Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Lohnkampf der polnischen Krankenschwestern, Offensive der Regierung: Nachhutgefechte bei der Einführung des marktwirtschaftlichen Sozialstaats

Die überkommene realsozialistische Organisation des Gesundheitswesens wurde abgeschafft zugunsten der marktwirtschaftlichen Rechnungsart. Sparen am ohnehin schon niedrigen Lohn des Pflegepersonals ist da sachgemäß und unbedingt durchzusetzen; so urteilen die polnische Regierung und die Öffentlichkeit, vor allem die hiesige.

Aus der Zeitschrift

Lohnkampf der polnischen Krankenschwestern, Offensive der Regierung: Nachhutgefechte bei der Einführung des marktwirtschaftlichen Sozialstaats

Seit September letzten Jahres protestieren in Polen Krankenschwestern und Hebammen gegen ihre schlechte Bezahlung: Im Durchschnitt verdienen sie 600 DM, de facto bezieht ein nicht unbeträchtlicher Teil nur 300 DM. Eine zugesagte Lohnerhöhung von 2% plus Inflationsausgleich ist in vielen Fällen gar nicht oder verspätet ausgezahlt worden; daraufhin sind die Proteste von neuem in Gang gekommen. Zeitweilig wird knapp die Hälfte aller Krankenhäuser bestreikt; außerdem haben sich die Krankenschwestern von den Bauern inspirieren lassen und blockieren Hauptverkehrslinien und Grenzübergänge; über Weihnachten besetzen 300 das Gesundheitsministerium. Ministerpräsident Buzek erklärt dazu in seiner Weihnachtsansprache, er habe volles Verständnis für die Forderungen nach Lohnerhöhungen. Doch sei er nicht der richtige Adressat dafür. (SZ, 27.12.) Schließlich ist bereits zum 1.1.99 auf Grundlage von Beratungen durch die EU eine Reform des Gesundheitswesens in Kraft getreten; und mit der hat die Regierung sich in aller Form für unzuständig erklärt.

Abgeschafft wurde die überkommene realsozialistische Organisation des Gesundheitswesens: die flächendeckende kostenlose Betreuung der Volksgesundheit aus dem per Staatshaushalt einkassierten und auf die verschiedenen gesellschaftlichen Bedürfnisse verteilten „sozialistischen Gewinn“. Mit ihrem „System der Planung und Leitung“ hatte die Staatspartei sich seinerzeit tatsächlich die volle Verantwortung für die gesellschaftliche Wohlfahrt, einschließlich der Bezahlung aller Bediensteten des Gesundheitssektors, aufgeladen. Damit war es nach der antikommunistischen Wende vorbei. In den ersten Jahren wurde die staatliche Finanzierung des Gesundheitswesens notgedrungen zwar noch fortgesetzt. Klar war aber schon, dass es sich dabei nicht mehr um eine aller Ehren werte sinnvolle Verwendung des gesellschaftlichen Mehrprodukts handelte, sondern um eine zunehmend unerträgliche Belastung der Staatsfinanzen, die schleunigst abzuschaffen war. Ersetzt wurde die „sozialistische Erblast“ durch ein gemeinsam mit Beratern aus Brüssel erarbeitetes fortschrittliches marktwirtschaftliches Modell. Für das „Lebensrisiko Krankheit“ wird nunmehr die Arbeiterklasse mit ihrem marktwirtschaftlich kalkulierten Lohn finanziell haftbar gemacht: 16 regional gegliederte Krankenkassen greifen sich 7,5% des Bruttoverdienstes der bei ihnen pflichtversicherten Bevölkerung und handeln im Rahmen dieser Finanzmasse u.a. mit selbständigen Krankenhausbetreibern Verträge über Leistungen und Preise der Gesundheitsversorgung aus. Für Gebäude und medizinisches Gerät sind wiederum Kreise und Gemeinden verantwortlich, so dass die Ausstattung mit der relativen Armut der Kommunen variiert. Vor allem auf dem Land sind medizinische Versorgungseinrichtungen oft komplett geschlossen worden. Polnische Zeitungen berichten regelmäßig von Versorgungsskandalen und leiden an der nationalen Schande, dass das Gesundheitswesen auf das Niveau von Drittweltstaaten abgesunken ist.

Die real amtierenden Anwälte der nationalen Ehre kümmert das allerdings weniger. Die sind stolz darauf, dass sie mit ihrer „Strukturreform“ Anschluss ans strukturelle Westniveau gefunden haben. Und strukturell ist es eben völlig in Ordnung, dass sich bei der Angleichung an die kulturellen Errungenschaften der EU in der Abteilung Sozialstaat materiell so ordinäre Größen wie das nationale Lohnniveau und die nationale Lohnsumme geltend machen. Dank der nicht zuletzt von der EU nachdrücklich verlangten großen „Strukturreform“ im nationalen Wirtschaftsleben, im Klartext: dank der Brachlegung großer Teile der ererbten, unrentablen Staatsbetriebe und der Entlassung der Masse von Werktätigen, hat es sich „halt so“ ergeben, dass nur eine Minderheit der Bevölkerung überhaupt einen Lohn bezieht, aus dem Kassenbeiträge abgezweigt werden können; nicht wenige Betriebe versäumen es außerdem regelmäßig, die von ihnen einbehaltenen Lohnprozente an die Kassen weiterzureichen, und lassen die Summen lieber in ihrem eigenen Unternehmensbudget verschwinden. Von den beträchtlichen Abteilungen derjenigen, die sich in der sogenannten Schattenwirtschaft herumtreiben, und von den Millionen von Subsistenzbauern, die nur marginal mit Geld zu tun haben, ist erst recht nicht viel zu holen.

Tatsächlich stellt sich also heraus, dass es sich bei der gesundheitlichen Betreuung der polnischen Bevölkerung nach marktwirtschaftlicher Rechnungsart um Unkosten handelt, für die die polnische Arbeiterklasse nach den Regeln der allein menschenrechtsgemäßen Sozialstaatlichkeit aufkommen muss, die sie aber in ihrer neuen marktwirtschaftlichen Verfassung, nämlich unter den damit hergestellten neuen Beschäftigungsverhältnissen gar nicht tragen kann. Das ist insoweit auch politisch anerkannt, als die neuen Kassen zu Anfang erst einmal mit Staatskredit ausgerüstet worden sind, damit eine Gesundheitspflege überhaupt noch stattfindet. Doch das entbindet die Kassen natürlich nicht davon, so zu rechnen, wie die sozialstaatliche Logik es gebietet, und sich im Prinzip aus den Beiträgen der Pflichtversicherten selbst zu finanzieren. Der polnische Staat bringt ihnen diesen unendlich vernünftigen Sachzwang ausdrücklich und ganz praktisch nahe, indem er sie dazu verpflichtet hat, die erhaltenen Kredite zurückzuzahlen. Dass nach dieser Rechnungsart bei den Ausgaben unbedingt gespart und sortiert werden muss, liegt auf der Hand. Und ebenso selbstverständlich steht hierbei die Entlohnung der Krankenschwestern und Hebammen, die wie in allen zivilisierten Nationen die unterste und zahlreichste Abteilung in der Hierarchie der Gesundheitsberufe ausmachen, an letzter Stelle. Was das System an Geld für sie übrig hat, sind Hungerlöhne – auch am jämmerlichen nationalen Lohnniveau bemessen. Zudem haben viele der Krankenhausdirektoren im Rahmen der neuen Wirtschaftlichkeitsrechnung als erstes Pflegepersonal entlassen und dem verbliebenen die Mehrarbeit aufgehalst.

Die Regierung ist auf diese Art auf alle Fälle eine Haushaltslast los – und beansprucht gleichzeitig politische Entlastung: Sie exekutiert ja nur ökonomische Sachzwänge – öffentliche Kassen leer! – und übergeordnete Notwendigkeiten – EU-Beitrittskriterien! Und die exekutiert sie noch nicht einmal selber: Die Zuständigkeit dafür, den Beschäftigten „den Gürtel enger zu schnallen“, hat sie doch extra an die leitenden Funktionäre des neuen marktwirtschaftlichen Gesundheitswesens delegiert! Mit ihren Lohnforderungen sollen sich die Krankenschwestern also gefälligst an die Krankenhausdirektoren halten – um sich dann von denen die Kassenlage vorhalten zu lassen, die für die Entlohnung von Pflegepersonal einfach nicht mehr hergibt.

Allerdings läßt sich der Protest von der Nicht-Zuständigkeits-Pose der Regierung nicht übermäßig beeindrucken: Die Krankenschwestern besetzen das Gesundheitsministerium und verlangen, dass die Regierung ein gesetzliches Mindestgehalt von 700 DM einrichtet und höhere Investitionen für die Ausrüstung des Gesundheitswesens bereitstellt. Die neue Einkommenshierarchie, die mit der Umorganisation des Gesundheitswesens eingerichtet wird, wollen die Krankenschwestern sich schon gleich nicht einleuchten lassen: Dass die Verwaltungsangestellten teilweise das Drei- und Vierfache des medizinischen Personals verdienen, ihre Lohnforderungen aber als unbezahlbar abgelehnt werden, sehen sie nicht ein. Dies um so weniger, weil es den Anästhesisten, Chirurgen und Notärzten im letzten Jahr immerhin teilweise gelungen ist, mit Streikaktionen sowie der Drohung mit Auswanderung Lohnerhöhungen bis an die 300% durchzusetzen. Zuvor hatten diese „Kollegen“ ungefähr ebenso viel verdient wie das Pflegepersonal; dass nun nach den Kriterien marktwirtschaftlicher Einkommensgerechtigkeit die massenhaft und ohne höheren Bildungsgrad verrichtete Arbeit in der Pflege einen so viel schlechteren Lohn verdient, dafür geht den Krankenschwestern das nötige Verständnis ab.

Und nicht nur bei den Betroffenen: auch beim Großteil der polnischen Bevölkerung verfängt die Regierungspropaganda, die mit ökonomischen Sachnotwendigkeiten, „leeren Kassen“ und „Brüssel“ „argumentiert“, – noch – nicht so recht; jedenfalls nicht so wie in fertigen Demokratien mit einem gefestigten falschen Bewusstsein über den Sozialstaat. Schließlich wird den Leuten gerade vorgeführt, dass die marktwirtschaftlichen Institutionen zur Betreuung der Gesundheit gar nicht selbstverständlich sind, sondern vom Staat eingerichtet werden, dass unter dem Versprechen allgemeiner „struktureller“ Verbesserung materiell vieles schlechter wird, noch viel schlechter als zuvor, und dass dabei von allgemeiner Sparsamkeit gar nicht die Rede sein kann, die Umstellung im Gegenteil ganz eigene Ausgaben verursacht und ansehnliche Summen verschlingt – nicht zuletzt für die neuen Verwaltungs- und Rechnungsapparate, die nötig sind, um bis dahin schlicht medizinisch vor sich hin werkelnde Krankenhäuser auf marktwirtschaftliche Kosteneffektivität umzustellen. Der Volkszorn macht sich dabei mit Vorliebe an den neuen Krankenkassen fest, an deren hohem Verwaltungsaufwand, saftigen Gehältern und protzigen Neubauten, wobei der Korruptionsverdacht auch gleich zur Stelle ist. Dass dafür Geld da ist, während andererseits die Einschränkungen der Leistungen im Gesundheitswesen überall drastisch zu spüren sind, wird der Gesundheitsreform jedenfalls übel angemerkt.

Die Annehmlichkeiten eines Regierens, das auf die marktwirtschaftliche Organisation des Gesundheitswesens wie auf einen Katalog von Sachzwängen verweisen kann, gegen die sich naturgemäß nichts ausrichten läßt, sind für die polnischen Politiker, die noch mit der „Transformation“, der Herstellung derart menschennatürlicher Verhältnisse befasst sind, also einstweilen und in dieser Konfrontation mit empörten Krankenpflegern nicht zu haben. Doch dann muss es eben ohne diese kleine Bequemlichkeit einer allgemein akzeptierten Heuchelei gehen – klare Verhältnisse sorgen dann schon für den nötigen „Realismus“ bei den Betroffenen…: Der Arbeitskampf wird von oben erledigt. Wo die Protestierenden mit ihren Straßenblockaden etc. das öffentliche Leben stören, werden sie von der Polizei abgeräumt. Und was ihre Forderungen betrifft, so werden sie nicht bloß freundlich darauf hingewiesen, dass sie bei der Regierung an der falschen Adresse sind. Vielmehr besteht die Regierung darauf, dass in Polen nunmehr Vertragsfreiheit herrscht, und zwar in dem radikalen Sinn, dass grundsätzlich jeder Arzt und jede Schwester einzeln mit dem jeweiligen Arbeitgeber einen neuen Arbeitsvertrag auszuhandeln hat; dafür wäre eventuell sogar – so ein letztes Regierungsangebot, nachdem sich Präsident Kwasniewski Anfang Januar in den Konflikt eingeschaltet hat – dann doch eine Lohnerhöhung von ungefähr 100 DM drin. Offenkundig nimmt das aus dem Sieg einer frommen Gewerkschaftsbewegung hervorgegangene neue Polen die Sache mit den fälligen antisozialistischen „Strukturreformen“ wirklich bitter ernst: Die Freiheit der Marktwirtschaft soll nicht einmal durch die elementare gewerkschaftliche Errungenschaft eines verbindlichen Kollektivvertrags für die Beschäftigten einer Branche beeinträchtigt werden. Aus demselben Geist heraus und mit derselben Zielsetzung hatte die Regierung schon im letzten Jahr einen allgemeinen Vertragsabschluß mit den Anästhesisten verboten und erst nach Hungerstreiks einzelne Abschlüsse genehmigt. Das Exempel will sie nun von neuem an den Schwestern statuieren und diese auf eine Vertragsfreiheit verpflichten, die ihre pure Ohnmacht gegenüber den Arbeitgebern festschreibt und sie jeder Erpressung ausliefert. Einen Vorgeschmack bekommen die Krankenschwestern schon während ihres Streiks: Sie werden mit Entlassungsdrohungen von seiten der Krankenhausdirektoren konfrontiert. – Drohungen, die vor dem Hintergrund der gelaufenen Entlassungen auch leichter wahrzumachen sind als im Fall der Ärzte –; unerlaubtes Fernbleiben vom Arbeitsplatz wird mit Kündigung abgestraft. Und für den Fall, dass ein Klinikchef doch einmal weich werden und zu Zugeständnissen neigen sollte, stehen die neu geschaffenen Krankenkassen parat: Die lehnen es schlicht ab, mit den Krankenhäusern bessere Verträge abzuschließen.

So beantwortet die Regierung den Lohnkampf der Krankenschwestern mit einem staatlichen Kampf gegen jede Chance auf ein überindividuell gesichertes Lohnniveau. Und in dieser Auseinandersetzung nützt den Streikenden die allgemeine Sympathie, die ihnen entgegenschlägt, herzlich wenig: Um mehr als ein allgemeines folgenloses Beschwerdewesen handelt es sich dann doch nicht. Und schon gar nicht findet sich im ganzen großen Solidarnosc-Staat ein nennenswertes Moment von gewerkschaftlicher Solidarität, ein kollektiver proletarischer Nutzenstandpunkt, der sich durch die Regierungs-Offensive in Sachen „Vertragsfreiheit“ herausgefordert fände. Keine „kämpferische Arbeiterbewegung“ nimmt sich des Streiks an oder organisiert Unterstützung dafür. Einige Bergarbeiter legen ein paar Tage Solidaritätsstreik ein – eine Aktion von eher symbolischer Bedeutung angesichts der Tatsache, dass zahlreiche Kohlegruben samt Belegschaft auf der staatlichen Abschussliste stehen und auch das auf keinerlei gewerkschaftliche Abwehrreaktion stößt. Dass die Politik in Polen mit einer kämpferischen Gewerkschaftsbewegung zu rechnen hätte, ist eben nurmehr ein Mythos: Die Solidarnosc wird als nationale Heldenlegende gepflegt; ihre historische Rolle hat sie bei der Erledigung des Kommunismus gespielt und damit auch ihr gerechtes Ende gefunden. Bei der Gestaltung der neuen polnischen Marktwirtschaft haben organisierte Arbeiter nach dem Willen der amtierenden Solidarnosc-Abkömmlinge nichts verloren. Die Berufung auf die kämpferische Vergangenheit kommt beim Einsammeln von Wählerstimmen zum Einsatz – und obendrein als Heuchelei der politischen Figuren, die ihre Herkunft aus dieser Vergangenheit zum Beweis ihrer besonderen Glaubwürdigkeit zitieren, während sie lästige Arbeitskämpfe erledigen.

Für eben diesen Zynismus erntet die Regierung auch noch ein Kompliment: Das liberale Weltblatt aus München lobt sie, weil sie die protestierenden Krankenschwestern über Weihnachten im Ministerium hocken läßt. Für Buzek ist klar, dass man nicht mit Gewalt gegen Streikende vorgeht. Er kommt ja selbst aus der Solidarnosc. (SZ) Konstruktive Kritik aus dem Ausland bleibt aber auch nicht aus. Die FAZ moniert zum einen, dass die Reform noch gar nicht marktwirtschaftlich genug ausgefallen ist: Die Krankenkassen sind noch keine „privaten“, immer noch wären Reste der alten Ideologie am Werk, und Besserung sei nur zu erwarten, wenn die Fiktion von der bis auf den Krankenkassenbeitrag kostenlosen medizinischen Versorgung aufgegeben werde. Die 7,5 Prozent Abzug vom Lohn nimmt man im Frankfurter Sozialismus-Verfolgungswahn schon gar nicht mehr als einen Posten wahr, der die Leute einiges kostet. Statt dessen prangert man auf der einen Seite die im Gesundheitswesen noch immer üblichen Schmiergelder als fortdauerndes Erbe des alten Systems an und als Zumutung für die Patienten, um auf der anderen Seite auf dem neuen System zu bestehen, das nur mit einer ordentlichen „Selbstbeteiligung“ der Patienten richtig funktionieren kann: Wenn schon an den Krankheiten der Massen Geld verdient wird, dann ordentlich! Zum anderen entdeckt die FAZ ein ernstes demokratisches Defizit in Polen: Die Bevölkerung steht den Protesten viel zu verständnisvoll gegenüber. Das Lamento über den angeblichen Hungerlohn von 600 Zloty (300 Mark) für die Krankenschwestern zieht nach wie vor und ist sicherlich der Grund dafür, daß eine überwältigende Mehrheit der Polen mit den ‚armen‘ Krankenschwestern fühlt, obwohl sie eigentlich düpiert sein müßte. (30.12.) Wieso müßte sie das? Ganz einfach: Weil in einer richtigen Marktwirtschaft, z.B. einer so vorbildlichen wie bei uns, die Interessen von Dienstleistern im Gesundheitswesen und Patienten als Gegensatz organisiert sind, so dass die eine Seite sicher mit einem Schaden rechnen kann, wenn die andere für ihren Nutzen streitet. Weil in einem anständigen Sozialstaat, wie die Polen ihn jetzt auch kriegen, alle Beteiligten – jedenfalls alle außer den paar Nutznießern… – entweder Opfer sind oder Opfer bringen müssen und deswegen jeder automatisch beleidigt ist, wenn ein anderer es an Opferbereitschaft fehlen lässt. Weil speziell im Gesundheitswesen speziell die niederen Chargen vor allem ideell entlohnt werden, mit dem guten Gefühl, sich mal wieder etliche Überstunden lang selbstlos aufgeopfert haben zu dürfen, so dass der Hungerlohn von Krankenschwestern ein „angeblicher“ ist und ihre Armut nur in Anführungszeichen existiert. Die „überwältigende Mehrheit der Polen“ „müßte“ also aufs streikende Pflegepersonal losgehen, weil genau so die hierzulande bewährte demokratische Methode funktioniert, die Unzufriedenheit der Lohnabhängigen konstruktiv zu bewältigen, ja systemgemäß nützlich zu machen: Das sozialstaatliche System stellt die Geschädigten funktionell gegeneinander, die kritische Öffentlichkeit hetzt sie moralisch aufeinander. Diese Kultur der wechselseitigen Gehässigkeit – von gesunden Mitgliedern der Arbeiterklasse gegen Kranke, von Beitragszahlern gegen Leistungs- und Lohnempfänger im Gesundheitswesen – ist in Polen unverständlicherweise noch nicht gebräuchlich. Die FAZ, kämpferischer Anwalt aller Besserverdienenden gegen das Laster des „Sozialneids“, vermisst diese Tugend, wo sie unbedingt angebracht ist: im Gegeneinander der Geschädigten.

Nicht bloß in Sachen Sozialstaat und demokratischer Bequemlichkeit, auch in der Frage der richtigen Verwendung des moralischen Volkszorns hat Polen auf seinem Weg nach Europa also noch viel zu erledigen.