Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Regierungsschelte von rechts im Namen von unten:
Demokratische Kritik in Zeiten der Krise

Der politischen Weisheit erster und letzter Schluss aus der Krise: mehr Klassenkampf von oben tut Not, denn: Der Materialismus der besitzenden Klasse gibt die Maßstäbe guten Regierens vor. Deshalb buchstabiert die demokratische Öffentlichkeit dem gemeinen Volk unter Berufung auf die Zumutungen, die ihm die Regierung auferlegt, sein Recht auf eine Regierung vor, die es mehr rannimmt.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Gliederung

Regierungsschelte von rechts im Namen von unten:
Demokratische Kritik in Zeiten der Krise

1. Der politischen Weisheit erster und letzter Schluss aus der Krise: mehr Klassenkampf von oben tut Not

Nein, die Stimmung ist nicht gut in Deutschland. Die Nation verzeichnet umfassende Misserfolge, das Wachstum lässt auf sich warten, die Arbeitslosenzahlen nehmen zu, immer neue Löcher im Staatshaushalt tun sich auf, wegen der wachsenden Staatsverschuldung wird ein Blauer Brief aus Brüssel fällig – und je länger dieser Zustand andauert, umso einsinniger wird er der Regierung zur Last gelegt: Anstatt den neulich errungenen Wahlsieg als Auftrag zu nehmen, Deutschland entschlossen aus der Krise zu führen – so lauten offenbar die Erwartungen der kritischen Öffentlichkeit an die neue, alte Regierung –, hat die Koalition in den Wochen nach der Wahl ein Tohuwabohu veranstaltet, das selbst die treuesten Anhänger überfordert. Keiner weiß mehr, welches Vorhaben nun gerade beschlossen ist oder noch verändert werden soll. (A. Hoffmann, SZ, 16./17.11.) Die Koalition agiere wie ein unsicherer Fahrschüler: Sie gibt ein wenig Gas und geht wieder erschrocken auf die Bremse… Sie ist in erster Linie unsicher… – Ein Verhalten, das den Eindruck der Rat- und Orientierungslosigkeit verstärkt. (H. Prantl, SZ, 22.11.) Von einem Konzept sei bei dieser Regierung nichts zu erkennen; bei dem, was sie anpacke, mache sie lauter handwerkliche Fehler. Wird in Deutschland überhaupt noch regiert? – fragen sich die politischen Betrachter der Szene, und zwar nicht nur die von der Opposition. In Sorge um das Wohl der Nation vermitteln überparteiliche Medien alle ziemlich den selben Eindruck, in Deutschland regiere weniger die Regierung als vielmehr das blanke Chaos. Mehrheitlich sieht das schließlich auch das Wahlvolk so und erteilt der sozialdemokratischen Regierungspartei bei den anstehenden Landtagswahlen eine Abfuhr, die sich gewaschen hat.

Leidet die Nation an einer kollektiven Wahrnehmungsstörung? Denn was heißt hier, „es wird nicht regiert“ und „kein Konzept“! Kaum für weitere vier Jahre ermächtigt, schafft der Bundeskanzler die beiden Superministerien für Wirtschaft und Arbeit und fürs Renten- und Gesundheitswesen, um energisch die Kräfte für eine Krisenpolitik zu bündeln, die einer insgesamt sehr übersichtlichen Leitlinie folgt: Wenn die Wirtschaft nicht mehr wächst und der Staat deswegen in eine finanzielle Notlage gerät, muss erstens der Staatshaushalt saniert werden, zweitens sind die Wachstumsbedingungen zu verbessern, und das heißt: Von Staats wegen ist es dann gleich aus zwei ganz und gar unabweisbaren Gründen erforderlich, die Bemühungen der Unternehmer im Lande, sich durch Angriffe auf den Lebensstandard ihrer werten ‚Mitarbeiter‘ für die ausbleibenden Gewinne schadlos zu halten (durch Entlassungen, durch Streichen von Lohnbestandteilen, durch erpresste Mehrarbeit…), um eine Politik der Volksverarmung zu ergänzen. Dementsprechend gründlich stellt die Regierung das ganze sozialstaatlich verfasste Gemeinwesen auf den Prüfstand und mustert es daraufhin durch, was sich an Rentnern, Kranken und Arbeitslosen einsparen lässt, deren Lebensunterhalt ja nicht nur die Sozialkassen belastet, sondern in Gestalt von Lohnnebenkosten auch die Unternehmer; sie prüft, wo der Fiskus noch Zugriff auf Einkünfte und Kaufkraft der Gesellschaft nehmen kann – möglichst „wirtschaftsverträglich“, versteht sich, also schon wieder ziemlich klassenspezifisch zu Lasten der eher abhängig beschäftigten Massen; und erkundet, wie sich die Ausbeutungsbedingungen in Deutschland grundlegend verbessern lassen – durch Beseitigung von Kündigungsschutzregeln und tariflichen Verpflichtungen, durch die Schaffung neuartiger, für die Betroffenen natürlich grundlegend schlechterer Beschäftigungsverhältnisse, durch die Einrichtung eines Niedriglohnsektors etc. Gemäß der Maxime, dass der ganze Laden verschärft klassenstaatlich durchsortiert werden muss, konkurriert unter Anleitung von Kanzler Schröder und seiner Superminister die gesamte politische Führung mit einschlägigen Vorschlägen um glaubwürdige Beweise ihrer Tatkraft. Und es bleibt nicht bei Vorschlägen – es passiert ja nicht nichts. Die sozialdemokratisch geführte Regierung krempelt ihren Laden nach dieser Maxime tatsächlich ziemlich entschlossen und systematisch um – als wäre gerade die Sozialdemokratie an der Staatsmacht sich und ihrer Nation den Beweis schuldig, dass sie in Sachen ‚unpopuläre Maßnahmen‘ nichts anbrennen lässt.

Wahrgenommen und kritisiert aber wird ihre Krisenpolitik von der breiten Front ihrer ‚Kritiker‘, von christlichen und liberalen Oppositionspolitikern, von den Wirtschaftsverbänden und von einer kritischen Öffentlichkeit als Mangel an Führung, als Dokument fehlender Tatkraft – und zwar genau auf dem Feld, auf dem die Regierung nun wirklich nicht untätig ist. Der Grund dafür ist weiter kein Rätsel, und er wird der Regierung ja auch nicht selten direkt zum Vorwurf gemacht: Der beabsichtigte Effekt ihrer Politik bleibt aus, es stellt sich kein Wachstum ein. Und nach der Logik, dass sonst ja der Effekt eingetreten wäre, wird aus der Erfolglosigkeit ihrer politischen Taten munter der vorwärtsweisende Schluss gezogen, dass sie es an solchen hat fehlen lassen.

Für die Opposition ist die Misere der Regierung natürlich ein Glücksfall. Mit der Regierung teilt sie die Überzeugung von der unbedingten Wirksamkeit einer durchgreifenden Staatsmacht, die den Standort konsequent dem Zweck der Kapitalvermehrung und damit dem privaten Bereicherungsinteresse der Unternehmer unterwirft. Mit dieser Überzeugung steht in der Krise aber nicht sie, sondern die Regierung auf dem Schlauch: Es liegt gar nicht in ihrer Macht, das Wirtschaftswachstum herbeizuregieren, das nun alle Welt vermisst; die Eigentümerklasse hat zuviel Eigentum mit Anspruch auf Vermehrung akkumuliert, als dass sich dieser Anspruch noch weiter realisieren ließe; und sie hat damit das ganze Gemeinwesen in den Zustand namens Krise hineingewirtschaftet, in dem nichts mehr läuft, weil die Bereicherung dieser Klasse nicht mehr läuft. Die Ohnmacht der Regierung blamiert ihre Erfolgsversprechen. Die denkbar beste Gelegenheit für die Oppositionsparteien also, dieser Regierung, dem amtierenden Personal, Willen und Fähigkeit abzusprechen, die Nation wieder auf Erfolgskurs zu bringen, und sich mit denselben nationalen Erfolgsversprechen als personelle Alternative ins Gespräch zu bringen. Wie die Regierung dringt die Opposition auf einen noch konsequenteren Einsatz der Staatsgewalt im Dienste besserer Wachstumsbedingungen, nur wendet sie diesen Standpunkt gegen die Regierung. Von wegen also „falsch regiert“! Die Regierungskritiker von der Opposition, die Schröder & Co. Fehler beim Regieren vorwerfen, fordern ein noch entschiedeneres ‚Weiter so!‘ So bringt die demokratische Konkurrenz um die Macht in Zeiten der Krise – je länger die dauert, umso mehr – nur eines hervor: eine fortschreitende Radikalisierung des Klassenkampfs von oben.

2. Der Materialismus der besitzenden Klasse gibt die Maßstäbe guten Regierens vor

Diesen Klassenkampf fordert die Klasse der Eigentümer auf ihre Weise. Die Bourgeoisie stellt an ihren regierenden Ausschuss den Anspruch, dass der gefälligst so zu regieren habe, dass ihre Bereicherung klappt – immerhin: mitten in der Krise! Und sie setzt sich dabei souverän über die finanzielle Notlage hinweg, in der der Staat wg. Krise ist. Wo die Regierung nicht umhinkommt, ihren Einsatz für bessere Wachstumsbedingungen unter dem Vorzeichen der staatlichen Haushaltsprobleme zu leisten, die sie zu managen hat, tritt ihr das Klasseninteresse der Eigentümer in Gestalt der Wirtschaftsverbände polemisch entgegen und wendet sich gegen die Unkosten der Klassenherrschaft, gegen „zuviel Staat“, wie es heißt. Dass die Krise und das Regieren in der Krise auch Belastungen für sie mit sich bringen, wollen die Vermögenden im Lande überhaupt nicht einsehen. Dass der Staat, der ja immerhin das feine Wirtschaftssystem aufrechterhält, von dem sie die Nutznießer sind, Geld braucht, zählt da gar nichts.

Wenn die Regierung bei der krisenbedingt notwendig gewordenen Erschließung zusätzlicher Steuerquellen nicht ganz daran vorbei kommt, sich das Geld zum Regieren in Maßen auch bei denen zu beschaffen, in deren Händen es sich auf wunderbare Weise konzentriert, macht sie sich damit unmöglich. Die Einführung einer Vermögenssteuer, einer Steuer auf Spekulationsgewinne oder auch nur einer Dienstwagensteuer ist ein Skandal. In der Stunde der Not, in der der besitzenden Klasse die Vermehrung ihres Reichtums nicht mehr so recht gelingen will, hätte die Regierung diese Klasse nämlich nicht steuerlich zu be-, sondern zu entlasten. Sie hätte eine Umverteilung zu Gunsten der Reichen zu organisieren, öffentliche Mittel für den Not leidenden Mittelstand locker zu machen und gleichzeitig durch allgemeine Steuer- und Abgabensenkungen für die Stimmung im Land zu sorgen, die „die Wirtschaft“ braucht. Denn wenn nun allgemeine Kaufzurückhaltung eintritt – der Steuer- und Abgabenerhöhung wegen (Rheinischer Merkur, 14.11.) – und keineswegs deswegen, weil das Kapital in der Krise massenhaft Lohnzahlungen storniert –, trägt das ja wohl kaum dazu bei, dass die werten „Konsumenten“ zur Steigerung der Umsatzzahlen mehr Geld in die Zirkulation werfen. Dazu, mehr Geld zu verdienen, will man ihnen natürlich nicht verhelfen. Vielmehr muss endlich der Niedriglohnsektor her, der der Geschäftswelt einen deutlich billigeren Zugriff auf die Ware Arbeitskraft gestattet.

Wenn der Staat finanzielle Probleme hat, hätte die Regierung die also anders zu bewältigen als durch Steuer- und Abgabenerhöhungen – und schon gleich nicht durch Steuern, die die Falschen, die Unternehmer treffen! Sie hätte Ausgaben zu streichen, für die freie Unternehmer in einem freien Land sowieso kein Verständnis haben: im Sozialen. Den Vertretern dieses ehrenwerten Standes ist es völlig selbstverständlich, von der Unzufriedenheit mit dem Gang ihrer Geschäfte zu einem Aufruf zur Schädigung der lohnabhängigen Massen überzugehen; namentlich derer, die von den eher spärlichen Leistungen der Sozialkassen leben müssen. Sie führen öffentlich Klage darüber, dass das Land über seine Verhältnisse lebt, und denken beim Gürtel, der enger geschnallt werden muss, nicht an ihren Fettwanst, sondern an ein Kassenwesen, das mit verstaatlichten Prozenten des Lohns, den sie für rentable Arbeit zahlen, Leute ernährt, die gar nicht zur Mehrung ihres Reichtums beitragen. Und was müssen sie sehen? Statt die Sozialbeiträge zu senken und damit ihren Beitrag zur Senkung des Lohnniveaus zu leisten, beschließt die Regierung glatt eine Erhöhung des Rentenbeitrags um ein halbes Prozent. Das ist ein gezielter Schlag gegen die Wirtschaft, die diese Erhöhung nicht nur mitzubezahlen hat, sondern ein Recht darauf hat, dass die Regierung dem segensreichen ‚Sachzwang‘ einer sinkenden Lohnsumme Rechnung trägt, die sich bei der Rentenkasse als Finanzierungsproblem bemerkbar macht, und ihn gegen die ausrangierten Bestandteile der Lohnarbeiterschaft durchsetzt. Im Gesundheitswesen ist es dasselbe: Was brauchen Leute einen staatlich subventionierten Zahnersatz, die ihn sich selber gar nicht leisten könnten, meint ein Arbeitgeberpräsident, der um Vorschläge nicht verlegen ist, wie sich durch die Streichung von Versorgungsleistungen für eine weitere Verbilligung der Volksgesundheit sorgen ließe; schließlich handelt es sich bei der im Grunde auch nur um einen Posten einzusparender Lohnnebenkosten. Wenn die Regierung allerdings meint, ein bisschen auch darauf bestehen zu müssen, dass der Stand selbständiger Ärzte und die Pharmakonzerne, die aus den eingezahlten Kassenbeiträgen ein Geschäft zu machen verstehen, bei der Verbilligung der Volksgesundheit kein Hindernis sein dürfen, dann geht das schon wieder in die verkehrte Richtung. Im Übrigen redet sie ja nur von mehr eigener Verantwortung, statt endlich durchzusetzen, dass jeder soviel Gesundheit bekommt, wie er sich leisten kann.

Dafür, zur Durchsetzung ihres Interesses gegen ihr Ausbeutungsmaterial und dessen gewerkschaftliche Vertretung, ist nach dem Geschmack dieser Nutznießer des Systems natürlich nicht „zu viel Staat“ in der Welt, sondern entschieden zu wenig. Und sie dürfen sich sicher sein, dass ihnen diese Anspruchshaltung niemand verübelt, dass sie mit ihr vielmehr für kompetent gelten in der Frage, was das Gemeinwesen an „Reformen“ braucht.

3. Die demokratische Öffentlichkeit buchstabiert dem gemeinen Volk unter Berufung auf die Zumutungen, die ihm die Regierung auferlegt, sein Recht auf eine Regierung vor, die es mehr rannimmt

Das Volk wird bei seiner Meinungsbildung über den Laden, in dem es arbeitet und Steuern zahlt, auch in der Krise nicht alleine gelassen. Presse, Funk und Fernsehen stehen bereit, um die Betroffenen der Krise und ihrer politischen Bewältigung geistig bei Laune zu halten und solange zu bearbeiten, bis sie sich als Auftraggeber all dessen verstehen und ansprechen lassen, was ihnen zugemutet wird. Das ist sich die Demokratie offenbar schuldig. Nur, wie geht das eigentlich? Wie kriegen es die demokratischen Meinungsbildungsinstitute hin, die Leute dafür einzunehmen? Wie läuft da die Ansprache?

Angesprochen wird das Volk tatsächlich in seiner Rolle als geschädigtes Opfer. Die Bildzeitung, das Blatt für die kleinen Leute, bringt es auf dem Feld zu einer gewissen Meisterschaft. Sie zettelt eine regelrechte Kampagne gegen die amtierende Regierung an: „Steuern! Schulden! Arbeitslosigkeit! – Kanzler, uns reicht’s!“ Sie lässt brave Krankenschwestern und Bauarbeiter anhand ihres Lohnzettels vorrechnen, um wie viel ärmer sie der Staat gemacht hat, erinnert ihre Leser also ausdrücklich an die Lasten, die ihnen von ihrer Obrigkeit auferlegt werden – und bietet ihnen so einen Gesichtspunkt an, unter dem sie sich einklinken können in ein allgemeines Beschwerdewesen über eine Regierung, die „nur abkassieren“ kann. Damit ist die Agitation bereits einen entscheidenden Schritt weiter gekommen – von den Belangen der Angesprochenen weg, hin zu den Sorgen, die sie sich machen sollen. Denn vorrangig um die Belastungen, die Otto Normalverbraucher und Lieschen Müller zu tragen haben, geht es ja schon gar nicht mehr, wenn die Öffentlichkeit der „Wut der Deutschen“ über ein „ausuferndes Steuer- und Abgabenwesen“ und einen „viel zu hohen Staatsanteil“ Ausdruck verleiht. Endgültig nicht mehr um die Geldsorgen der „kleinen Leute“ geht es, wenn sie der Klage darüber, dass „jeder zweite Euro vom Staat kassiert wird“, ihre Interpretationen hinterherschickt, was daran der eigentliche Skandal ist: nämlich zum einen, dass bei den Falschen abkassiert wird; zum anderen, dass es die falsche Regierung ist, die abkassiert. Erst wenn die im übrigen auch schlagertaugliche Beschwerde übers Abkassieren in mindestens eine dieser beiden Richtungen einmündet, liegt das Volk mit ihr richtig. Und damit es diese Kurve auch hinkriegt, wird ihm mit allen möglichen ‚Argumenten‘ hilfreich zur Seite gestanden, die es in den zahlreichen Eigenschaften ansprechen, in denen es eingespannt ist und in der Krise mehr rangenommen wird: als Steuer- und Beitragszahler, als Patient und Rentenempfänger, als Arbeitsplatzinhaber oder -suchender.

Kaum beginnt man im Kreis der Regierung über eine Dienstwagensteuer auch nur laut nachzudenken, schon steht in dieser Republik eben nicht nur eine besserverdienende Elite auf der Matte, sondern mit ihr eine kritische Öffentlichkeit, die erläutert, warum eine solche Steuer in die ganz verkehrte Richtung geht. Der Normalsterbliche, der in den Genuss eines Dienstwagens nie kommt, braucht nicht zu meinen, dass ihn diese Steuer ausnahmsweise einmal nichts anginge; und schon gleich nicht, dass es bei dieser Steuer die Richtigen trifft. Ihm wird auf die Sprünge geholfen, eine Brücke gebaut, mühsam hinkonstruiert von einer Steuer auf den repräsentativen Luxus der Elite hin zu der Art von Sorgen, die ihn plagen: Bei den Herstellern der Karossen und deren Zulieferern, wird ihm vorgerechnet, wären womöglich Arbeitsplätze gefährdet, wenn es bei denen wegen so einer Steuer zu Umsatzeinbrüchen käme. Dezent darauf hingewiesen, wer hier mit seiner lächerlichen Einkommensquelle die abhängige Variable von wessen Geschäftserfolg ist, wird ihm die Einsicht nahe gebracht, dass er sich diese Steuer im Grunde gar nicht leisten kann. Und sitzt dieses ‚Argument‘ erst einmal, ist auch klar, wo das Abkassieren wirklich unerträglich und uneingeschränkt beklagenswert ist – natürlich dort, wo wir alle betroffen sind, wo es die Vermögenden trifft:

„Kein Plan der Regierung könnte so dramatische Folgen haben wie der Versuch der SPD-Länder, die Vermögenssteuer wieder einzuführen. Sie belastet nicht den Ertrag eines Unternehmens, sondern dessen Substanz. Das kann nicht gut gehen… viele Mittelständler wandern ab, Kapital flieht.“ (Der Spiegel Nr.49)

Der Kommentator ist sich sicher, dass das Stichwort vom Kapital, das flieht, auch ohne Erwähnung der vielen Arbeitsplätze, die dann gefährdet wären, als Hinweis auf unser aller Lebensmittel verstanden wird. Nicht auszudenken, wenn die wahren Leistungsträger der Nation, ihre Nutznießer, die dem gemeinnützigen Beruf der privaten Bereicherung nachgehen, ihr Bündel schnüren und ihr Kommando über die Arbeit im Ausland ausüben! Die Folgen einer Mehrbelastung all derer, die kein Vermögen vorzuweisen haben, sind da weit weniger „dramatisch“; schließlich müssen sie von ihrem Geld nur leben.

Als Steuerzahler und Lohnabhängiger personalidentisch und in beiden Eigenschaften als nützliche Idioten höherer Interessen angesprochen, werden den Leuten die absurdesten Nutzen- und Schadensabwägungen aufgeschwatzt: Statt weiter den „bequemen Weg“ des Abkassierens zu gehen, sollte die Regierung ihrem Volk lieber die zur Genesung der Wirtschaft schon längst „notwendigen harten Einschnitte“ verordnen. Als Volk bringt man das hin, indem man bei Wirtschaft an uns alle denkt, bei Bequemlichkeit an die viel zu komfortable Lage der viel zu vielen Kostgänger des Sozialstaates, mit denen es sich die Regierung angeblich nicht verscherzen will – ansonsten braucht man nur stur als Beitragzahler weiterzudenken.

Es ist schon interessant, zu welchen ideellen Kollektiv- und Frontenbildungen die Leute in dieser neuen Eigenschaft über welche wirklich existierenden Kollektive und Fronten hinweg ermuntert werden. Verbünden dürfen sich Herr und Frau Beitragszahler mit den Unternehmern z.B. in der Forderung nach einer Verbilligung der Volksgesundheit, durch die sie für die Unternehmer billiger werden. Begreifen dürfen sie diese Verbilligung als Akt der Befreiung von einer staatlich verordneten ‚Zwangssolidarität‘ mit den Kranken, die sie „mitschleppen“ müssen. Für abhängig Beschäftigte, die, als Beitragszahler angesprochen und gegen die Kranken aufgehetzt, ihresgleichen für die Beiträge verantwortlich machen dürfen, die sie zahlen müssen, und über die „Überversorgung“ schimpfen dürfen, auf die die Kranken – also im Zweifelsfall sie selber – als minderbemittelte Leistungsempfänger der Krankenkasse angewiesen sind, eröffnet sich da eine Riesenperspektive. Endlich werden sie nicht mehr „geschröpft“ und „gegängelt“ durch ein Gesundheitssystem, das im Prinzip jedem ohne Ansehen seines Einkommens ein Pflaster oder eine Behandlung bezahlt hat. Endlich können sie sich eigenverantwortlich sogar für „niedrigere Tarife“ entscheiden; mit und ohne „Bonussystem“ und mit der speziell auf sie und ihren Geldbeutel zugeschnittenen Zuzahlung, die den Krankheitsfall dann richtig teuer macht.

Nach demselben Muster lässt sich natürlich auch eine Erhöhung des Rentenbeitrags als neuester Schlag in einem „Generationenkrieg“ begreifen. Einem Krieg, in dem „die Jungen“, die (arbeitgebender- oder arbeitnehmenderweise, was spielt das für eine Rolle) das Geld verdienen, unter Beihilfe einer Regierung, die hier schon wieder lieber den „bequemen Weg“ des Abkassierens geht, von den Alten ausgeplündert werden: So schleppt ein Erwerbsstand, dessen Kräfte immer erkennbarer schwinden, einen von Jahr zu Jahr an Umfang und Gewicht zunehmenden Genussstand. (A. Kilb, FAZ, 25.11.) Dass in einer kapitalistischen Krise die Rentner als nutzlose Figuren ebenso wie die Arbeitslosen mit als Erste das Recht auf einen Lebensunterhalt verloren haben, weil in der Einsparung dieser „konsumtiven Kosten“ eine Chance zur Haushaltssanierung und „Revitalisierung der Marktwirtschaft“ liegt, das ist für demokratische Schriftsteller selbstverständlich, ja banal, und wäre, so gesagt, ja irgendwie ehrlich brutal: Rentner sollen sich mit ihrem Ausscheiden aus dem „Erwerbsleben“ sozialverträglich ins Jenseits abmelden und nicht mit ihrem Gnadenbrot dem Staat und der Wirtschaft auf der Tasche liegen. Moralisch bildend wird derselbe gemeine Imperativ der Rentenkürzung aber, wenn er als Auftragswerk einer Figur namens Beitragszahler daherkommt; erst dann ist er reif für seine demokratische Veröffentlichung: Arbeiter und Rentner sollen sich nicht begreifen als Angehörige derselben Klasse unterschiedlichen Alters, als Betroffene desselben Systems, in dem Leute ihres Schlages von der Wiege bis zur Bahre als Kostenfaktor verfolgt werden. Als Beiträge zahlende Arbeitnehmer sollen sich die Leute vielmehr als Opfer schmarotzender unnützer Alter begreifen, denen die Regierung noch viel zu viel „Genuss“ erlaubt – nämlich zu leben, obwohl sie gar nicht arbeiten. Genau hier, wo die Beschwerde über „zu hohe“ Beiträge zielsicher in einen Antrag an die Regierung mündet, sie möge die Rentner doch bitte vermehrt und vorzugsweise zur Sanierung von Haushalt und Wirtschaft heranziehen, darf das Anliegen, „mehr in der Tasche“ haben zu wollen, auf Verständnis rechnen. Woanders ist dieses Anliegen natürlich fehl am Platz.

Wenn Gewerkschaften das immer noch nicht umstandslos einsehen wollen und aus mindestens ebenso viel nationaler wie sozialer Verantwortung darauf insistieren, dass ihr Bild von einem Gemeinwesen, für das wir alle Opfer bringen, von der Regierung nicht gänzlich zerstört wird –

„Was wir nicht brauchen, ist ein Lohnverzicht zu Gunsten der reichsten Grundbesitzer im Land. Was wir nicht brauchen, ist Sparen zu Gunsten der Familie Holtzbrink, mit einem geschätzten Familienvermögen von 5-6 Milliarden Euro“ (Verdi-Chef Bsirske, SZ, 13.12.) –,

dann wird ihr Einsatz für das Mindestmaß an „sozialer Gerechtigkeit“, das sie für nötig halten, um die klassenstaatliche Realität dementieren zu können, prompt empört zurückgewiesen: Wer so etwas sagt, hefte den Reichen eine neue Form von Stern an die Brust. (Ministerpräsident Koch, SZ, 13.12.) Wo leben wir denn, muss sich der christliche Landesvater gedacht haben, natürlich ist Lohnverzicht und Sparen zugunsten der Reichen angesagt. Wie soll denn die Wirtschaft sonst auf die Beine kommen? Wenn das Sozialneid schürende Gewerkschaftsführer nicht anerkennen wollen, dann muss man ihnen gegenüber auch einmal die dickste Moralkeule auspacken. Bezeichnenderweise muss er sich anschließend für seinen Nazi-Vergleich nicht bei den Gewerkschaften entschuldigen, sondern bei der Jüdischen Gemeinde, die ihre Zuständigkeit in Fragen der rechtmäßigen Anwendung dieser Moralkeule verletzt sieht. Denn ansonsten liegt er mit seinem mutigen Einsatz für den Klassenstaat natürlich genau richtig.

Dieser Auffassung ist jedenfalls ein Blatt wie der Spiegel, das zwar keine Postille des Arbeitgeberverbandes ist, aber, wenn es darauf ankommt, wie eine solche argumentiert. Dass es mit der Nation nicht aufwärts geht, also das Volk immer noch nicht genügend rangenommen wird, kann es sich nur so erklären, dass in Deutschland ein unternehmerfeindlicher Standpunkt regiert. Ihm ist völlig klar, warum Schröder

„von einer kräftezehrenden Modernisierungspolitik, die gegen allerlei Widerstände durchgesetzt werden müsste, wenig wissen (will). Was vom einstigen Credo noch geblieben ist, treiben ihm die Genossen Gewerkschaftsbosse, die sich zu einer Art Nebenregierung aufgeschwungen haben, in Kungelrunden aus.“ (Der Spiegel, Nr. 47)

Dem gedeihlichen Zusammenwirken von regierender Sozialdemokratie und Gewerkschaften könnte man zwar durchaus auch etwas ganz anderes entnehmen – wie sehr sich diese Gewerkschaften für eine Krisenpolitik zu Lasten ihrer Klientel einspannen und benützen lassen, wenn ihnen die Regierung nur ein gewisses Maß an Mitsprache beim Wegstreichen und Kürzen einräumt. Aber das würde ja nicht erklären, warum es mit den für notwendig erachteten „Strukturreformen“ nicht vorangeht. So wird agententheoretisch ein Feindbild von Gewerkschaftsbossen errichtet, die mit ihren machtvollen Seilschaften den Staat unterwandert haben, von „roten Gralshütern“ in Gestalt von Parlamentarischen Staatssekretären, die „Einfluss auf die Politik“ nehmen, und von einer willfährigen Regierung, die viel zu kraftlos ist, sich „gegen allerlei Widerstände durchzusetzen“. Mit „Konsensdemokratie“ wird die Vorstellung evoziert, die Regierung ließe sich um des lieben sozialen Friedens willen von den Gewerkschaften und allen möglichen anderen Interessengruppen lauter Konzessionen abhandeln und versäume es darüber, die fällige saumoderne Politik auf Kosten der Massen durchzusetzen.

Die höhere Form der demokratischen Agitation spricht ‚die Menschen‘ also gleich in ihrer Eigenschaft als Volk an, das in diesem Sinne fordernd gegen seine Regierung auftritt. Sie unterstellt den politischen Grundkurs als erfolgreich absolviert, in dem jedem Bürger für die spezielle Betroffenheit und Schädigung durch das Regierungshandeln ein Gesichtspunkt an die Hand gegeben wird, aus dem heraus er seinen Antrag auf noch entschlosseneres und radikaleres Regierungshandeln formulieren kann; sie geht also von Leuten aus, die sowieso nichts anderes mehr im Sinn haben als den Erfolg ihrer Nation:

„Die Menschen wissen sehr gut, dass es nicht so weitergeht. Sie haben den Defätismus satt, sie warten auf eine unerbittliche Analyse, auf die Stunde der Wahrheit also, auf eine klare Ansage und auf Zumutungen für alle. Sie warten auf das Personal, das den Mut dazu hat.“ (H. Prantl, SZ, 22.11.)

‚Die Menschen‘, die da quasi zitiert werden, um sie mit ihrem eigenen Zitat anzusprechen, sind Untertanen, wie man sie sich als Demokrat und Mitglied der meinungsbildenden Zunft nur wünschen kann. Und man beglückwünscht sie dazu, dass sie so sind. Als Bürger mit materiellen Interessen sind sie sozusagen restlos in ihrer zweiten, staatsbürgerlichen Natur aufgegangen. In der halten sie nur eines nicht aus: die Misere ihrer Nation. Die, „wissen“ die Menschen, leidet im Grund nicht an einer Krise, sondern am mangelnden Willen der Führung, das Volk mehr ranzunehmen. Und daran leidet das opferbereite Volk, das sich nichts dringlicher wünscht als endlich von einer anderen Regierung regiert zu werden. Mundgerecht bereitet die Öffentlichkeit die Lage der Nation für ein Volk auf, dem die Demokratie die Entscheidung über das Regierungspersonal überantwortet. Und sie lässt den ‚Souverän‘, der darüber und über sonst nichts zu entscheiden hat, auch mit dieser Entscheidung nicht alleine. Stellvertretend für ihn stellt sie sich die Frage, die er zu entscheiden hat. Und was kommt heraus? Dieser Regierung traut sie es jedenfalls schon mal nicht mehr zu, das Ruder rumzureißen. Sie sehnt sich nach glaubwürdigen Charaktermasken einer durchgreifenden Staatsgewalt an der Macht und untergräbt mit ihrem Anspruch auf sofortige vorweisbare nationale Erfolge selbst die Glaubwürdigkeit der Angebote, die die Parteienkonkurrenz auf diesem Feld reichlich zu bieten hat. Sie sieht deshalb „nicht nur Rot-Grün, sondern auch Schwarz-Gelb mehr und mehr energielos zusammensacken“ und (ver)zweifelt darüber – letztlich also über den ausbleibenden nationalen Erfolg – gelegentlich auch an der Demokratie:

„Das Grundgesetz hat vier Jahre nach der braunen Diktatur aus damals verständlicher Angst vor der Wiederkehr eines Führerstaates keine praktikable Regelungen für den innenpolitischen Ernstfall geschaffen. Niemand wird heute eine demokratische Diktatur fordern. Aber was wird, wenn die normalen Verfahren nicht mehr greifen?“ (Arnulf Baring, FAZ, 19.11.)

Natürlich muss man sich in der Demokratie die Forderung nach einer Diktatur verbieten; sogar die nach einer demokratischen Diktatur. Aber was soll man fordern, wenn man zu der Auffassung gelangt, dass die Demokratie mit ihren umständlichen Verfahren im Ernstfall dem Staat zu viele Fesseln auferlegt und „jede energische Konsolidierung verhindert“? So sinniert ein Mann über praktikablere Herrschaftsverfahren, dessen Hauptbedenken gegen die demokratische Wirklichkeit in der Bundesrepublik darin besteht, dass sie mit ihren „permanenten Plebisziten von 16 Landtagswahlen“ Politiker hervorbringt, die sich zwecks Stimmengewinn dem Volk anbiedern. Wenigstens Figuren mit gescheiten Führerqualitäten an der Macht wird man in der Demokratie ja wohl fordern dürfen!

4. Lehren aus einem Wahldesaster

Das Wahlvolk liefert bei zwei Landtagswahlen das bestellte Wahlergebnis. Eine Minderheit in der SPD unter Anführung von Oskar Lafontaine versucht, die Wahlschlappe der SPD als Antrag auf eine andere Politik misszuverstehen. Sie meint, aus dem Wahlergebnis die Forderung nach einer konjunkturpolitischen Wende à la Keynes herauslesen zu können, und macht sich damit nicht nur lächerlich, sondern gerät prompt in den Verdacht eines radikalen Links-Abweichlertums. Der Kanzler persönlich übernimmt die Verantwortung für die Wahlniederlage seiner Partei und verspricht Besserung – im Sinne eines noch konsequenteren Klassenkampfs von oben. Die Grünen sehen sich bestätigt in der Rolle der in Sachen ‚Modernisierung‘ des Sozialstaats federführenden Kraft in der Regierung. Die siegreichen C-Gruppen verkünden glaubwürdig, dass sie ihre gestärkte Position im Bundesrat dazu nutzen werden, der Regierung einen härteren Kurs aufzuzwingen. Die FDP-Führung nutzt die Gelegenheit, sich durch Kritik an einem verbrauchten Kanzler aus der Schusslinie der öffentlichen Kritik zu bringen, in die sie wg. Möllemann geraten ist. Und die PDS – kriegt einfach kein Mikrophon mehr hingehalten, in das sie ihre Forderung nach einer Politik im Namen von mehr „sozialer Gerechtigkeit“ beim Verordnen der erforderlichen Härten hinein sagen kann. Wie gesagt: Der politischen Weisheit erster und letzter Schluss aus der Krise…