Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Bonn bewältigt das Lehrstellenproblem
Ihre Unzufriedenheit mit dem reduzierten Angebot an Ausbildungsplätzen bewältigt die Regierung durch ganz viel Verständnis für die unternehmerische Kalkulation. Die erste Lektion für die Schulabgänger heißt: Im Arbeitsleben darf man keine Ansprüche stellen.
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Bonn bewältigt das Lehrstellenproblem
Gut 300000 Lehrstellensuchende, so prophezeit die Statistik zum Schuljahresende, werden 1997 keinen Betrieb finden, der sie zu Facharbeitern ausbildet. Das ist kein Wunder. Die deutschen Unternehmen entlassen seit Jahren Millionen Beschäftigte; die einen im Zuge ihrer immerwährenden Offensive gegen ihre Lohnkosten, die andern wegen schlechtem Geschäftsgang, der ihre gestiegenen Profitansprüche nicht mehr bedient. Nur logisch, daß dann auch die Nachfrage nach Nachwuchs sinkt – es gibt sowieso schon viel zuviele fertige Arbeitskräfte, die um Benützung nachsuchen. Und damit unterbleibt automatisch die Berufsausbildung.
Diesen Automatismus hat der bundesdeutsche Sozialstaat
mit seinem vielgepriesenen dualen
Ausbildungssystem
so eingerichtet. Allgemein,
flächendeckend und verpflichtend sorgt er nur für die
unerläßliche Grundausbildung der Kinder in Schreiben,
Rechnen und Pünktlichkeit sowie für eine Sortierung nach
dem Kriterium Lernen pro Zeit; wer diese Auslese
übersteht, bekommt ein weiterführendes und weiter
sortierendes staatliches Schulwesen geboten. Die
Befähigung zu mehr proletarischen Berufen ist der
privaten Geschäftswelt überantwortet; das sorgt gleich
für die richtige Realitätsnähe der Ausbildung, die
demgemäß in der Regel als handfeste Einweisung in die
jeweils verlangten Dienste abläuft. Wie, in welcher
Anzahl und ob überhaupt Jugendliche sich für die
unternehmerischen Ansprüche an eine fertige Arbeitskraft
qualifizieren dürfen, darüber entscheiden folglich die
Konjunkturen und Berechnungen des privaten Geschäfts.
Dabei machen die verschiedenen Arbeitgeber durchaus
unterschiedliche Ansprüche geltend. Einige Unternehmen
ziehen sich in eigenen Lehrwerkstätten den
Facharbeiterstamm heran, für den sie absehbarerweise
nützliche Verwendung haben – also, wie die Dinge heute
liegen, einen immer kleineren. Andere, die allermeisten
Ausbildungsbetriebe nämlich, rechnen die
Ungeschicklichkeit der Schulabgänger gegen deren
geringere Bezahlung auf und organisieren sich unter dem
Vorwand – der ironischerweise sogar stimmt –, so und
nicht anders erhielte der Nachwuchs, was er für sein
Arbeitsleben wirklich braucht, billige Arbeitskräfte, die
im Laufe der veranschlagten Lehrzeit notgedrungen die
wichtigsten Geschicklichkeiten entwickeln, nämlich vor
allem das nötige Anpassungsgeschick. Auch der Bedarf
solcher Betriebe ist freilich eine konjunkturabhängige
Größe, richtet sich außerdem nach dem konkurrierenden
Billigangebot an fertigen Arbeitslosen und fällt derzeit
auch immer geringer aus. So bleibt die Gesamtnachfrage
Jahr für Jahr mehr hinter der Anzahl der Heranwachsenden
zurück, die nach staatlichem Urteil an allgemeinbildenden
Schulen genug gelernt haben, und die Sozialpolitik hat
ein Lehrstellenproblem
.
Das besteht hauptsächlich darin, daß 300000 Jugendliche ihr Arbeitsleben als Sozialfälle anfangen, die absehbarerweise die staatlichen Kassen dauerhaft belasten, statt sie zu füllen. Zum nationalen Problem werden die unbrauchbaren Schulabgänger außerdem auch deshalb, weil die Zuständigen sich die Sorge machen: Wenn größere Teile der jungen Generation – unfähig zum Dienst an der Nation, weil vom Kapital für unbrauchbar erklärt – von vornherein als tote Last definiert sind, könnte mit ihrer absehbaren Verwahrlosung ein Stück gesunder deutscher Zukunft auf dem Spiel stehen.
Politiker sehen sich dadurch herausgefordert, sich
demonstrativ um eine Lösung des Problems zu bemühen, mit
dessen Entstehung sie selbstverständlich nichts zu tun
haben – und dessen Bewältigung selbstverständlich auch
nicht so aussehen kann, daß sie das freie Unternehmertum
zu einem geschäftsschädigenden Ausbildungsaufwand
zwangsverpflichten, bloß weil ein Haufen Schulabgänger
darauf angewiesen ist. Vertreter aller Parteien erklären
sich zuständig, aber ziemlich machtlos und starten eine
„Lehrstellenoffensive“ bei denen, die sie für
Beschäftigung
und Lehrlingsausbildung zuständig
gemacht haben. Sie werben bei den Unternehmern für die
gute Sache Ausbildung, die doch auch in deren Interesse
liegen müsse, und erinnern sie daran, wie gut sie mit dem
deutschen Facharbeiter gefahren seien. Selbst vor
ungewöhnlich kritischen Worten scheuen sie nicht zurück,
wenn sie an die unternehmerische Verantwortung für die
Jugend und den Standort Deutschland erinnern. Die
Gewerkschaft sorgt sich eifrig mit und möchte den Appell
gar mit einer Strafsteuer für nichtausbildende Betriebe
und Belohnungen für ausbildende bekräftigt sehen. Die
Unternehmer ihrerseits versichern, daß erstens sowieso
schon viel mehr Jugendliche ausgebildet werden, als sie
in Zukunft einzustellen gedenken. Zweitens rechtfertigen
sie sich mit dem Erfahrungswert, daß am Ende doch immer
ein paar Dutzend Ausbildungsplätze für Schlachter und
Bäcker übriggeblieben sind, die keiner will. Und damit
gehen sie drittens in die Gegenoffensive: Die staatlichen
Schulen liefern ihnen lauter Typen, die an Hilfsarbeit
für wenig Lohn schnell die Lust verlieren, statt freudig
fürs Leben zu lernen; die außerdem selbst für eine von
ihren Lehrstellen zu dumm sind und weder schreiben noch
rechnen können; und dann sind sie noch nicht einmal 5
Tage pro Woche verfügbar, weil sie völlig
überflüssigerweise zwei Mal wöchentlich in die Schule
geschickt werden.
Die politisch Verantwortlichen nehmen diese Beschwerden sehr ernst, weil sie gegen die gewerkschaftliche Alternative, milden staatlichen Druck auf die Unternehmer auszuüben und finanzielle Anreize zu schaffen, weiter fest auf das „Prinzip Freiwilligkeit“, also die Berechnungen der Unternehmer setzen. Deshalb überlegen sie, wie sie deren gutem Willen mit mehr Entgegenkommen auf die Sprünge helfen können. Sie denken laut über die Abschaffung des zweiten Berufschultages nach – das Land Hessen und Niedersachsen als sozialdemokratische Reformländer schreiten bereits zur Tat –, wie wenn Lehrlinge noch viel zu sehr ihrer Benutzung durch die Betriebe entzogen wären und als ob sie in der Berufsschule ohnehin nichts mehr dazulernen könnten. Sie diskutieren die Höhe der Ausbildungsvergütung als gravierendes Ausbildungshemmnis und suchen gemeinsam mit Arbeitgebern und Gewerkschaften nach Lösungen. An dem Prinzip, demzufolge die berufliche Ausbildung an den kapitalistischen Bedarf gebunden sein und gleich mit kapitalistischer Benutzung der Azubis einhergehen soll, halten sie also fest und würdigen die unausbleiblichen Folgen als Beweis, daß sie den Unternehmern immer noch viel zu viele Belastungen auferlegen.
Abschließend beteuern alle Seiten, daß sie in ihren
Anstrengungen, jedem ausbildungswilligen Jugendlichen zu
einer Lehrstelle zu verhelfen, selbstverständlich nicht
nachlassen wollen. Umgekehrt bekommen die Schulabgänger
Gelegenheit zu beweisen, daß sie wirklich über einen
ehrlichen Ausbildungswillen verfügen, indem sie sich
immer von neuem bewerben, eine Ablehnung nach der anderen
schlucken oder zumindest das Privileg zu würdigen lernen,
das sie mit ihrer Einstellung als Lehrling genießen.
Darüber erwerben sie sich dann bereits die allererste und
absolut zukunftssichere Berufsqualifikation, nämlich die
Gewohnheit, sich im Zusammenhang mit ihrer
Lohnabhängig-keit jede Anspruchshaltung
abzuschminken. Und das erledigt dann erst einmal wieder
das nationale Lehrstellenproblem.