Leserbrief
Leserbrief zu: „Das gute Gewissen an der Macht“

Der Leser bezweifelt die guten Absichten der Politiker, fragt aber nach ihren wirklichen. In der Antwort: Für demokratische Politiker gehört die Gewohnheit, sich für ihr Handeln auf einen ganz wunderbaren allgemein verbindlichen Wertekanon zu berufen, sogar zum Berufsbild.

Aus der Zeitschrift
Siehe auch

Leserbrief
Leserbrief zu: „Das gute Gewissen an der Macht“

Liebe Gegenstandpunkt Redaktion

In der Schule behandeln wir in Sozialkunde seit längerem die „Friedensschaffung“ der UNO und NATO, insbesondere den Kosovo-Krieg. Natürlich sollten wir das Ganze kritisch betrachten. Diese Kritik bezog sich aber lediglich auf die Mittel der NATO und deren Gebrauch. Ihre gute Absicht und, dass sie eingreifen müsse, stand außer Frage. Was man auch durchaus durch Noten zu spüren bekam, wenn man dies bezweifelte. Natürlich würde aber wahrscheinlich fast jeder Politiker genau diese guten Absichten bestätigen. Hier stellt sich mir die allgemeine Frage, was es eigentlich mit solchen Äußerungen der Politiker auf sich hat. Denken sie alle ähnlich wie Joschka Fischer, dass sie eigentlich nur Gutes tun wollen, aber schon so „verblendet“ sind, dass ihnen gar nicht mehr auffällt, wie und was dabei herauskommt? (GegenStandpunkt 2-99, S.141: Joschka Fischer – Das gute Gewissen an der Macht) Wäre der heutige Imperialismus demnach nur ein nicht gewolltes Resultat der Friedensschaffung? Wohl kaum. Lügen sie uns also ganz einfach an? Hätte sich ein Bill Clinton oder eine Madeleine Albright damals, hätten sie eure Artikel zum Kosovo-Einsatz der NATO gelesen, in diesem Sinne „ertappt“ gefühlt?

Vielleicht ist es nicht wirklich wichtig, wie die Mächtigen dieser Welt denken, sondern viel mehr, was sie tun. Trotzdem würde es mich interessieren.

M.F. 5.12.01

Antwort der Redaktion

Nein, J. Fischer und M. Albright hätten sich ganz bestimmt nicht „‚ertappt‘ gefühlt“ durch unsere Erklärungen – die ja im Übrigen auch gar nicht behaupten wollten, den Machthabern der NATO-Staaten wäre es im Kosovo um Krieg statt um Frieden gegangen; wir wollten vielmehr – unter anderem – klarstellen, was es heißt, wenn ein Politiker auswärts Frieden stiften geht. Er stellt sich dann nämlich mit der geballten Macht seiner Nation oder sogar eines ganzen Militärbündnisses oberhoheitlich über die Krieg führenden Parteien, zwingt denen mit überlegener kriegerischer Gewalt seinen Willen auf, weist ihnen einen weit unten angesiedelten Platz in der Hierarchie der politischen Gewalten oder gleich gar keinen mehr zu, erhebt damit sich zum Oberaufseher über den internationalen und sogar inner-nationalen Gewalthaushalt auf der Welt – und darum geht es ihm auch. Nämlich, nochmals, genau darum, dass sein Staat ein Stück des gewalttätigsten Weltgeschehens und exemplarisch an diesem Fall das gewaltträchtige Weltgeschehen insgesamt unter seine Kontrolle kriegt. Die Betonung liegt auf: seine. Nichts können Macher vom Schlage und vom politischen Anspruchsniveau eines Fischer oder einer Albright weniger leiden als einen Konkurrenten, der sich anheischig macht, irgendwo auf der Welt ohne sie und statt ihnen Krieg zu beenden und Frieden zu verordnen. Imperialismus ist eben weder ein Gegensatz zur „Friedensschaffung“ noch eine unerwünschte – oder womöglich erwünschte – Nebenwirkung davon, sondern das Monopol darauf bzw. der Kampf eben darum.

Den Klartext würden der deutsche Außenminister und seine amerikanische Kollegin selbstverständlich nicht unterschreiben; deswegen blieb für uns ja noch etwas zu erklären übrig. Wenn solche politischen Befehlshaber ihrer Öffentlichkeit ihre Vorhaben und Taten erklären, dann lesen sie die Gleichung zwischen „Friedensschaffung“ und Weltherrschaft umgekehrt vor und nehmen selbst für die planmäßige Zerstörung eines Staates den guten Klang in Anspruch, der dem Stichwort „Frieden“ anhaftet – dies übrigens einzig und allein aus dem ungemütlichen Grund, weil in Friedenszeiten das Töten und Verwüsten fremder Länder in staatlichem Auftrag und Interesse gerade mal Pause hat; daran, was in solchen idyllischen Zeiten wirklich passiert, auch an Verwüstungen und Massensterben in Folge staatlich getroffener Arrangements, und dass die Gründe für Krieg noch alle Mal in Friedenszeiten „heranwachsen“, darf man schon gar nicht denken. Aber ein Ehrentitel für auswärtige Machenschaften einer Staatsgewalt ist „Frieden“ nun einmal; und den nehmen die dafür Zuständigen umso lieber für sich in Anspruch, je mehr Gewalt ihr Kontrollregime über den Globus gerade erfordert.

Verlogen ist das natürlich; aber wie! Wenn ein Mann wie Joschka Fischer davon redet, bei der Bombardierung Jugoslawiens ginge es um die Antwort auf die Frage, in was für einem Europa „wir“ zukünftig leben wollen, dann hat er seine Vorstellungen von Europas Zukunft und von einem fulminanten Luftkrieg als Mittel für deren Verwirklichung ganz bestimmt nicht aus Erinnerungen an Auschwitz und an die Untertanengesinnung seiner Eltern abgeleitet und schon gar nicht aus Fernsehbildern von Flüchtlingsströmen; daraus lässt sich so etwas ohnehin überhaupt nicht ableiten. Dann hat er schon an die weltordnungspolitische Bedeutung der EU, an deren Rang neben der Super-Militärmacht USA, an den Balkan als „Hinterhof“ seiner europäischen Führungsmacht und an Bomben als Handwerkszeug imperialistischer Erpressung gedacht und die dazu passenden Kalkulationen angestellt. Und seine Kollegin Albright hat ebenso politische Vorhaben und Berechnungen vertreten und durchgesetzt, die sich aus noch so viel Mitleid mit albanischen Witwen und Waisen nie und nimmer herausrechnen lassen, dafür aber sehr schlüssig aus dem Bedürfnis des Hüters der „neuen Weltordnung“ und der „pax americana“, am Abweichler Milosevic ein Exempel zu statuieren. Aber deswegen verzichten sie doch noch lange nicht darauf, sich für ihre Großtaten auf lauter hoch in Ehren stehende humanitäre Beweggründe zu berufen – das tut doch schon jeder Unternehmer, der für seine Geschäftsmanöver als „Arbeitgeber“ gewürdigt sein will, ohne dass er irgendetwas veranstalten würde, nur um „Arbeitsplätze zu schaffen“; und letztlich denkt und handelt sowieso jedes bürgerliche Individuum nach dem Muster. Für demokratische Politiker gehört die Gewohnheit, sich für ihr Handeln auf einen ganz wunderbaren allgemeinverbindlichen Wertekanon zu berufen – C-Politiker hätten eher aus Gründen christlicher Verantwortung als aus solchen antifaschistischer Wiedergutmachung mit-bombardiert –, sogar zum Berufsbild. Denn damit liefern sie ihren Wählern einen zusätzlichen Gesichtspunkt für Zustimmung zu ihnen und ihrer Politik; einen Gesichtspunkt, der für Zustimmung gut ist, ohne dass der Wähler von der Politik selber etwas zu wissen braucht. Moderne Politiker konstruieren sich sogar ganz methodisch, unter Mithilfe von Werbeagenturen, ein sittliches Ethos für ihre Politik nach dem Kriterium des Effekts zurecht, den sie damit machen wollen – und verheimlichen das noch nicht einmal. Denn darüber scheinen sie sich mit ihren Adressaten einig zu sein: Bei moralischen Bekenntnissen in der Öffentlichkeit kommt es darauf an, dass sie glaubwürdig wirken.

Ob sie sich ihr Ethos außerdem auch noch selber glauben oder nicht, das ist wirklich nicht wichtig. Denn es macht überhaupt keinen Unterschied. An der Staatsräson, die sie nach bestem Wissen und Gewissen exekutieren, sowieso nicht. Und wer in ein exekutives Amt vorgedrungen ist, dem ist die effekt-bewusste öffentliche moralische Selbstdeutung längst zur „zweiten Natur“ oder sogar zur echten und originalen Physiognomie geworden. Und so jemand ist durchaus schon mal zu einer bewussten Unwahrheit fähig, wenn sie der guten Sache – der Nation und insofern auch der eigenen oder umgekehrt – dient, und zu einigem Zynismus. Aber ganz sicher nicht mehr dazu, sich „ertappt“ zu fühlen.