Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Lena-Mania und der gehobene Geschmack:
Echt unter Niveau – aber wenn’s dem Gemeinwesen dient ...

Noch vor der WM darf sich Deutschland über einen Erfolg freuen: Lenas Sieg beim Eurovision Song Contest lässt die Herzen ihrer Landsleute höher schlagen. Die Menschen „kreischen und tröten“, wo immer sie sich gerade befinden, das ganze Land befindet sich im „Taumel“.

Das ganze Land? Nein, eine standhafte Redaktion im Süden der Republik leistet Widerstand; sichtlich befremdet, geradezu voller Verachtung distanziert sie sich vom veranstalteten Spektakel.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Lena-Mania und der gehobene Geschmack:
Echt unter Niveau – aber wenn’s dem Gemeinwesen dient ...

Noch vor der WM darf sich Deutschland über einen Erfolg freuen: Lenas Sieg beim Eurovision Song Contest lässt die Herzen ihrer Landsleute höher schlagen. Die Menschen kreischen und tröten, wo immer sie sich gerade befinden, das ganze Land befindet sich im Taumel.

Das ganze Land? Nein, eine standhafte Redaktion im Süden der Republik leistet Widerstand; sichtlich befremdet, geradezu voller Verachtung distanziert sie sich vom veranstalteten Spektakel:

„Die Entsendung der 19-jährigen Gesamtschülerin aus Hannover mit dem sperrigen Doppelnamen ist zu einer nationalen Angelegenheit geworden, die das ganze Land in Wallung bringt und selbst gestandene Leitartikler schwärmerisch regredieren lässt, wenn es die wahlweise ‚drollige‘ oder ‚kesse‘, mal ‚lustige‘ und mal ‚niedliche‘ Li-La-Laune-Lena zu preisen gilt.“ „Dass wir Deutschen mit dem klinischen Begriff Wahnsinn ein eigentlich eher erfreuliches Ereignis beschreiben, dürfte zum ersten Mal im November 1989 geschehen sein. Damals fiel in Berlin die Mauer … Man hätte ja auch sagen können, das Ganze sei wundervoll gewesen oder fabelhaft, wenn nicht kolossal, oder es hätte Kaiserwetter vorgeherrscht. Aber irgendwie bestanden wir auf dem Wort Wahnsinn, vermutlich weil das, was geschah, den durchschnittlichen Verstand zuerst überstieg und dann außer Kraft setzte. Und genau so ist es jetzt bei Lena wohl auch wieder. ‚Wahnsinn! Lena siegt für Deutschland‘, schreibt der Südkurier . ‚Wahnsinn, geil, geil, geil!‘, kreischt Hape Kerkeling. Der Intendant des Norddeutschen Rundfunks, Lutz Marmor, bezeichnete das Ereignis in der Summe als ‚lenastisch‘, was ja auch eher nach einer zerebralen Funktionsstörung als nach einer Festlichkeit klingt, und dass sich die Fans von Meyer-Landrut als ‚Lenastheniker‘ bezeichnen, ist ja sowieso der Wahnsinn.“ (alle Zitate aus SZ, 28.6. bis 31.6.)

Es sind durchaus bemerkenswerte Auskünfte über die Natur patriotischer Feierlichkeiten, mit denen die Beobachter der Süddeutschen ihren Abscheu bekunden. Für sie ist es unverständlich, dass die Menschen jede gewöhnliche Distanz, die sie ansonsten im alltäglichen Leben untereinander und zu ihren Lebensverhältnissen pflegen, aufgeben und sich, durch den Sieg einer 19-jährige Tussi in Wallung gebracht, wie besoffen in die Arme fallen. Sie halten es, distanziert ironisch wie es sich für ein gehobenes Blatt gehört, aber überdeutlich für schlicht bescheuert, wenn der Verstand regrediert, jede Urteilsfähigkeit abhanden kommt und eine verzappelte Abiturientin ohne große Stimme auf einer der schlimmsten Trash-Veranstaltungen das Volk in einen Ausnahmezustand versetzt, bloß weil sie für Deutschland singt und als Repräsentantin der Nation erfolgreich ist. Und sie finden es überhaupt nicht geil, sondern echt abseitig, wenn die Identifikation mit der Nation die Verstandesleistungen der feiernden Fans dermaßen herunterfährt, dass die Leute– einer zerebralen Funktionsstörung gleichkommend – nur mehr zu begeistertem Gestammel in der Lage sind.

Dass eine patriotische Feier wie die anlässlich Lenas Sieg wieder einmal mit einer gehörigen Portion Verblödung einherging, das haben die geschmackssicheren Intellektuellen von der SZ-Redaktion festgestellt. Das muss für sie aber keineswegs das letzte Wort sein über die ihnen manchmal widerliche Dummheit ausrastender Massen. Denn sie kennen auch Gesichtspunkte, unter denen man die Verachtung für sie durchaus wieder ein wenig zurückrufen und den gerade noch für grenzdebil erklärten patriotischen Wallungen der Landsleute auch etwas abgewinnen kann:

„Der Erfolg der 19-Jährigen zeigt, dass … die Deutschen, wieder einmal, sich sehr gut selbst feiern können.“ „Lena Meyer-Landrut ist so etwas wie die musikalische Integrationsbeauftragte einer zerfallenden Gesellschaft.“ „Ein Phänomen ist aber auch, dass sich die Deutschen in Krisenzeiten ihre Erfolgsgeschichten selber basteln und sich an ihnen erfreuen und berauschen können – so wie das auch schon bei der Fußball-WM 2006 geklappt hat, als die Menschen zeigten, dass sie richtig schöne Feste feiern können, ohne dass ihnen das jemand vorschreibt oder aufdrängt – und ohne dass etwas passiert. In Großbritannien zum Beispiel blickte man 2006 voller Bewunderung nach Deutschland. Auf der Insel, glaubten viele Briten, wären solche friedlichen Veranstaltungen mit mehreren Hunderttausend Menschen kaum möglich.“

Vom höheren Standpunkt ihrer funktionellen Nützlichkeit können sie nämlich – ganz ideelle Organisatoren einer gelungenen Volksgemeinschaft – der Dummheit der feiernden Patrioten ein paar Komplimente nicht versagen:

Dass diejenigen Deutschen, denen es an Gründen zum Feiern mangelt, sich diese Gründe einfach selber erfinden, damit sie sich hinterher als nationale Gemeinschaft selbst feiern können, das halten sie methodisch und inhaltlich für eine sehr anerkennenswerte ideologische Leistung der deutschen Menschen: Wohl wissend, dass sich Patrioten an selbst gebastelten Erfolgsgeschichten berauschen, die nicht die ihren sind und nie zu den ihren werden, finden sie es klasse, in einem Land zu leben, in dem der kollektive Selbstbetrug so gut funktioniert.

Sie erinnern in ihrem Bild von einer zerfallenden Gesellschaft daran, dass es im Alltagsleben von Fußball- und Lena-Fans an Gegensätzen nicht fehlt und der Materialismus der gewöhnlichen Leute, besonders in Krisenzeiten, nicht selten auf der Strecke bleibt – und sehen deshalb in der Euphorie der nationalen Feste einen guten Sinn: dann, wenn Krisenopfer als Patrioten einfach ihre Lage vergessen und ohne dass es ihnen jemand vorschreibt sich als Teil genau des Gemeinwesens feiern, das ihnen ihre Probleme einbrockt.

Und sie haben klare Vorstellungen davon, dass der Nationalismus der Massen, der sich im berauschten Wir zusammenfasst und deswegen nur allzu gut die genauso von sich besoffenen Anderen kennt, eine feindselige und gefährliche Angelegenheit ist – und sind sturzzufrieden damit, wenn sich der Pöbel halbwegs ordentlich benimmt: Dass der auch einmal friedlich Feste feiert, ohne dass ihn die Polizei wie anderswo beständig in Schach halten muss, das ist schon eine lobende Erwähnung wert; denn dass der patriotische Wahn der Massen auch anders kann, vor allem wenn die Anderen zu frech werden, das weiß man bei der SZ auch.