Krieg & Moral – ein deutscher Lernprozess

Um Krieg zu führen, bedarf es einer Umwertung aller Werte. Töten von anderen Menschen – im Normalfall verboten – wird zur staatsbürgerlichen Pflicht im Namen höchster Werte wie Rettung von Leben und Bewahrung von Menschenrechten.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Krieg & Moral – ein deutscher Lernprozess

I.

Wenn Staaten gegeneinander zur offenen Gewalt übergehen, wenn das Töten und Sterben im Staatsdienst angesagt ist, dann hat die Moral Konjunktur. Publizisten, Philosophen und andere Seelsorger der Nation haben einiges zu erklären – nicht etwa den Grund und Nutzen des Waffengangs, sondern warum der Bruch des Friedens vor den höheren Maßstäben unseres zivilisierten Gemeinwesens in Ordnung geht. Der Bedarf nach Rechtfertigung liegt auf der Hand, denn die Regierung bricht mit dem zwischenstaatlichen Normalzustand, dem Einhalten von Verträgen und dem Respekt vor anderer Hoheit – mit lauter Prinzipien der Außenpolitik also, die sie selbst hoch schätzt und mit Nachdruck von anderen Staaten verlangt. Noch dringlicher ist der Nachweis, dass das Vaterland darf, was es tut, und seinen zivilisatorischen Prinzipien treu bleibt, wenn es sie über Bord wirft, wegen der moralischen Umstellung, die der Krieg von den Bürgern verlangt. Ihr Staat verordnet ihnen im Inneren Gewaltlosigkeit, Respekt vor Person und Eigentum des Anderen, und belegt die absichtliche Tötung eines Menschen mit der Höchststrafe – und dann macht er seiner soldatischen Jugend dem Feind gegenüber alles zur Pflicht, was er sonst verbietet. Nicht, dass die Gefahr groß wäre, die Bürger könnten von der militärischen Barbarei zurückschließen auf die Gewaltsamkeit der Verhältnisse, deren Bestand und Fortschritt solcher Mittel bedarf – es ist eher umgekehrt: Der tiefe Glaube an die Vernunft und zivilisatorische Leistung der Staatsgewalt im Inneren lässt Bürger bisweilen am kriegerischen Auftreten ihres Staates nach außen irrewerden.

Genau das aber sollen sie nicht. Sie sollen Moralisten bleiben, zugleich aber von ihrer Alltagsmoral zurücktreten, die höhere Moralität des Staates im Krieg einsehen und anerkennen. Ohne Moral lässt sich keiner ins Feuer schicken. Ohne Gewissen bringt keiner einen anderen um. Deshalb müssen Soldaten, wie ihre Lieben daheim, ein gutes Gewissen dabei haben können. Nur mit gefestigter staatsbürgerlicher Moral bringen es ganz normale Zeitgenossen fertig, wildfremde Menschen zu töten.

Mehr als alltägliche Geschäfte und die zu ihnen gehörige Rücksichtslosigkeit braucht also der Krieg unanfechtbar höhere Werte, deren Rettung das Blutvergießen adelt. Die „nationalen Interessen“, mit denen die Erpressung anderer Staaten im Frieden hinreichend erklärt und verstanden wird, genügen im Kriegsfall nicht. Angesichts der Gewalt, die Staaten sich und ihren Bürgern im Krieg antun, erscheinen bloße Interessen und nationale Vorteile leicht als jene „niedrigen Beweggründe“, die aus dem Totschlag einen Mord machen. Ohne höheren Auftrag, den er von Gott, der Vorsehung, der Zivilisation oder der Menschheit erhalten hat, schreitet kein Staat zur Anwendung militärischer Zwangsmittel. Gewalt ist nur Recht, weil und wenn sie zum Schutz eines Wertes ausgeübt wird, der höher steht als die feindlichen Interessen der Kriegsgegner. Das Mindeste, worauf Kriegsparteien sich berufen, ist ein Vertragsbruch des Feindes, der, wenn man ihn durchgehen ließe, die Verlässlichkeit des internationalen Rechts sowie den Respekt der Nationen vor einander völlig zerstören müsste. Das eigene Recht zu verteidigen und die Macht des Rechtsbrechers zu brechen, ist dann kein Interesse, sondern Pflicht; der Erfolg dabei kein nationaler Vorteil, sondern die Wiederherstellung des friedlichen Verkehrs der Völker.

Beim Nato-Krieg gegen Jugoslawien um das Kosovo, dem ersten Waffengang seit 1945, an dem deutsche Soldaten teilgenommen haben, gab man sich im Land des einstigen Weltkriegsverlierers noch mehr Mühe als allgemein und anderswo üblich, um das Unternehmen im Lichte allerhöchster Werte zu heiligen: Nicht nur, dass nationale Interessen konsequent dementiert wurden. Bis zur offenen Absurdität beharrte man darauf, dass nur geschossen würde, um Leben zu retten; dass ein Krieg zwischen Nationen eigentlich gar nicht vorliege, sondern eher eine Bestrafungsaktion der Weltgemeinschaft gegen einen individuellen Verbrecher, der das Menschenrecht verletzt. Wochenlang wälzten Teile des deutschen Feuilletons Fragen der Art, ob man zum Schutz des Lebens Leben auslöschen darf und ob eine militärische Intervention, die der „Verhinderung einer humanitären Katastrophe“ gewidmet ist, ihren Heiligenschein verliert, wenn sie die Katastrophe erst so richtig in Gang bringt.

Endgültig erlöst werden diese Autoren von ihren Gewissensnöten von der serbischen Kapitulation, und da landen sie sofort bei der Einsicht, dass der Nicht-Krieg als ausnahmsweiser Fall von menschenrechtlicher Notwehr gerade noch vertretbar sei. Nach getaner Rechtfertigungsarbeit wenden sie sich erleichtert dem Ergebnis ihres moralischen Gerichtshofs zu: Freispruch! Ein gerechtfertigter Krieg unter deutscher Beteiligung! Der andere Teile der Autorenschaft steht längst auf diesem Standpunkt und ist sich von Anfang an des Fortschritts bewusst, den eine deutsche Kriegsbeteiligung bedeutet. Seine Vertreter hatten nie Probleme, die Sache bei ihrem richtigen Namen zu nennen, und auch den Gewissenhaften macht es nach dem Sieg nichts mehr aus, dass ihre Rechtfertigungen einem veritablen Krieg gegolten hatten. Für beide wiedervereinigten Teile der deutschen Moralisten sieht die Welt nach dem erfolgreichen deutschen Krieg nämlich anders aus.

II.

„Der Krieg im Kosovo verändert unser Bild von uns selbst und unsere Vision von der Zukunft.“ (Nass, Die Zeit, 10.6.) „Der bis zum Fall der Mauer unbestrittene Konsens ‚Nie wieder Krieg‘ erweist sich plötzlich als zu kurz, als unvollständig.“ (P. Schneider, FAZ, 23.4.) „Seit dem Eingreifen der Nato unter Beteiligung der Deutschen wankt plötzlich eine der Säulen, auf der die deutsche Moralität so ruhig ruhte … wird der Begriff ‚Auschwitz‘ zum deutschen Argument für ein militärisches Eingreifen.“ (H.D. Kittsteiner, FR, 19.7.)

Was so ein Krieg alles kann! Die großen Moralisten predigten bis gestern, dass der Mensch Werte brauche, damit er Maßstäbe hat und Gut und Böse unterscheiden kann. Jetzt bekennen sie sich zur umgekehrten Reihenfolge. Sie prüfen nicht etwa den Krieg an ihrem edlen Selbstbild und ihren humanen Visionen, sondern lassen beide vom nationalen Großereignis überprüfen und korrigieren. Der schöne Konsens, dass nie wieder Krieg sein solle, greift „plötzlich zu kurz“ – warum eigentlich? Eben weil Krieg ist! Natürlich korrigieren die Vertreter des nationalen Räsonnements nicht wirklich ihr Selbstbild. Sie, die für den Krieg waren, geben sich durch ihn belehrt, weil sie von anderen verlangen, sich durch ihn belehren zu lassen. Das gute Gewissen, das sie sich in dieser Sache verschafft haben, wenden sie gegen jene, die noch ein schlechtes dabei haben. Diesen Leuten, die heute noch am offiziellen Pazifismus von gestern festhalten, sprechen sie nicht nur den Realismus, sondern auch die moralische Respektabilität ihrer Haltung ab – und das mit der schönen Klarstellung, dass beides dasselbe ist: Eine Moral, die nicht dazu taugt, dass ihre Anhänger die Sache des Gemeinwesens mit gutem Gewissen vertreten und sich verantwortlich in sie einreihen kann, ist nicht nur lächerlich weltfremd – „sie ruht so ruhig!“ –, sie ist ein Fall von persönlicher Rechthaberei und intellektuellem Egoismus! Moral, das machen ihre Propagandisten deutlich, besteht darin, dass das Individuum sein moralisches Befinden zur Unmaßgeblichkeit herabsetzt und sich den höheren Gesichtspunkten der Nation unterordnet. Und wenn die Nation Krieg führt, dann ist dies eine moralische Herausforderung, der sich das Individuum bedingungslos affirmativ zu stellen hat.

„Der Krieg wirkte als Schock und setzte die Gedanken frei.“ (G.Hoffmann, Die Zeit, 10.6.) „Mit Fug und Recht kann man sagen, dass der Krieg auf dem Balkan … ein Schlüsselereignis der neuen europäischen Geschichte darstellt – und zwar deshalb, weil er die von den Weltkriegen geprägten jeweiligen nationalen Erinnerungen der beteiligten Gemeinwesen annulliert.“ (D. Diner, Die Zeit, 10.6.) „Wie das Geschichtsbild durch die Kosovo-Debatte reicher und differenzierter geworden ist, so auch das Bild von Europa … Historisch, geographisch und politisch bietet der Krieg die Chance, aus der Enge des altbundesdeutschen Bewusstseins auszubrechen, bescheidener gesagt, seine Grenzen ein bisschen auszudehnen. Jetzt kommt es darauf an, nicht gleich wieder alles zu vergessen.“ (J. Ross, Die Zeit, 17.6.)

Konsequent sprechen die Autoren den Übergang, den sie von ihren Lesern fordern, als unbezweifelbare Tatsache aus, als kollektive Erfahrung, der niemand widersprechen kann: Der Krieg ist das tätige Subjekt, das „unseren“ Verstand regiert. Er öffnet „uns“ die Augen, befreit „unsere“ Gedanken, löscht „unser“ Gedächtnis. Dem Krieg sei dank – die Erinnerung an deutsche Niederlagen und deutsche Disqualifikation im Kreis der Weltmächte ist „annulliert“. Mit dem Bekenntnis zum Gefühl der Befreiung, das dieser Krieg bei ihnen auslöst, deklarieren hochanständige Publizisten den pazifistischen Konsens von eben noch zu einer schwer erträglichen „political correctness“, einer Heuchelei, zu der sie sich nur wegen der Schwäche der Nation herbeigelassen hatten. Was 40 Jahre bußfertige und selbstkritische Vergangenheitsbewältigung nicht geschafft haben, das schafft eine 10 Wochen lang mit Bomben und Raketen geführte „Kosovo-Debatte“, zu der die Deutschen ihre Argumente beisteuern durften: Das nationale Bewusstsein ist befreit, bereichert, erweitert! Es bekennt sich zu einem neuen Bild des Vaterlandes: nämlich zu einer gesunden Nation, der Krieg – nicht nur dieser und nicht nur ausnahmsweise – gut zu Gesicht steht.

„Deutschland hat den Rubikon seiner Vergangenheit hin zur westlichen Gegenwart überschritten“ und sich „dem militärischen Vorgehen seiner westlichen Verbündeten angeschlossen. Das war die eigentliche Initiation Deutschlands in das westliche Bündnis, weit über die bloße Mitgliedschaft hinaus. Mit seiner Beteiligung dokumentierte Deutschland die Teilnahme und Teilhabe an einer westlichen Kultur, die den Deutschen ursprünglich fremd gewesen war. Es hat die Ziellinie einer neuen Zeit überschritten.“ (D. Diner, Die Zeit, 10.6.) „Die rot-grüne Regierung hat einen normalen europäischen Status erreicht und an Autorität gewonnen.“ (G. Hoffmann, Die Zeit, 10.6.)

Ein Krieg, der die Nation einmal nicht zerstört, sondern voran bringt, ist offenbar das Beste, was ihr passieren kann. Der Sieg rückt die Welt zurecht: Er stellt widernatürlich suspendierte deutsche Rechte wieder her. Durch ihn kommt Deutschland in der Realität, in der Gegenwart, in der Normalität an, gewinnt den ihm zustehenden Status und die dazugehörige Autorität! Ist eine Orgie der Gewalt nicht ein würdiger Initiationsritus im Kreis der Weltmächte? Ist sie nicht eine gelungene Form, deutsche Wertschätzung für die westliche Kultur auszudrücken? Ob die Meister des Feuilletons womöglich übergeschnappt sind, sollte man besser nicht fragen. Diese Leute, die sich bis vor kurzem ebenso verständnislos wie entsetzt über die Kriegsbegeisterung äußerten, die in früheren Kriegen die Öffentlichkeit ergriffen hat, bleiben nur ihrem Gewerbe treu, wenn sie außer vom höheren Sinn der politischen Großtaten von nichts etwas wissen wollen. An nationaler Sinnhaftigkeit aber fehlt es einem gelungenen Krieg nie; seine Leichen sind „sinnvoll“. Anstrengungen, den Krieg zu rechtfertigen, werden überholt von der „Erkenntnis“, dass der Krieg selbst Status und Größe der Nation, also auch ihren Sinn stiftet. So ein Krieg braucht keine Rechtfertigung – bekommt aber eine, und zwar eine, die eben deshalb umso selbstbewusster ausfällt. Mit weniger als der direkten Umwertung der Vorbehalte, die früher gegen deutsche Auswärtsspiele in Geltung waren, gibt sich das deutsche Gewissen nicht zufrieden.

„Die fortwährende Legitimation der Intervention auf dem Balkan mit Auschwitz und Hitler zeigt bereits die Tiefe der gesellschaftlichen Zäsur, die dieser Krieg … in Deutschland hinterlassen wird. Auschwitz und alles, wofür es steht, war jahrzehntelang Begründung einer fast absoluten Friedensverpflichtung der Deutschen.“ (P. Schneider, FAZ, 23.4.) „Die geschichtspolitische Großwetterlage hat sich durch die Beteiligung am Kosovo-Krieg drastisch verändert. Die Frage nach deutscher Schuld ist endgültig in die Frage nach deutscher Verantwortung übersetzt.“ (FAZ, 20.10.)

Ja, beim Völkermord kennen „wir Deutschen“ uns aus. Haben wir selbst gemacht! Deshalb dürfen wir anderen Nationen so etwas nicht gestatten! Viel zu lange stand Auschwitz für eine deutsche Pflicht zur Zurückhaltung, jetzt steht es für die Pflicht zur Aufsicht. Dass es sich in diesem Fall um eine schöne Pflicht handelt, also schon eher um ein Recht, ist kein Geheimnis. Die Macht, die ausreicht, anderen Staaten die Maßstäbe von Zivilisation und Völkerrecht aufzuzwingen, übersetzt sich für ihre Inhaber in Verantwortung – und Verantwortung berechtigt zum Einsatz ihrer Macht. Die bemühte, geradezu kritische Prüfung der Rechtfertigungen am Maßstab universalistischer Werte, mit der Deutschland sich den Kriegseintritt genehmigte, ist selbst noch das letzte Relikt der „altbundesdeutschen“ Krankheit, die dieser Krieg endlich und gründlich heilt. Jetzt ist sich das Land der Identität seiner Machtentfaltung mit einem Menschheitsauftrag sicher und weist seinen Gegnern die Differenz zwischen Interesse und internationaler Ordnung nach. Die Nation ist wieder im Einklang mit dem Lauf der Welt und hat – nicht den nationalen Größenwahn der Faschisten, sondern den nationalen Selbstzweifel der Antifaschisten hinter sich gelassen.

III.

Der neue Status mit seinem sittlichen Auftrag zum guten Krieg tut nicht nur der deutschen Seele gut, er wird zum verbindlichen Ausgangspunkt des Politisierens. Die deutschen Kommentatoren legen allen, mit einer Kriegsnation tatsächlich unverträglichen Liberalismus ab und sehen nach, ob das Volk auch jene Reife zum Krieg zeigt, die sie an sich so beglückt entdecken. Prompt wird ihr Fahndungsstandpunkt fündig: Das Volk ist nicht begeistert, jedenfalls gewisse östliche Volksteile nicht.

„Umfragen zufolge unterstützt eine Mehrheit der Westdeutschen den Nato-Krieg gegen Jugoslawien, wogegen eine Mehrheit der Ostdeutschen diesen Krieg ablehnt. Dieser Befund verlangt nach Erklärung.“ (W. Engler, taz, 6.5.)

In Kriegsfragen darf niemand anderer Meinung sein; hier verlangt die nationale Moral totale Gefolgschaft. Wer Zweifel am Krieg und der deutschen Beteiligung hegt, liefert keinen Beitrag zur politischen Debatte ab, der argumentative Befassung verdiente; er präsentiert sich als ein Fall, dessen sachlich unbegründetes Neinsagen sich nur noch psychologisch erklären lässt.

„Im Osten noch immer der Hang zu einfachen Antworten. Friedrich Schorlemmer: ‚Die allermeisten Ostdeutschen wollen nichts als den Frieden.‘ Ganz einfach. Weil Frieden sich gut anfühlt … Die meisten Gespräche über den Krieg, in die ich verwickelt bin, sind übervoll mit Feststellungen und angestrengt von Rhetorik. Da ist kein Platz für Erklärung. … Das ostdeutsche Gegen-den-Krieg-Sein begegnet ihnen als Haltung. Als bewegungslos. Insofern, als es für Einwände, für Skepsis keinen Zentimeter zur Seite rückt. Schlimmer noch, der Krieg findet in den Gesprächen statt: dafür oder dagegen. … Viele ostdeutsche Kriegsgegner ruhen starr auf ihrem Anderssein. … Nur noch Rhetorik nach dem Ende der DDR. Um … mit den Ereignissen mitzuhalten, müssen Ostler es sich leider schwerer machen.“ (N. Klinger, taz, 26.5.)

Das Verdienst skeptischer Prüfung kann Leuten nicht zuerkannt werden, die skeptisch gegen den Krieg sind anstatt gegen den Pazifismus. Gute Rhetorik, feste Haltung, ja eine gewisse Starrköpfigkeit sind Tugenden, wenn auf deutsche Ziele verwendet; bei den Ossis nicht. Sie streiten sich über den Krieg, anstatt dass sie einig und dafür wären. Sie machen es sich leicht und sind mehrheitlich dagegen; schwer macht es sich, wer einfach dafür ist: Er bewegt sich und bleibt auf der Höhe der Zeit. Den Ossis mangelt es am gesunden Opportunismus gegenüber der „Realität“. Dieses Defizit muss auf schlimme Erfahrungen in der Vergangenheit zurückgehen; mit dem Kosovokrieg jedenfalls kann ihre Ablehnung unmöglich zu tun haben.

„Die Ostdeutschen sind anders als die Westler mehrheitlich gegen den Krieg. Ein Blick in die Mentalitätsgeschichte Ost zeigt, warum. … Tatsächlich lassen sich für die kriegerische Skepsis der Ostdeutschen drei Gründe ‚ins Feld‘ führen. Erstens: Im Osten Deutschlands lebte man bis zuletzt näher am Zweiten Weltkrieg und seinen Folgen als im Westen. Konfiskationen von Eigentum und persönlicher Habe, die Demontage ganzer Industrieanlagen samt Abkommandierung von Fachleuten und Experten in die Sowjetunion sowie die weitgehende Entmachtung der alten Macht- und Funktionseliten schärften den Ostdeutschen das Bewusstsein von Kriegsschuld und Kriegsverbrechen nachhaltig ein. Sodann rechtfertigte sich jeder Eingriff in das gesellschaftliche Leben politisch durch den Verweis auf die verhängnisvolle Nazi-Zeit … Der Wiederaufbau der Wirtschaft, von Städten und Infrastrukturen vollzog sich schleppend … Auf Schritt und Tritt, beredt oder schweigend, begegneten die Ostdeutschen dem Krieg und zogen daraus die einzig mögliche Schlussfolgerung: Nie wieder! Diese Lektion wirkt bis heute nach. Zweitens: Die Ostdeutschen haben einige Erfahrungen mit der militärischen ‚Lösung‘ politischer Konflikte, im eigenen Land und in den Nachbarländern. … Die russischen Panzer … Das Ergebnis all dieser gewaltsamen Eingriffe waren immer nur offene Rechnungen. Gegen diese Langzeiterfahrung vermag das naheliegende Argument, Panzer könnten doch auch einmal für die Menschenrechte rollen, Bomben für die Freiheit fallen, nur wenig auszurichten. … Erst in dritter Hinsicht kommt das prekäre Verhältnis der Ostdeutschen zum deutschen Einheitsstaat ins Spiel. … Erfahrungen von Degradierung und Ausschluss, von praktischer und geistiger Missachtung.“ (W. Engler, taz, 6.5.)

Kann man Leuten, die immer nur schlechte Erfahrungen mit Krieg gemacht haben, verdenken, dass sie falsche Verallgemeinerungen vornehmen? Sie haben die nationalen Glücksgefühle eben nie erlebt, die sich bei der erfolgreichen militärischen Lösungen politischer Konflikte einstellen und die die Toten und Verwundeten, deren Erfahrungen natürlich nicht die besten sind, voll aufwiegen. Vielleicht aber haben „wir“ die Ossis auch zu sehr als Deutsche zweiter Klasse behandelt, als dass „wir“ jetzt ein erstklassiges Behagen am deutschen Krieg erwarten können? Dass sich dieser gebrochene Menschenschlag nicht darüber freuen kann, auf der richtigen Seite dabei zu sein, wäre freilich noch die geringste seiner Deformationen.

„Ist das auffallende ostdeutsche Unbehagen am Krieg wirklich nur dumpfes Antiwestlertum oder die Folge jahrzehntelanger Indoktrination mit dem Feindbild Nato gewesen? … Verstörend bleibt, wie wenig das humanitäre Motiv des Westens im Osten offenbar auch nur begriffen wird, was ja noch keine kritiklose Zustimmung bedeuten müsste. Die Unfähigkeit, in der Rede von Freiheit und Menschenrechten etwas anderes zu sehen als Heuchelei, ist wahrscheinlich das schlimmste Erbe einer materialistischen Ideologie, die überall nur Interessen zu entlarven lehrt.“ (J.Ross, Die Zeit, 17.6.)

Diese unsympathischen Antiwestler sind Opfer einer menschenverachtenden Ideologie, die ihr Denken zerstört hat: Sie vermuten imperialistische Interessen, sobald „wir“ uns um eine altruistische Rechtfertigung des Luftkriegs bemühen; und wenn wir uns ehrlich über die dadurch erzielten Fortschritte der deutschen Sache freuen, fehlt ihnen die Rechtfertigung. Wer so verkehrt gepolt ist und gar nicht weiß, wie Interesse und Moral zusammengehören, ist gefährlich orientierungslos, ein leichtes Opfer der Rattenfänger.

„Die Partei hat immer recht – auch im Krieg. Nur die PDS demonstriert geschlossen gegen Bomben auf Belgrad. Ist das nun Pazifismus oder die Pflege alter Feindbilder? … Das arge Bemühen, sich pazifistisch zu geben, kommt bei der PDS daher wie das Einsammeln von Sekundärrohstoffen. Das Altgut: Friedensbewegte, die orientierungslos in Deutschland herumirren. … Resultiert bei vielen PDSlern das Nein zum Krieg aus dem Feindbild Nato, das immer noch tief sitzt? Ist die PDS der Kriegsgewinnler?“ (taz, 14.4.)

Wer gegen Bomben auf Belgrad ist, kann nicht aus moralischer Überzeugung handeln! Die PDS mobilisiert gegen diesen Krieg, weil ihr die Vorherrschaft von Nato und USA nicht schmeckt wie ihrer kommunistischen Vorgängerpartei auch schon. Wäre ihr Pazifismus echt, würde sie gegen die Serben hetzen. Stattdessen kocht sie ihr Süppchen auf dem Unbehagen, das Menschen, die sich nicht mehr umstellen können, angesichts des humanitären Bombardements empfinden. Sie sammelt den für die Nation unbrauchbaren menschlichen Ausschuss einer ungültig gewordenen deutschen Epoche und führt ihn einer Wiederverwendung als sozialistisches Stimmvieh zu. Schäbige Kriegsgewinnler!

Das „Wörterbuch des Unmenschen“, das TAZ-Autoren aus alten Zeiten noch im Bücherschrank haben, scheint hier als Nachschlagwerk gedient zu haben.Warum auch nicht? Die Methoden, Leuten, die beim guten Krieg nicht mitziehen, das Maul zu stopfen, sind halt nicht zufällig schon seit längerem die Gleichen geblieben: Gegner der großen nationalen Sache sind Geschmeiß, Abschaum, Abfall – jedenfalls kein Teil des Kollektivs der Gutwilligen. Derart unwürdige, außerhalb des Gemeinwohls stehende Subjekte verdienen für alles, was immer sie vorbringen mögen, kein Gehör. Denunziation und Ausgrenzung derer, die dagegen sind – bessere Argumente für Krieg gibt es eben nicht. Zweifler an ihm überzeugt man nicht, schon gleich nicht mit der Prätention von Vorteilen, die sie von ihm zu erwarten hätten. Man stellt sie bloß – als Verräter der nationalen Sache, für die man selbst parteilich ist.