Deutsche Kriegsmoral: Einschwörung des Volks auf den Kurs seiner Führung
Der Krieg und Du

Über die falschen Gleichungen der Kriegsmoral und ihre Leistungen.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Deutsche Kriegsmoral: Einschwörung des Volks auf den Kurs seiner Führung
Der Krieg und Du

Am 24. Februar, dem Morgen nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine, tritt die deutsche Außenministerin mit folgenden Worten vor die Kameras:

„Liebe Mitbürgerinnen und liebe Mitbürger, wir sind heute in einer anderen Welt aufgewacht... Wir haben uns diese Situation nicht ausgesucht. Wir können und wir wollen ihr nicht aus dem Weg gehen. Die Europäische Friedensordnung der letzten Jahrzehnte ist die Grundlage für das Leben in Wohlstand und Frieden. Wenn wir jetzt nicht entschlossen dafür eintreten, werden wir einen noch höheren Preis zahlen.“

Frau Baerbock berichtet vom Beschluss des Kabinetts, sich in diesem Krieg zu engagieren und dem russischen Machtanspruch in Osteuropa entgegenzutreten. Das kollektive „Wir“, in dessen Namen sie spricht, ist zunächst das der Regierung. Für die souveräne Instanz, die die für alle verbindlichen Entscheidungen im Land trifft, nimmt sie in Anspruch, dass sie eine Freiheit der Entscheidung gar nicht gehabt habe. Sie fingiert staatliche Ohnmacht, um die Macht unwidersprechlich zu machen, mit der sie handelt: Die Welt, die Lage, die Russland hergestellt hat, lässt ihr keine Wahl; alles, was das heutige Deutschland ausmacht – Europa, Wohlstand, Frieden – steht auf dem Spiel; „Wir“ sind angegriffen, „wir“ müssen dagegenhalten. Die Herausforderung anzunehmen und mit der Förderung der ukrainischen Kriegsfähigkeit zu beantworten, ist eine Notwendigkeit: Dieser Krieg ist unser Krieg. Mit dieser Botschaft wendet sich die Ministerin an das weitere „Wir“, die „lieben Mitbürger“, die vom osteuropäischen Krieg selbst nicht, dafür aber vom Beschluss ihrer Regierung, sich einzumischen, betroffen sind. Für sie gibt es tatsächlich keine Freiheit der Entscheidung, denn über sie ist entschieden worden. An sie ergeht die Aufforderung, genau dieses Verhältnis zu dementieren: Sie sollen so tun, als hätten sie etwas zu entscheiden und als hätten sie sich entschieden. Jeder Einzelne soll „unseren Krieg“ als seine Sache begreifen und Stellung beziehen; soll sich von der „militärischen Sonderoperation“ Russlands herausgefordert fühlen, Putin für seinen Feind halten und sich überlegen, wie er handeln würde, wenn er Kanzler oder eben Außenministerin wäre. Natürlich fällt alles Praktische und Wirkliche, was „die Deutschen“ aus dem Krieg in der Ukraine folgen lassen, in die Kompetenz, die Zwecke und Zweckmäßigkeitserwägungen der Regierung. Aber das darf die Bürger nicht hindern, sich als Mitbetroffene von dem Krieg und Mit-Subjekte der deutschen Antwort auf ihn zu imaginieren; auch wenn die Stellung, die sie dann beziehen, völlig belanglos ist und – sieht man einmal von den Verrückten ab, die selbst zum Mitkämpfen nach Kiew reisen – praktisch in gar nichts anderem bestehen kann als in der mehr oder weniger entschiedenen Billigung der Einmischung des deutschen Staates ins blutige Geschehen und im Aushalten ihrer Konsequenzen. Dazu müssen die vielen fiktiven Mit-Subjekte einer deutschen Stellung die Kriegskalkulationen der Bundesregierung überhaupt nicht kennen. Es reicht, dass sie sich als das große, vom Krieg betroffene „Wir“ ansprechen und die längst entschiedene Frage nach „unserer“ korrekten Stellung dazu vorlegen lassen. So werden die von ihrem Staat in eine Kriegslage hineingezogenen Bürger mit ihrem Staat identifiziert und identifizieren sich mit ihm, wenn der „zwei Flugstunden von Berlin entfernt“ die eine Kriegspartei aufrüstet, um der anderen ihren Krieg kaputtzumachen. Das ist die erste unwahre Gleichsetzung, auf der der öffentliche Kriegsdiskurs beruht.

Kanzler Scholz fügt dem einen leitenden Gesichtspunkt hinzu:

„Für all das gibt es keine Rechtfertigung. Das ist Putins Krieg. Putin bringt damit Leid und Zerstörung über seine direkten Nachbarn. Wir stehen an der Seite der angegriffenen Ukraine. Ihr mit Waffenlieferungen zu ihrer legitimen Selbstverteidigung zu verhelfen, ist keine Kriegsbeteiligung und keine Eskalation.“ (Kanzler Scholz bei verschiedenen Gelegenheiten)

Für den russischen Angriff wie für die ukrainische Gegenwehr kennt Scholz keine Gründe und Zwecke der involvierten Staaten, sondern nur Rechtfertigungen bzw. deren Fehlen, die Übereinstimmung oder die Verletzung von Normen, als deren Hüter er sich präsentiert. So konsequent ersetzt er – und wird in der deutschen Debatte die Frage nach Gründen durch die nach Schuld und Unschuld ersetzt, dass allein die Erwähnung, dass auch die russische Seite mit ihrem Krieg einer staatlichen Logik folgt, als Entschuldigung und Relativierung ihrer Verbrechen verstanden und verworfen wird. Ebenso konsequent vermeidet man es, die ukrainischen nationalen Ambitionen, geschweige denn die eigenen oder die strategischen Interessen der westlichen Wertegemeinschaft anzusprechen; die würden die saubere Scheidung von Gut und Böse in diesem Kampf nur verwässern. Wenn Scholz in einem ersten Schritt die Frage nach den Kriegsgründen durch die der Kriegsschuld ersetzt, dann stellt er in einem zweiten die Untat bzw. den Willen zu ihr als Grund des verurteilten Handelns hin. So wird aus dem russischen Feldzug Putins Krieg der Wahl, ein grundloser Überfall auf einen friedlichen Nachbarn. Die Identifikation von Schuld und Grund ist die zweite für die nationale Meinungsbildung konstitutive falsche Gleichung.

Aus der folgt der kategorische Imperativ, die Ukraine mit Waffen auszurüsten. Diese Selbstverpflichtung geht freilich einher mit einer Distanzierung: Kriegspartei wird Deutschland damit nicht. Die Regierung hilft dem Angegriffenen. Aber dass kein Staat ganz ohne eigenen Zweck und eigene Berechnung einem andern kriegerisch gegen einen dritten hilft, nur weil der sich retten will, das geht in alle Hilfszusagen schon mit ein: Der Kanzler behält sich vor, wie weit sein Land sich engagiert; Eskalation soll nicht sein. Er verbürgt sich dafür, dass Putin den Krieg nicht gewinnen und der Ukraine nicht seinen Frieden diktieren darf; doch ohne den Sieg über die russische Großmacht zum deutschen Kriegsziel auszurufen; aber auch ohne einen Zweifel an dem unbedingten Schulterschluss mit Putins Opfer zuzulassen. Das ist die dritte Gleichung, nach der die Regierung zu handeln verspricht.

Zu der passt die Botschaft, die die Regierung in Sachen Parteilichkeit ans große nationale „Wir“ richtet; mit der Betonung: Betroffene Partei sind wir zwar nicht, umso mehr aber zu unbedingter Parteinahme bereit, ja verpflichtet. Der anständige Deutsche identifiziert sich, seine politisch aufgeweckte Privatpersönlichkeit, mit dem Selbstverteidigungsrecht des ukrainischen Staats, das seine Regierung durchzusetzen hilft. Weil es nämlich – sagt die Außenministerin, die es qua Amt ja wissen muss – gar nicht um etwas Politisches geht, sondern um die reine Menschlichkeit:

„Putin mordet Kinder und unschuldige Zivilisten. Das darf niemanden ungerührt lassen. Wer da neutral bleibt, steht auf der Seite des Unterdrückers!“ (Baerbock bei verschiedenen Gelegenheiten)

Die Fiktion, der regierte Bürger in seiner Machtlosigkeit hätte in Sachen Krieg und machtvolle Einflussnahme darauf irgendetwas zu entscheiden, bekommt den passenden Inhalt: Zu entscheiden hat ein jeder – sonst nichts, aber umso mehr – sich. Und zwar in einer Frage, in der es eine zulässige Alternative schlechterdings nicht gibt: Wie stehst du dazu, dass Putin Kinder umbringt? Wer da Bedenkzeit braucht – womöglich für eine Überlegung der Art, dass im Krieg Staaten nach eigens geschaffenem Recht und Gesetz für sich und ihre Zwecke eigene und fremde Untertanen verheizen –, outet sich als Helfershelfer, mindestens als ideeller, eines Massenmörders; wer Kinder mag, muss dafür sein, dass der Krieg für Russland verloren geht. Der Krieg ist damit perfekt in ein Moraltheater verwandelt, nämlich an beiden Enden vermenschlicht: Hie der böse Mensch Putin, dort die guten Kinder von Butscha und anderswo. Der ukrainische Staat, dessen Ambitionen Russland nicht duldet und dessen Kriegserfolg Deutschland aus seinen Gründen will, ist – die unwahre vierte Gleichung – identifiziert mit unschuldigen ukrainischen Menschen, die in der Realität russischen Waffen ebenso zum Opfer fallen wie der kämpferischen Selbstbehauptung ihrer Obrigkeit. Und das ausländische Interesse an der Ukraine ist identifiziert mit der menschlichen Empathie von Privatpersonen, denen das Leiden und Sterben so sehr ans Herz geht, dass daraus unmittelbar der Ruf nach mehr Waffen und mehr Gewalt auf der richtigen Seite und mehr Opfern auf der falschen folgt. Wer da womöglich schon wieder zögert – solche Zauderer gibt es ja sogar in höheren Positionen –, wird vor die inquisitorische Frage gestellt: Willst du der Ukraine das Existenzrecht absprechen? Der Umweg über die unschuldigen Kinder darf da auch mal entfallen. Aber wenn die gelieferten Waffen für den nationalen Gesinnungs-Militarismus zu klein sind, dann geht im öffentlichen Kriegsdiskurs jeder tote Ukrainer gleich wieder aufs Konto noch nicht gelieferter Haubitzen aus deutschen Beständen, ohne die sich der Russe nicht am Vergewaltigen hindern lässt.

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Es ist offenbar unbeachtlich, dass in der Wirklichkeit überhaupt nichts davon abhängt und nichts daraus folgt, dass Herr und Frau Niemand einem fremden Staat irgendein Recht zu- oder absprechen. Es gehört sich in der Meinungsbildung zum Krieg einfach, dass jedes Individuum ganz persönlich für den Krieg eine fiktive Verantwortung übernimmt und so tut, als hinge sein Verlauf und Ergebnis von seiner Stellungnahme ab: Der Krieg ist meine Sache, eine Herausforderung an mich als Mensch, an meinen Gerechtigkeitssinn, meine Gefühle, meine Sympathien. Niemand bringt die verlogene Identifikation mit dem ukrainischen Staat und die daraus folgende Gleichung von Leiden und Kriegstreiberei so glaubwürdig und betroffen rüber wie ein Journalist der Bildzeitung:

„Was soll man als Vater, als Mutter, als Mensch, dazu noch sagen?! Niemand ist mehr sicher vor diesem Terrorherrscher. Wir müssen Putins Regime vernichten. Bevor es uns vernichtet. Ich geh jetzt mal kurz heulen.“ (Tweet von Bild-Reporter Julian Roepcke, 24.2.22)

Dieses fiktive Subjekt-Sein in einem Gewaltgeschehen, von dem der Normalmensch nur passiv und hilflos betroffen ist – in der Ukraine praktisch, hier im Wesentlichen nur ideell –, ist die Prämisse der öffentlichen Debatte über den Krieg und die deutsche Beteiligung an ihm. Diese Prämisse stellt sicher, dass kein wahres Wort über Grund und Zweck des Zusammenpralls von Weltmächten auf dem osteuropäischen Schauplatz mehr fällt. Darüber fällt nämlich gar kein Wort. Die Staaten und ihre Machtansprüche sind durch die komplette Vermenschlichung ihrer Konfrontation aus dem Spiel: Russland kommt als strategisch kalkulierende Staatsmacht nicht vor, die antirussische Allianz als Subjekt strategischer Kalkulationen genauso wenig. Mit der totalen Entpolitisierung des Kriegsgeschehens ist dessen wirklicher Urheber, das auf allen Seiten tätige Subjekt, das als einziges zu Krieg überhaupt fähig ist: die Staatsmacht mit ihrem Gewaltmonopol und ihrem jeweiligen Ehrgeiz – freigesprochen.