Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Schon wieder Probleme mit einer „zentralen Gedenkstätte“
Diesmal: Kreuze in Auschwitz
Gedenkstätten sind Ausweis der Ehre einer Nation. Daher kommt es zum völkischen Streit zwischen polnischen und jüdischen Nationalisten über das Recht, in Auschwitz je eigene „Mahnmale“ hinzustellen. Die deutsche Öffentlichkeit sieht darin versäumte Vergangenheitsbewältigung.
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Schon wieder Probleme mit einer „zentralen Gedenkstätte“ Diesmal: Kreuze in Auschwitz
Im September stehen auf dem „Kiesplatz“, einer ehemaligen
Hinrichtungsstätte am Rande des Konzentrationslagers
Auschwitz I, über 300 Kreuze. Vor knapp zehn Jahren war
es noch ein einziges – ein acht Meter hohes Holzkreuz,
das von einer Papstmesse aus dem Jahr 79 im Lager
Birkenau (Auschwitz II) stammt, später ohne
Erlaubnis
der Kirchenleitung auf dem Kiesplatz
aufgestellt wurde und an die 152 Polen erinnern soll, die
dort 1941 von den deutschen Besatzern erschossen wurden.
Auf Proteste jüdischer Organisationen gegen die
Entweihung des größten jüdischen Friedhofs
durch
das Christensymbol sowie auf Gerüchte um die anstehende
Entfernung des „Papstkreuzes“ reagieren polnische
„Nationalkatholiken“ mit der Aufstellung neuer Kreuze.
Ursprünglich sollten es 152 werden – für jeden der
ermordeten Polen eines –; inzwischen lautet das
ehrgeizige Ziel auf über 1000 bis zum Mai 99; und mit
jedem Sonntag, der ins Land geht, werden es mehr.
Diese wundersame Vermehrung eines Artikels, der ansonsten
in der westlichen Welt allerhöchsten Respekt genießt und
beispielsweise aus bayrischen Klassenzimmern keinesfalls
entfernt werden darf, gerät in Polen zum Problem.
Gegenwärtig steht auf dem Programm offenbar, das
Gedenken an die Shoa mit Kreuzen zu erdrücken.
(FAZ, 4.8.98) Bei allem
Verständnis, dessen sich die patriotische Begeisterung
fürs Kreuz als nationales Symbol Polens
erfreuen
durfte, solange deren eindeutig antikommunistische
Stoßrichtung hochwillkommen, weil politisch extrem
nützlich war – mittlerweile tun sich hier Abgründe der
polnischen Volksreligiösität
(FAZ, 21.9.98) auf.
Auschwitz den Polen
Das kommunistische Joch
haben die Polen ja nun
glücklich abgeschüttelt. Endlich befreit von
internationalistischen wie antifaschistischen
Vorschriften, endlich nicht mehr behindert in ihrer
traditionsreichen Gepflogenheit, sich das polnische „Wir“
als Freiheit des Christenmenschen und vice versa zu
Gemüte zu führen, blüht der polnische Nationalismus auf.
Und entsprechend betätigt er sich: Polnische
Nationalkatholiken fühlen sich im eigenen Land
entrechtet
, weil Juden aus aller Welt gegen die
massive Präsenz christlicher Symbolik am symbolträchtigen
Ort der Massenvernichtung ihres Volkes protestieren. Ein
„Komitee zur Verteidigung des Kreuzes“ formiert sich, das
im Namen unabdingbarer Rechte der polnischen Nation –
insbesondere und zuoberst des Rechts auf den richtigen
Gott – Auschwitz den Juden als nationale Gedenkstätte zu
entwinden trachtet. Verständnisvoll berichtet die
Süddeutsche Zeitung:
„Für die meisten Polen ist Auschwitz nicht nur eine Metapher für den Holocaust: Auschwitz ist neben Warschau die größte nationale Opferstätte. Schätzungsweise 100000 Polen, die nicht Juden waren, sind in Auschwitz zu Tode gekommen. Die Frage lautet daher aus polnischer Sicht: Kann eine Opfergruppe eine Gedenkstätte monopolisieren?“ (SZ, 24.8.98)
„Opfergruppe“ ist gut: Die Opfer sind tot und können überhaupt nichts mehr, schon gar nicht miteinander um das Recht auf ein ehrendes Andenken streiten. Mit „nationalen Opferstätten“ ist das allerdings ganz was anderes: In solche Dinger legen höchst lebendige Nationen ihre Ehre. Im historischen Rückblick von Nationen auf ihr Schicksal sind „Opfer“ nämlich weit mehr als bloß ein beklagenswerter Tatbestand, der auf seine Ursache ein schlechtes Licht wirft: Sie ehren die nationale Sache, der sie geopfert wurden. Mit der rechten Parteilichkeit betrachtet, sind sie der denkbar nachdrücklichste Beleg für jene waldursprüngliche und eben bis zum Letzten verpflichtende „Solidargemeinschaft“, die „das Schicksal“ zwischen Volksgenossen wie sonst zwischen niemandem stiftet, und zeugen von der unwidersprechlichen Güte, der über jede menschliche Berechnung erhabenen Größe einer Sache, die dermaßen viele Menschenopfer wert ist – denn daß sie sie wert war, das anzuerkennen gebietet schon der Anstand gegenüber den Toten, die ja andernfalls ohne tieferen Sinn und höheren Zweck umgekommen wären. Und damit leisten die Leichen von einst einen immer aktuellen Beitrag zur bedingungslosen Wertschätzung der Sache, die alle Opfer überdauert hat: Ganz grundsätzlich setzen sie die Nation mit ihren sämtlichen gegenwärtigen Ansprüchen ins Recht, beglücken deren Anhänger mit dem unwiderleglichen Gefühl, gegen alle denkbaren Anfeindungen im Recht zu sein. Und verdienen deshalb eine Gedenkstätte, an der dieses nur den jeweiligen Stammesgenossen zustehende und verfügbare Rechtsbewußtsein zu Hause ist.
Mit diesem tiefen Sinn einer „nationalen Opferstätte“ ist es daher nun freilich unverträglich, daß Volksfremde daherkommen und an gleicher Stelle nicht bloß traurig sind, sondern ihrerseits demonstrieren möchten, daß in Wahrheit ihre nationale Sache mit den in Erinnerung gerufenen Greueln jede moralische Anfechtbarkeit hinter sich gelassen hat. Das patriotische Rechtsbewußtsein ist eine sehr exklusive Sache; zudem um so militanter, je drastischer es sich auf seine nationale Leidensgeschichte beruft. Ein bescheidener Hinweis darauf, daß andere auch Opfer zu beklagen hätten, muß da nicht bloß als unzulässige Relativierung, sondern als glatte Bestreitung der ins Recht gesetzten nationalen Rechtstitel gelten – und ist in der Tat ja auch nie bescheiden, sondern genau so gemeint. Deswegen kann es gar nicht ausbleiben, daß die Veranstalter eines ehrenden Angedenkens in Auschwitz mit ihren speziellen „Opfergruppen“ allen Ernstes in einen gehässigen Streit darüber geraten, wem die unauslöschliche Ehre der Opfer gebührt und folglich das Monopol aufs Mahnen und Erinnern zusteht.
Den polnischen Nationalisten von heute jedenfalls ist es
selbstverständlich, daß der gottgefällige
„polnische Leidensweg“ – immer eins aufs Haupt bekommen
und dennoch wackere Polen geblieben – zu nichts
geringerem als zu einem Nationalstolz berechtigt, der in
Gestalt seiner Opfer mit schöner Ausschließlichkeit sich
und eben nur sich feiert, so daß folglich das
Gedenken an Millionen in Auschwitz ermordeter Juden
in Polen nichts verloren haben kann. Wenn dort
etwas zu feiern ansteht, dann das original polnische
Märtyrertum im Zweiten Weltkrieg
; wenn sich aus dem
Mahnmal Auschwitz
nationale Rechtstitel ableiten
lassen, dann die „geschichtlich beglaubigten“ des
polnischen Volkes. Ergo lautet der nationale Kampfauftrag
auf Rückeroberung eines beschlagnahmten Anspruchstitels:
Jedes Kreuz ein Akt der nationalen
Selbstbehauptung
; jeder Protest von jüdischer
Seite ein Beweis mehr für die Notwendigkeit, den Juden
zu zeigen, wer Herr im eigenen Hause ist
. Wenn die
sich durch die Kreuze gestört fühlen
, so ein
jüngst in „Radio Maryja“ unterbreiteter Vorschlag, wäre
es doch wohl am Besten, die Asche der getöteten Juden
aus Auschwitz nach Israel fortzuschaffen
, wo ihrem
Gedenken fraglos nichts mehr im Wege stünde – und die
noch lebenden Nachfahren am besten gleich mit. Längst
stellt sich den Kreuzesverteidigern nämlich die
prinzipielle Frage, ob sich in Polen überhaupt Leute
herumtreiben dürfen, die, selbst wenn sie sich taufen
ließen, niemals richtige Polen werden könnten
; ja ob
das Land nicht schon längst solch unpolnischen Figuren in
die Hände gefallen ist, die Polen regieren, um es zu
ruinieren
. Der freigesetzte polnische Nationalismus
beflügelt seine Anhänger zu dem auch andernorts nicht
unbekannten Standpunkt, alles, was ihnen an ihrer Nation
mißfällt, sei volksfremden Einflüssen zuzuschreiben, die
sich zu Unrecht und zum Schaden der eigentlich
Dazugehörigen breitgemacht hätten. Mit dieser
Fremdherrschaft von Leuten, die schließlich nur geduldete
Gäste im Land seien, müsse Schluß gemacht werden,
meint jedenfalls der ehemalige Solidarnosc-Abgeordnete
und Vorsitzende des „Komitees zur Verteidigung des
Kreuzes“ Switon (FAZ, 21.9.98);
kompromißloser Kampf gegen
Juden-Kommunisten-Freimaurer
ist jedes guten Polen
nationale Pflicht.
So etwas läßt natürlich der freien Weltpresse die
Haare zu Berge stehen
und kostet diesen ebenso
freiheitsliebenden wie gottesfürchtigen Menschenschlag
jede Menge internationale Sympathie. Das schafft
Probleme.
Das Kreuz mit den Kreuzen
Der polnische Staatspräsident Alexander Kwasniewski
warnt, daß der Streit um die Auschwitz-Kreuze das
internationale Image Polens schwer schädigen
kann.
Die polnische Regierung bekundet allerdings auch ihre
Ohnmacht in dieser Angelegenheit, weil der Kiesplatz sich
in Privatbesitz befindet
und in Polen niemand
verboten werden kann, Kreuze aufzustellen.
Darüber
hinaus könne nicht von den Polen verlangt werden, daß
sie auf die Symbole ihres Märtyrertums im Zweiten
Weltkrieg verzichten.
(SZ, 27.8.98) Andererseits
müsse jetzt schnell dafür gesorgt werden, daß das
Ansehen Polens im Ausland nicht noch größeren Schaden
nehme
(Handelsblatt, 26.8.98) – Antisemitismus kommt
heutzutage nicht so gut an in der weiten Welt,
schadet also nur dem eigentlichen Anliegen,
sprich der polnischen Nation.
Mulmig wird es inzwischen auch der katholischen Kirche.
Hat ihr Oberhaupt Kardinal Glemp noch im Juli tiefstes
Verständnis für die Kreuze als Reaktion auf die
ständige und wachsende Belästigung von jüdischer
Seite
geäußert, muß er sich im August von seinem
päpstlichen Vorgesetzten zurückpfeifen lassen. Der mag
zwar gut und gerne Edith Stein mit ihrer Heiligsprechung
dem Judentum entreißen und der Ehre des Katholizismus als
Blutzeugin einverleiben; am polnischen Antisemitismus von
unten jedoch hat er – vor allem nach weltweiten
Protesten, sogar von leibhaftigen US-Senatoren – kein
Wohlgefallen mehr. Seine ehedem dringlich an sein Volk
gerichtete Bitte, das Kreuz zu verteidigen
, auf
die sich die heutigen Kreuz-Fetischisten nur zu gern
berufen, war ja auch tatsächlich nicht gegen jüdische
Opferkonkurrenz gerichtet, sondern bloß gegen die
realsozialistischen Gottesfeinde – Kommunismus,
so wußte dieser Heilige Vater, paßt nicht zum Polen, weil
dessen Menschennatur eben polnisch und
katholisch ist. Doch wenn diese polnische
Christenpflicht einmal anerkannt ist, dann gilt sie eben
auch mitsamt ihren ursprünglich nicht gemeinten
Konsequenzen und Fortsetzungen und findet
notwendigerweise Anhänger, die die Meßlatte ihres frommen
Polentums nicht mehr bloß an „moskauhörige Kommunisten“
anlegen, die es sowieso nicht mehr gibt, sondern auch an
andere nicht ganz hergehörige Elemente. Aus der
Ausschließlichkeit dieser Symbiose von Nation und Kirche
erwächst zielsicher ein Haß gegen alles
Nichtpolnische und Nichtkatholische –
das Jüdische
logischerweise eingeschlossen. Und
das wird dann irgendwann peinlich: Am Ende gerät – Gott
bewahre – die katholische Kirche in ein schlechtes Licht!
Also erhält der Primas der katholischen Kirche Polens den
Auftrag, mäßigend
auf seine aufgehetzten
Klerikalfaschisten einzuwirken, wobei natürlich zu
berücksichtigen ist, daß Nationalismus und Katholentum in
Polen nach wie vor ihr unbestreitbar gutes Recht haben
müssen und von der Kirche, ihrem traditionellen
Repräsentanten, keinesfalls kritisiert werden. Die
antisemitischen Konsequenzen dieses Rechts sind aber
empfehlenswerterweise zu unterlassen:
„Der Kardinal erinnerte daran, daß die Greueltaten der Nationalsozialisten im besetzten Polen geschehen sind. Man dürfe deshalb nie vergessen, daß in dieser Zeit auch nichtjüdischen Polen großes Leid zugefügt wurde, so Glemp. Um so bedauerlicher sei es, daß ein Volk, dem in der Vergangenheit soviel Ungerechtigkeit zugefügt wurde, heute nicht genügend Verständnis aufbringe und nicht zu Kompromissen bereit sei.“ (Radio Vatikan, 28.8.98)
Etwas schwierig ist es schon, was der katholische
Oberhirte da von seinen Schäfchen verlangt: Erst sollen
sie ihrer nationalen Geschichte unbedingt die Lehre
entnehmen dürfen, wegen des vielen Erlittenen auch zu
Vielem berechtigt zu sein, um anschließend derselben
Geschichte ausgerechnet das Gebot zur
Kompromißbereitschaft abzulauschen – als wäre die
Erinnerung eines Volkes an erduldete
Ungerechtigkeiten etwas anderes als ein Aufruf zu
Kompromißlosigkeit beim Eintreten fürs eigene
nationale Recht. Kein Wunder, daß die bemühten
kirchlichen Vermittlungsversuche im leidigen
„Auschwitz-Streit“ – die Kreuze einfach anderswo
aufstellen; oder nur ein Kreuz vor Ort belassen;
oder gleich gar keine religiösen Symbole mehr, weder
Kreuz noch Davidstern, in Auschwitz zeigen – nicht auf
offene Ohren treffen. Oder vielmehr nur in einem Sinn:
Die Anhänger von „Radio Maryja“ entnehmen den Windungen
ihrer Seelsorger die bittere Erkenntnis, daß mittlerweile
sogar ihre über alles geliebte katholische Kirche vor
den Juden kapituliert
hat. Um so pflichtbewußter
versammelt sich das wahre Polentum auf dem Kiesplatz,
um den Juden zu trotzen
(Switon), polnische Skinheads
sorgen fast täglich für einen Zuwachs an christlicher
Symbolik – und Polens Episkopat und Regierung suchen
händeringend
nach einer Lösung
…
Die Gnade der deutschen Spätgeburt
Derweil betrachtet die deutsche Presse mit genußvollem
Abscheu, wie sehr sich die mangelnde Verarbeitung
ihrer Vergangenheit
jetzt bei den Polen rächt. Viel
Dumpfes
, wenn nicht gar Düsteres
enthüllt
sich dort dem Betrachter: Unter den
Kreuzaktivisten
finden sich zahlreiche
Skinheads – es sind also keine echten
Katholiken, die sich auf dem Kiesplatz zu schaffen
machen. Hinter einem Verband der Kriegsopfer
läßt
sich unschwer ein ehemaliger Mitarbeiter des polnischen
Geheimdienstes SB ausmachen, der in den sechziger Jahren
deutsche Banken und Juwelierläden überfallen haben soll –
woran man sieht, daß keine Lehren
gezogen wurden,
weder aus dem Faschismus noch aus der kommunistischen
Vergangenheit. Jetzt rächt
sich andererseits aber
auch, daß von der polnischen Kirche allzu lange
verabsäumt wurde, den Gläubigen
, also doch den
echten Katholiken eine vertiefte,
theologische Sicht des Kreuzes
(FAZ) nahezubringen –
die des Bayrischen Freistaats zum Beispiel, der sich
neulich fast zu einem Aufstand gegen das
Bundesverfassungsgericht genötigt sah…
Vor allem aber haben es die intellektuellen
Wortführer
Polens versäumt, sich ein Beispiel an der
bundesdeutschen Vergangenheitsbewältigung zu nehmen:
„Allzu lange haben sie dazu geschwiegen, weshalb sie auch Verantwortung dafür tragen, daß die Anhänger eines dumpfen, düsteren Katholizismus von der Schoah kaum etwas wissen.“ (SZ, 24.8.98)
Wir Deutsche schaffen es hingegen, den Völkermord der deutschen Nation, zu der wir uns als unserer angestammten Heimat bekennen, ganz aufgeklärt als „unfaßbaren“ Opfergang des jüdischen Volkes zu bestaunen und der unendlichen moralischen Besserung, die seither mit uns passiert ist, in Form einer tiefsinnigen Debatte über die Machbarkeit eines „Holocaust-Denkmals“ ein ehrendes Mahnmal zu setzen. Das sollen die Polen uns erst einmal nachmachen!