Leserbrief
Kritische Anmerkungen zum Russland-Artikel in GegenStandpunkt 4-99
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Kritische Anmerkungen zum Russland-Artikel in GegenStandpunkt 4-99
(I)
Im Teil III des Russland-Artikels (Die Demokratie in Russland: Kampf um die Monopolisierung privatisierter politischer Befehlsgewalt.) wird festgestellt, dass „die Figuren der herrschaftlichen Elite des Landes … einen Kampf um die Macht im Staat führen“, „während die Staatsmacht selbst gerade mit dem Versuch ihrer eigenen Rettung befasst ist.“ (S.94). Der Gegenstand dieses Kampfes um die Macht wird so gefasst, dass es darum gehe, „die ent-staatlichte Befehlsgewalt als Instrument des privaten Interesses zu erlangen.“ (S.95) Begründet wird dies damit, dass das „was es in Russland … an Macht gibt, … von denen, die sie haben, gar nicht zu trennen (sei): Als öffentliche Gewalt existiert dort, was sich eine Hand voll Figuren als ihre politische Befehlsmacht gesichert haben. Politische Macht in Russland ist quasi privater Besitzstand, entspringt einer staatlichgewaltsam lizensierten Privatisierung sei es von Teilen der ehemaligen sowjetischen Behördenmacht, sei es von ökonomischen Reichtumsquellen, …“ (S.95)
(II)
Richtig an diesen Aussagen ist, dass es in Russland nicht „das fest institutionalisierte Regelwerk einer öffentlichen Gewalt (gibt), das so unanfechtbar, anonym und einfach nur sachlogisch für die Exekution einer kapitalistischen Räson im ganzen Land sorgt, dass es absolut gleichgültig ist, wer in dem gerade an der Macht ist.“ Das hat Russland übrigens mit fast allen Ländern der Welt gemein! Falsch ist der Schluss, der daraus gezogen wird: Es geht beim Kampf um die Macht nämlich nicht um die Erlangung einer „ent-staatlichten Befehlsgewalt“, sondern – im Gegenteil – gerade um die Erlangung politischer Befehlsgewalt, und zwar entweder in Gestalt des Separatismus, was in Russland noch die Ausnahme darstellt, oder in der Weise, dass die Erlangung regionaler Macht dem Zweck dient, die Macht in Ganz-Russland zu erlangen. Mit anderen Worten, die regionalen Herrscherfiguren agieren permanent als Nationalisten und nicht aus einem im Artikel nicht näher charakterisierten „privaten Interesse“ heraus. Es ist ganz falsch, das von diesen Figuren vertretene Interesse als „privat“ zu bezeichnen, wie das im Artikel geschieht. „Faktisch regiert wird das Land von der Hand voll Privaten…“ (S.97)
(III)
Die Argumente, mit denen begründet wird, dass es um die Erlangung „entstaatlichter Befehlsgewalt als Instrument des privaten Interesses“ gehen soll, sind unzutreffend:
Erstens: Aus dem Gegensatz, den diese Regional„fürsten“ zur Zentralgewalt praktizieren, den Schluss zu ziehen, es ginge diesen um eine „ent-staatlichte“ Befehlsgewalt, ist ein Fehler: Selbst wenn ein Gouverneur auf die Unabhängigkeit seiner Provinz von Russland pocht, verfolgt er einen „staatlichen“ Zweck nämlich gegen den Zentralstaat und nicht einfach seine persönlichen Zielsetzungen. Fakt ist, dass die meisten russischen Teil-Herrscher aber gar nicht auf Separatismus im Sinne eines unabhängigen Staates hinaus wollen, sondern sich in ihren politischen Kalkülen auf Russland in der Weise positiv beziehen, dass sie die Reste zentralstaatlicher Gewalt beerben wollen. Das kommt verschiedentlich im Artikel auch zum Ausdruck.
Zweitens: Die Art und Weise, wie sich die politischen Konkurrenten aufeinander beziehen, belegt auch nicht, „dass es das, worum sie konkurrieren, die Übernahme einer öffentlichen Macht, nicht gibt“ oder „dass in Russland nicht darum gekämpft wird, wer im Staat die Macht hat, sondern (!) darum, wem das gehört, womit sich Macht ausüben … lässt.“ Zunächst einmal ist festzuhalten, dass es doch wohl um Machtfragen geht, wenn Macht ausgeübt werden soll, und nicht darum, ein privates Geschäft abwickeln zu können, – das springt vielleicht auch noch nebenher raus. Ferner: Wenn es darum geht, Macht ausüben zu können, dann ist das, worum konkurriert wird, unterstellt, nämlich um die verbliebenen Reste öffentlicher Gewalt. Es macht nämlich keinen Sinn, eine Konkurrenz zu konstatieren, und gleichzeitig den Gegenstand der Konkurrenz zu leugnen.
Schließlich: Wenn in der charakterisierten Weise ein Machtkampf stattfindet, belegt das einmal, dass es mit dem Gewaltmonopol nicht weit her sein kann, – darin hat der Artikel recht – und dass es diesen Typen grad deswegen darum geht, dieses gegen Konkurrenten durchzusetzen. (Letzteres wird im Artikel bestritten, KPRF ausgenommen)
(IV)
Die Entgegensetzung von „es ginge nicht um die Übernahme öffentlicher Gewalt“, sondern um die Frage „wem das gehört, womit sich Macht ausüben … lässt“ legt das Missverständnis nahe (oder will es auch behaupten), als sei der damit verfolgte Zweck ein „privater“. Ja, wofür sonst lässt sich die öffentliche Gewalt denn ausüben, als dafür, politische Herrschaft zum Erfolg zu verhelfen?!!! Die Unterscheidung zwischen den so genannten russischen Kommunisten und dem Rest der politischen Konkurrenz ist verkehrt. Es geht allen um die Rettung der Nation. Alle sind sind sie Nationalisten. Die weiteren Ausführungen in dem Artikel über die Qualität des Wahlkampfes belegen das Übrigens selbst:
Wenn ein General Lebed Jelzin und seinen Anhängern vorwirft, es ginge ihnen beim Krieg in Tschetschenien darum, „die Macht als eigenen Privatbesitz zu verteidigen“ (S.98), dann ist das der Vorwurf, Russland wird vergeigt. Weil der Krieg nach Auffassung Lebeds Russland schadet, muss ein privates Interesse dahinter stecken! Wenn ein solcher politischer Vorwurf erhoben wird, geht es Lebed nicht um private Bereicherung oder private Interessen. Der Mann will doch selbst am liebsten Präsident werden! Und auch die anderen regionalen Potentaten, die glauben mit der amtierenden Macht weiterhin gut leben können, (S.98) sind in ihrem Interesse nicht richtig charakterisiert, wenn es heißt, es ginge ihnen dar-um, die Konkurrenten aus den eigenen Reihen der herrschaftlichen Elite zu enteignen und das, „was sie reich und mächtig macht, als eigenen Monopolbesitz zu erobern“, oder um den „Fortgang der Privatisierung von Macht und Reichtum für sich und gegen die anderen zu entscheiden.“
Der Umstand, dass diese Figuren sich selbst in ihrer ganzen persönlichen charakterlichen Verkommenheit als einzig geeignet erachten, öffentliche Gewalt auszuüben, belegt nämlich nicht, dass es ihnen darum ginge, öffentliche Macht für private Zwecke (welche bitteschön?) zu erlangen, sondern dass sie alle charakterlichen Voraussetzungen für ein politisches Amt erfüllen.
Das gilt – wie schon gesagt – nicht nur für die so genannte kommunistische Partei. Der Artikel legt in der Entgegensetzung zur kommunistischen Partei den Fehlschluss nahe, dass es den anderen Parteien darum gehe, ihren privaten Besitzstand zu mehren. („noch führt sie (die KPRF) ihren Kampf um die Macht im heutigen Russland zur Mehrung ihres privaten Besitzstandes“) Als seien die Kommunisten die einzigen russischen Nationalisten und der Rest der Mannschaft „Heuchler“, denen es eigentlich um die Mehrung des privaten Besitzstands gehe. Das stimmt einfach faktisch nicht! Der ganze Wahlkampf wird mit nationalistischen Parolen geführt. und zwar von allen Parteien, also wird es wohl auch darum gehen! Es geht auch den anderen Parteien bei Russland nicht um das, „was man sich von ihm angeeignet hat“, statt um den „heiligen russischen Boden“.
(V)
Mir ist nicht recht klar geworden, worauf diese Missverständnisse beruhen. Vielleicht daraus, dass von der Methode der Gewaltausübung auf den Inhalt der Befehlsgewalt, dessen „Substanz“ geschlossen wird. Der Schluss ist aber nicht nur in Bezug auf Russland verkehrt. Jelzin, nicht weniger als Suharto, Mobuto und andere Herrscherfiguren agieren als Staatsmänner, „auch“ wenn sich die Methode ihrer Gewaltausübung persönlicher Abhängigkeitsverhältnisse bedient und bedienen muss, weil das „institutionalisierte Regelwerk einer öffentlichen Gewalt“ nicht existiert. (Das „auch“ verdankt sich nur dem Vergleich mit der hiesigen besten aller möglichen Welten und gehört deshalb gestrichen!) Der Umstand, dass sich diese Figuren auch „privat“ bereichern, nimmt daran überhaupt nichts zurück. Worum es geht, ist allein der Inhalt, die Substanz, wie es im Artikel heißt, der Befehlsgewalt, und der (und die) ist nie „privater Natur“!
Blöd ist an dem Fehler, dass der Artikel das journalistische Gequatsche hierzulande von der „Oligarchie“ und den „Clans“ in Russland, also gerade das erzbürgerliche Urteil, die dortige politische Mannschaft sei überhaupt nicht richtig nationalistisch, sondern korrupt, zum Teil mit macht, anstatt es zu kritisieren. Zu erklären ist nämlich, dass diese den kultivierten Demokraten abstoßende Form der politischen Konkurrenz zur Etablierung eines demokratischen Staatswesens in statu nascendi dazugehört, egal ob dieses – an seinen eigenen imperalistischen Maßstäben gemessen – dann erfolgreich ist oder nicht. (Wie war das eigentlich früher in den Vereinigten Staaten mit der Trennung von Macht und denen, die sie ausüben, bestellt? Doch auch nicht viel anders – oder?)
Antwort der Redaktion
1. Um mit dem Letzten zu beginnen: Unsere Rede von „Oligarchen“ und „Clans“ in Russland ist keine erzbürgerliche Unsitte, sondern stellt einen Tatbestand fest. Auf diesen beziehen sich auch die bürgerlichen Beobachter der dortigen politischen Szene. Im Unterschied zu uns sind die aber mit ihrer Urteilsbildung fertig, wenn sie den dort eingerissenen Zustand „Korruption“ heißen. Das ist für sie der Titel, den Machtgebrauch dort als Abweichung von hiesigen Usancen zu inkriminieren, und das halten sie dann schon für die fertige Erklärung des Sachverhalts, dass Russlands Politik, so mächtig sie sich aufspielt, es mit lauter Unter- und Zwischenmächten zu tun bekommt und so ein einziges Zeugnis ihrer Ohnmacht ablegt.
Insofern stimmt auch dein Verweis auf die Gründung der Vereinigten Staaten nicht. Dort war nämlich gegen konkurrierende Interessen einer geschäftsmäßigen Nutzung von Land und Leuten der Standpunkt erst durchzukämpfen, dass ein Gewaltmonopol und die unangefochtene Herrschaft des Rechts die passende und notwendige Ergänzung einer Konkurrenz ist, die sich um die Mehrung kapitalistischen Reichtums verdient macht: Ein siegreicher Bürgerkrieg und in dessen Anschluss die politische Entmachtung und ökonomische Enteignung derer, die einer schrankenlosen Entfaltung des kapitalistischen business im ganzen Land entgegenstanden, begründete dort das Gewaltmonopol des Staates und mit dem ‚the birth of the nation‘. In Russland dagegen wurde ein existentes Gewaltmonopol beerbt und zerstört zugleich, der Staat politisch entmachtet und ökonomisch enteignet, so dass die Wahrnehmung des Erbes Tag für Tag mehr die Züge eines So-Tun-als-ob angenommen hat.
2. Es mögen missverständliche Sätze vorkommen – die Gegenüberstellung von ‚privat‘ und ‚politisch‘, ‚Eigenmacht‘ und ‚Macht der Nation‘ scheint uns der Punkt zu sein, an dem du Anstoß nimmst. Gemeint war das, was du mit deinem Satz zusammenfasst – es macht nämlich keinen Sinn, eine Konkurrenz zu konstatieren, und gleichzeitig den Gegenstand der Konkurrenz zu leugnen
–, jedenfalls so: Was die Lage in Russland betrifft, macht das eben schon Sinn. Weil wir nämlich nicht etwas leugnen, wenn wir über den Zustand der politischen Macht in diesem Land reden. Konstatiert haben wir vielmehr, dass die Staatsmacht dort ziemlich verkommen ist, wenn sie in Form zerstückelter Restbestände der alten Sowjetherrschaft existiert und als solche in Wahlkämpfen umstritten ist. Unsere Behauptung geht dahin, dass wegen des Zustands, in den die Wahrnehmung der Staatsgeschäfte in Russland geraten ist, die Konkurrenten um die politischen Ämter – bislang – eben auch nur damit befasst sind, sich Teile oder Unterabteilungen dessen zu sichern, was politische Funktionen oder Institutionen heutzutage in Russland noch für das eine oder andere Geschäft hergeben.
3. Dass sie dies mit nationalistischen Parolen tun und sich als die einzigen oder besten Verwalter des Kreml ausgeben, ist uns auch nicht verborgen geblieben. Unsere bildhafte Anspielung darauf, dass diese politischen Kämpfe sich wie ein Streit um Pfründe, um privaten Besitzstand
eben, ausnehmen, betrifft nichts weiter als die Fiktion, im politischen Konkurrenzkampf dort hinten stünde die Übernahme eines funktionierenden Gewaltmonopols zur Debatte. Unsere Rede von der privatisierten Staatsgewalt
, auf die du verschiedentlich zurück kommst, läuft also gerade nicht auf das hinaus, worauf du sie zuspitzt: Von einem privaten
Charakter des Interesses dieser Konkurrenten um die Macht zu reden war nicht unsere Absicht. Mit der paradoxen sprachlichen Konstruktion, die dir zu schaffen macht, wollten wir den Verfall der staatlichen Macht auf den Begriff bringen, der – das entnehmen wir deinen Ausführungen – auch dir kein unbekanntes Phänomen ist. Dabei ging es uns nicht darum, in erster Linie das Interesse der Konkurrenten um die Macht in Abgrenzung zu ‚politisch‘ und ‚öffentlich‘ als lediglich ‚privat‘ zu bestimmen und ihnen lediglich höchst eigennützige Motive nachzusagen. Solche kann man ihnen wie auch jedem anderen bürgerlichen Liebhaber der Macht unbesehen unterstellen, die sind uns egal. Von Belang war uns dagegen, was sich der Konkurrenz um die russische Macht an Aussagen über deren Verfassung entnehmen lässt, und diesbezüglich wollten wir deutlich machen, dass es in Russland offensichtlich nicht die Autorität des politischen Amtes ist, die die Autorität dessen begründet, der es innehat: Die Macht des Amtes, Autorität und Reichweite der politischen Befehlsgewalt fallen dort ganz auf das zurück, was der jeweilige Inhaber aus seinem Amt zu machen versteht. Dazu tut der dann sein Bestes, verschafft sich mit seinem Geld und anderen wirksamen Hebeln zur Stiftung von Abhängigkeit die Loyalität, die ihm eine Stabilisierung seiner Macht verspricht. Dies, die in eigener Regie betriebene Behauptung und versuchte Ausdehnung politischer Befehlsgewalt ist das, was wir als das ‚Privatisierte‘ der russischen Staatsmacht angesprochen und als Indiz ihres Verfalls charakterisiert haben.
4. Dass die von uns versuchten Erläuterungen über den Zustand der Macht in Russland womöglich auch für andere Weltgegenden einschlägig sind – Suharto, Mobuto und andere Herrscherfiguren
–, mag gut sein. Ein Einwand gegen unsere Darlegungen über die Verfassung der Herrschaft in Russland aber ist der Hinweis wohl kaum, dass neben Jelzin auch noch andere ohne ein institutionalisiertes Regelwerk einer öffentlichen Gewalt regieren. Im übrigen haben wir uns bei unserer Argumentation keinesfalls zu einem sachfremden Vergleich mit der besten aller möglichen Welten
hinreißen lassen und kommen daher deinem Antrag auf Streichung nicht nach. Wir haben diese Macht Russland nicht an einem ihr gegenüber weltfremden Ideal gemessen, um sie an dem dann abfahren zu lassen, sondern ihren Widerspruch charakterisiert. Es waren nämlich schon die Erben der Sowjetmacht, die sich selbst mit der besten aller möglichen Welten verglichen und zur demokratischen Renovierung der übernommenen Macht entschlossen haben, weil ihnen die machtvolle Zukunft eines bürgerlichen Gewaltmonopolisten vorschwebte. Dass der Widerspruch eines bürgerlichen Staates, dem sein Gewaltmonopol abhanden gekommen ist, nicht unser idealistisches Konstrukt, sondern sehr praktischer Natur ist, kannst du dem folgenden Artikel entnehmen. Der neue Chef im Kreml jedenfalls macht sich sehr tatkräftig daran, dem russischen Staat das Monopol auf die Ausübung hoheitlicher Macht wieder zu verschaffen.