dass weitere Beschränkungen, wie die mit bester Absicht entworfene
Osterruhe sie vorgesehen hatte, ihre guten Gründe
haben, also weiter dringend geboten sind, sondern einzig auf die Frage von deren Durchsetzbarkeit: Die klipp und klare Unbezweifelbarkeit und Verbindlichkeit des nächtlich ausgehandelten Kompromisses erschien ihr kurz darauf zweifelhaft, nachdem alle möglichen Lobbys vermeintlich oder wirklich betroffener Interessengruppen und für die Um- und Durchsetzung der Osterruhe zuständige politische Instanzen ihren Unwillen, den Beschluss mitzutragen, sowie die Beschreitung des Rechtsweges angekündigt hatten.
Die Kanzlerin weiß, was sie falsch gemacht hat: Sie verbucht es als ihre ganz persönliche Verfehlung, sich auf einen derart angreifbaren und sich schnell als praktisch schlecht umsetzbar
erweisenden Kompromiss in der Kürze der Zeit
mit den Länderchefs überhaupt eingelassen zu haben. Indem sie unterstreicht, damit der in ihrem Amt liegenden Verantwortung nicht gerecht geworden zu sein, stellt sie klar, was das Amt von ihr verlangt: Nichts, was sie an Entscheidungen mitträgt, darf irgendwie uneindeutig sein; was sie entscheidet, muss als unhinterfragbare Ansage die Souveränität beglaubigen, die sie als Kanzlerin beansprucht. Es reicht nicht, das Richtige, das Vernünftige nur zu wollen und für es einzutreten – als Bundeskanzlerin muss sie es verbindlich festlegen können und festlegen. Was ist es sonst auch wert: In der freiheitlichen Gesellschaft, der sie vorsteht und der jede geistige Bevormundung fremd ist, ist die Verbindlichkeit von noch so gut gemeinten Verhaltensregeln anders als durch die praktische Bevormundung durch befugte Machtfiguren nun einmal nicht zu haben. Für einen kurzen politischen Moment, das hat die Kanzlerin sich allein vorzuwerfen, ist sie dieser von ihr zu verkörpernden Einheit aus dem Willen, das Richtige zu tun, und der Macht, es auch durchsetzen zu können, nicht gerecht geworden.
2.
Das passiert ihr nicht noch einmal, und deshalb folgt die fällige Korrektur auch rechtzeitig
auf dem Fuße: Den gemeinsamen politischen Beschluss nimmt sie und nur sie allein mit ihrem demonstrativen Akt der Selbstkorrektur zurück – die lieben Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten
degradiert sie dabei ebenso wie ihre Fraktionskollegen zum Publikum einer kurzen Videokonferenz
. Dem Format der Ministerpräsidentenkonferenz erteilt sie noch am selben Tag eine Absage –
„Für mich ist dieser Montag mit diesen Beratungen, mit den langen Pausen und dem andern auch eine Zäsur. Und da kann es jetzt nicht einfach so weitergehen.“ (Merkel bei Anne Will) –
und stellt öffentlich eine nach allen Regeln der parlamentarischen Regierungskunst reformierte Neufassung der zurückgenommenen Beschränkungen in Aussicht. Entscheidend an ihrem zweiten, korrigierten Anlauf ist dann genau das: Merkel macht von ihrer Macht endlich gebührend Gebrauch, stärkt mittels einer Reform des Infektionsschutzgesetzes die Kompetenzen des Bundes gegenüber den Ländern in Fragen der Umsetzung der ‚Notbremse‘ und erschwert damit den Landesfürsten, ihr mit ihren ganzen Sondervorbehalten das Durchregieren weiter zu vermiesen und sie zu fragwürdigen Zugeständnissen zu bewegen.
Ein paar der gedeckelten Landesväter aus der Unionsriege versuchen zwar noch, sich an das Mea Culpa der Kanzlerin anzuhängen – Ich habe mit abgestimmt, ich habe auch diesen Fehler gemacht.
(Günther) –, um mit der verstreuten Asche etwas von der hohen politischen Verantwortung auch auf ihre Häupter herabrieseln zu lassen. Doch bei diesem durchschaubaren Manöver lässt Merkel sogar ihre designierten Nachfolger Söder und Laschet ziemlich hängen, deren landesväterliche Führung doch das Sprungbrett ins Kanzleramt sein sollte. Der Machtbeweis der Kanzlerin gerät den Anwärtern auf ihre Nachfolge nicht zum Vorteil: Sie sind nicht mit verantwortlich, sondern Teil des Problems, das die Kanzlerin bei der Wahrnehmung ihrer Verantwortung ausgemacht hat. Sie stehen zusammen mit allen anderen Ministerpräsidentinnen und Ministerpräsidenten
im Abseits und brauchen sich noch nicht einmal zu entschuldigen.
3.
Auch die Bitte um Verzeihung behält die Kanzlerin also sich allein vor. Interessant ist, bei wem sie sich für was genau entschuldigt hat. Adressat ihrer Bitte ist niemand Geringeres als die Gesamtheit der Bürgerinnen und Bürger
, die der Sache nach nichts als das Objekt der umkämpften Pandemiepolitik sind. Die bittet Merkel auf ihre unverwechselbar höflich-distanzierte Art um Verzeihung – für die bei ihnen sicherlich entstandene Verunsicherung. Sie hat, wie es sonst doch überhaupt nicht ihre Art ist, den Schein einer Alternative zum alternativlosen Regierungshandeln zugelassen. Das tut ihr leid. Dem Volk sagt sie damit auf den Kopf zu, was ihm gebührt, wie sehr es nämlich ein Recht auf eine souveräne Führung hat, die mit ihrem Handeln immerzu und in jeder Situation glaubwürdig den Anschein vermittelt, immer alles richtig zu machen.
*
Alles in allem eine klippe Klarstellung der Kanzlerin an alle, die genau aufgepasst haben: Eine klare Hierarchie der Macht und eine für das Volk glaubwürdig souveräne Führungsfigur – das braucht es zur Rettung der Volksgesundheit.