Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Kampf gegen „Lohndumping“:
Einen Mindestlohn darf es nicht geben, aber: Hungerlöhne für Ausländer sind unfair!

Hungerlöhne, mit denen ausländische Lohnsklaven abgefunden werden, kann der Kanzler nicht zulassen, selbstverständlich nicht wegen des Elends dieser übel ausgebeuteten Figuren und noch nicht einmal hauptsächlich deswegen, weil dadurch deutschen Arbeitslosen die wunderbare Chance vorenthalten wird, selbst solche Löhne zu verdienen; „illegale Praktiken und bestimmte Schlupflöcher“ will Schröder illegalisieren, weil solche Praktiken Abteilungen deutscher Klein- und Handwerksunternehmer zu ruinieren, also deutsche Wirtschaftskraft zu schädigen drohen.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Der Kampf gegen „Lohndumping“:
Einen Mindestlohn darf es nicht geben, aber: Hungerlöhne für Ausländer sind unfair!

1.

Vor einem halben Jahr hat die Berliner Politszene über einen staatlich verordneten Mindestlohn für Deutschland diskutiert. Der Bedarf danach stand eigentlich ebenso außer Frage wie die Überzeugung, dass er nicht befriedigt werden kann. Im Bedarf bilanzieren die Sozialpolitiker von Regierung und Opposition den Erfolg ihrer jahrelangen Arbeitsmarktreformen: Die angestrebte Verbilligung der Arbeit gelingt, der Niedriglohnsektor wächst auf Kosten des tariflich geregelten Bereichs, auch dort aber werden Tarifverträge offen missachtet oder im Einverständnis mit den Gewerkschaften durchlöchert, so dass auf allen Ebenen das Einkommen der Lohnabhängigen im freien Fall begriffen ist. Immer mehr Leute können von Arbeit, auch wenn sie 40 Stunden in der Woche dauert, ihren Lebensunterhalt nicht mehr bestreiten. Das aber, so die großzügige Konzession der Herren Volksvertreter, ist schade: „Existenzsichernd“ sollte Lohnarbeit, wenn möglich, schon sein.

Das Wünschenswerte, so der wirtschaftspolitische Sachverstand, ist leider nicht immer möglich: Jede der Geschäftswelt abgeforderte Garantie, dass der Lohn seinen Mann ernähren muss – wie bescheiden auch immer –, beschädigt das viel wichtigere nationale Gut des Wachstums und würde dem Sinn und der ganzen Richtung der Reformpolitik widersprechen. Der Arbeiter soll ja fürs Kapital billiger werden, damit es mehr Gewinn macht, mehr wächst und Appetit auf die Benutzung von einigen der vielen Arbeitslosen entwickelt. Kaum bewegt sich der Lohn mit hohem Tempo in die richtige Richtung, jammern schon wieder welche herum, dass dadurch elende Armutsgestalten entstünden. Nach kurzer öffentlicher Debatte einigen sich die Parteien auf die Erkenntnis, dass Arbeit natürlich existenzsichernd sein sollte, der Versuch aber, sie durch Zwang gegen das Kapital dazu zu machen, niemandem mehr schaden würde als eben jenen „Working Poor“, Langzeitarbeitslosen und Gering-Qualifizierten, denen damit geholfen werden sollte. Ein Mindestlohn würde ihnen den Zugang zum Arbeitsmarkt, also die herrliche Chance verbauen, einen noch darunter liegenden Lohn zu verdienen. Wenn die Kapitalisten den Arbeitslosen, die sie massenhaft und erpressbar vorfinden, nur ein paar Euro in der Stunde zahlen, dann – so sieht man nun ein – wird deren Arbeit schon auch nicht mehr wert sein; jede staatlich verordnete Lohnsteigerung würde diese Besitzer ihrer Arbeitskraft um das Freiheitsrecht betrügen, ihre Ware zu verkaufen. Man verständigt sich darauf, dass Arbeitern durch den Staat einfach nicht zu helfen ist; jede Hilfe vielmehr sofort ins Gegenteil, Konkurrenzverbot und Ausschluss, umschlägt, weil das Kapital nur Preise zahlt, die ihm schmecken; desgleichen sieht man ein, dass der Staat den Kapitalisten keine Auflagen machen kann, weil die immer Mittel und Wege finden, sich ihnen zum größeren Schaden der Arbeiter und des Gemeinwesens zu entziehen (Schwarzarbeit, Abwanderung ins Ausland). Einen richtigen Mindestlohn kann es also nicht geben: Ein zu niedrig festgelegter bringt den Arbeitnehmern nichts, ein zu hoher kann sie ihren Job kosten, weil es der Firma zu teuer wird. (NN, 28.4.05) So das Schlusswort der nationalen Debatte 2004.

2.

Nichts davon ist zurückgenommen, wenn die Mindestlohndebatte im Frühjahr 2005 mit einer verschärften Sprache und ganz anderer Stoßrichtung wieder auflebt. Nun geht es nicht mehr um eine ungute Entwicklung bei den Löhnen (Müntefering im Herbst), sondern zum Teil um Menschenhandel und um übelste Formen der Ausbeutung. (Regierungssprecher Anda, FAZ, 28.4.) Was daran auf einmal schlecht sein soll, sagt sein Chef:

„Wir können nicht zulassen, dass es Leute gibt, die Arbeiter aus dem europäischen Ausland holen, sie für ein paar Kröten arbeiten lassen und damit gesunde deutsche Betriebe kaputt machen. Durch solch würdelose Arbeit wird die europäische Idee zerstört.“ (Schröder im NRW-Wahlkampf)

Hungerlöhne, mit denen ausländische Lohnsklaven abgefunden werden, kann der Kanzler nicht zulassen, selbstverständlich nicht wegen des Elends dieser übel ausgebeuteten Figuren und noch nicht einmal hauptsächlich deswegen, weil dadurch deutschen Arbeitslosen die wunderbare Chance vorenthalten wird, selbst solche Löhne zu verdienen; illegale Praktiken und bestimmte Schlupflöcher will Schröder illegalisieren, weil solche Praktiken Abteilungen deutscher Klein- und Handwerksunternehmer zu ruinieren, also deutsche Wirtschaftskraft zu schädigen drohen.

Ein gewisser Perspektivenwechsel liegt also schon vor: Genau solche Billigstarbeiter aus dem Osten hat man jahrelang ins Land geholt, sogar ehe sie halbwegs zur Freizügigkeit berechtigte EU-Bürger geworden sind. Teils hat die deutsche Politik durch gewollt unzureichende Kontrollen erlaubt und gefördert, dass Osteuropäer mit Touristenvisa und ohne Arbeitserlaubnis sich als Bauarbeiter, Kellner etc. verdingten; teils hat sie mit den Entsendestaaten Kontingente für Wander- und Saisonarbeiter besonders für Landwirtschaft, Gastgewerbe und Bauwirtschaft vereinbart. Diese überaus billigen Arbeiter haben nicht nur deutsche Konzerne zur Verbesserung ihrer „Ergebnisse“ genutzt, sondern auch der Bauherr Staat, besonders beim standesgemäßen Ausbau der Hauptstadt. Vor allen Dingen aber hat man das Billigangebot als Rammbock zum Aufbrechen des „versteinerten deutschen Lohngefüges“ geschätzt. Der Druck, den auswärtige Billiglöhner, ob legal oder illegal, auf ihre inländischen Klassenbrüder ausüben, war gerade recht und soll auch weiterhin seinen Dienst tun.

Wenn nun aber unter der Flagge der Dienstleistungsfreiheit osteuropäische Fleischerkolonnen in deutschen Schlachthöfen ihr Unwesen treiben (SZ), das darin besteht, in kürzester Zeit den Bestand deutscher Fleischarbeiter um mehrere Zehntausend zu entlauben und aufs Arbeitsamt zu schicken, dann ist das zwar gut, weil billig, fürs ansässige Fleisch- und Wurstkapital. Aber schlecht für das selbstständige Fleischerhandwerk, und erst recht schlecht für die Hartz-IV-Kassen des Staates, der sich das so nicht bestellt hatte. Die Regierung befürchtet, dass sich diese Tour unkontrolliert über das Bau-, Fleisch- und Reinigungsgewerbe hinaus ausbreitet und neben Kosten für immer neue Arbeitslose einen verheerenden Eindruck von ihrem „Kampf gegen die Arbeitslosigkeit“ hinterlassen könnte.

Diesen Schaden will sie abwehren. Sie will Herr des Geschehens bleiben, in eigener Regie die Vorteile der Lohndrückerei gegen die Nachteile für Sozialkassen, Handwerk etc. abwägen und die eigenen Abwägungen auch durchsetzen können. Daher der scharfe Ton gegen „Scheinselbständige“, die die europäische Dienstleistungsrichtlinie missbrauchen, die nun von Brüssel verändert und im deutschen Sinn missbrauchssicher gemacht werden muss; daher die harten Worte gegen osteuropäische Ausbeuter, die Arbeitskräfte zu einheimischen Hungerlöhnen anstellen und im deutschen ‚Hochlohnrevier‘ zu Sonderpreisen anbieten. Lohndumping – das stellt die Hetze klar – betreiben nie und nimmer die deutschen Geschäftsleute, die sich dieser Dienste „für ein paar Kröten“ bedienen und ihre hiesigen Belegschaften vor die Wahl stellen, entweder ebenso billig zu werden oder zu gehen. Des Dumpings machen sich nur die ausländischen Hungerleider schuldig, die sich so billig zur Verfügung stellen bzw. die Schlepper und Subunternehmer, die sie nach Deutschland vermitteln.

Das gehört verboten! Ein Verbot richtet sich selbstverständlich nicht gegen deutsche Unternehmer, die Billigstlöhne ausnutzen, sondern gegen die ausländischen Bewerber und Entsender, die unseren Unternehmern so unsittliche Angebote machen. Die polnischen, tschechischen, rumänischen etc. Arbeitslosen sollen gefälligst daheim bleiben, wenn Deutschland sie gerade nicht als Lohndrücker brauchen kann. Und wenn sie tatsächlich in Grenzen fern gehalten werden, dürfen proletarische Nationalisten hierzulande die dafür erforderlichen Maßnahmen als Schutz ihres Staates für die einheimische Arbeit missverstehen.

3.

Billige Ausländer vom deutschen Arbeitsmarkt fern halten, das lässt sich machen, auch von einer EU-Nation im grenzenlosen Binnenmarkt. Allerdings verlangt die europäische Entsenderichtlinie, dass dieser Zweck durch Gesetze bewirkt wird, die keine einseitigen Reglungen nur zu Lasten der ausländischen Konkurrenten erlassen:

„Wegen des europarechtlichen Verbots der Ausländerdiskriminierung dürfen ausländische Arbeitgeber nur dann zur Einhaltung deutscher Tarifverträge verpflichtet werden, wenn diese auch von allen deutschen Arbeitgebern der betreffenden Branche eingehalten werden müssen.“ (Internet-Verlautbarung des Wirtschaftsministeriums, 27.4.)

Tatsächlich, man kann osteuropäischen Schleppern die Bezahlung ihrer überaus konkurrenzfähigen Hungerlöhne nicht verbieten, ohne ehrenwerten deutschen Arbeitgebern dieselbe Schranke zu setzen. Wenn man den armen Schweinen aus dem Osten ihren einzigen Konkurrenzvorteil gegenüber den deutschen Bewerbern nehmen will, dann tangiert das also auch die Lohndrückerei deutscher Unternehmer. Das will bedacht sein, damit das staatliche Konkurrenz-Anliegen nicht wider Willen zu einer ungebührlichen Beschränkung ausgerechnet der Unternehmen führt, die doch vor unliebsamer Konkurrenz geschützt werden sollen. Also ist der Gedanke an einen branchenübergreifenden gesetzlichen Mindestlohn keinesfalls angebracht, das wäre ja ein Rückfall in die erledigte Debatte, ob nicht beim Lohnsenken durch staatliche Mindestlohn-Vorschriften irgendwie noch dem Gesichtspunkt Rechnung getragen werden sollte, dass der Lohnempfänger davon leben können muss. Damit hat das jetzige Vorhaben neuer Regeln der Billiglohnkonkurrenz ja wirklich nichts zu tun. Und für diesen Zweck braucht es ja auch gar keine generelle, für das nationale Billiglohnniveau verbindliche allgemeine Untergrenze, die womöglich Rücksicht auf irgendwelche staatlich anerkannte Reproduktionsnotwendigkeiten des Proletariats nimmt, sondern nur irgendeine beliebige Untergrenze, die die jeweiligen ausländischen Entsender für in Deutschland verrichtete Arbeit genauso bezahlen müssen wie deutsche Arbeitgeber und die ihnen so ihren Konkurrenzvorteil nimmt. Um diese „Zerstörer der europäischen Idee“ daran zu hindern, deutsche Mittelständler zu schädigen, reichen Löhne von 2 bis 4 Euro die Stunde ja auch: Wo immer sie liegen, sich billiger anzubieten als ehrliche deutsche Arbeitsleute, wird verboten. Also erklärt der deutsche Wirtschaftsminister sich nur bereit, wie schon im Baugewerbe und in der Seeschifffahrt vorhandene Tarifverträge zwischen Gewerkschaften und organisierten Arbeitgebern auf Antrag einer der beiden Tarifparteien für allgemeinverbindlich also für alle Arbeitgeber der Branche gültig zu erklären. Dadurch wird die jeweils unterste Tariflohngruppe zu einem branchenspezifischen Mindestlohn, der den Gegebenheiten und Unternehmerbedürfnissen der jeweiligen Branche möglichste Rücksicht zuteil werden lässt und doch zugleich der ausländischen Konkurrenz gewisse Schranken auferlegt. So jedenfalls die Intention.

Allerdings setzt die Erklärung der Allgemeinverbindlichkeit gültige Tarifverträge in den betreffenden Branchen voraus. Das aber ist in Deutschland längst nicht mehr der Fall. Nicht nur, dass sich in vielen Branchen, besonders in den neuen Bundesländern, niemand mehr um vorhandene Tarifverträge kümmert, in Bereichen wie Gastgewerbe, häusliche Dienstleistungen, Wohnungsrenovierung etc., wo Gewerkschaften nie Fuß fassen konnten oder wieder verdrängt wurden, gibt es oft gar keine Verträge mehr. Aber die Regierung weiß Rat. Mit der freundlichen Aufforderung an die Tarifparteien, dort, wo es noch keine Verträge gibt, nun aber auch solche zu schließen, wenn sie sich schon bereit erklärt, diese Verträge für allgemeinverbindlich zu erklären, stellt die Regierung es der Unternehmerseite anheim, ob sie sich mehr als Opfer oder mehr als Nutznießer der osteuropäischen Billigarbeiter sieht, ob sie dementsprechend überhaupt ein Interesse an einer Konkurrenzbehinderung dieser Ausländer hat oder nicht. Das spaltet die Branchen und ihre Firmen: Arbeitgeberpräsident Hundt lehnt das Angebot der Regierung rundweg ab: „Verfassungsrechtlich höchst bedenklich“, außerdem würden Mindestlöhne welcher Art auch immer nur für „zusätzlichem Verlagerungsdruck sorgen und Arbeitsplätze vernichten“. Der „Zentralverband des deutschen Handwerks“ dagegen sowie „Fleischwirtschaft und das Gebäudereinigerhandwerk bekunden großes Interesse“ (FAZ, 28.4.).

4.

Wie auch immer der Deal zwischen Arbeitgeberverbänden, Niedriglohn-Gewerkschaften und Wirtschaftspolitik ausgeht: auf alle Fälle muss Deutschland seine „gesunden“ Gewerbe verteidigen. Gegen wen – in der Frage öffnet der Kanzler den Blick über die herangeschleppten Hungerleider aus dem Osten des Kontinents und über deren Schlepper hinaus auf ein politisches Problem. Das heißt Europa und besteht aus zwei Sachen: einer Idee, die auf keinen Fall Schaden leiden darf, weil es darin um nichts Geringeres als eine neue Chance auf eine maßgeblich von Berlin aus dirigierte Weltmacht des kapitalistischen Friedens geht – und aus einer Realität des aufdringlichen Elends, die nach Ansicht der Berliner Führung diese schöne Idee durch Beschädigung ihrer materiellen nationalen Basis zu zerstören droht. Hinter dieser Gefahr steckt – Regierung und Opposition sind sich da in der Sache völlig einig – keineswegs bloß die neue, europäisch mobil gemachte Armut im Osten des Kontinents, sondern auch die Brüsseler Kommission, die in unbedachtem Supranationalismus mit ihren Richtlinien zur Freizügigkeit für Dienstleistungen im EU-Raum der Großmacht im Herzen Europas das östliche Elend als Last aufbürdet, statt sie in ihrer Eigenschaft als Zentrum der neuen Weltmacht mit allen Mitteln zu stärken. An „Brüssel“ ergeht daher, parallel zur Diskussion um Mindestlöhne in Deutschlands Billiglohnbranchen, die Direktive, bei der Schaffung eines gesamteuropäisch flexibilisierten Proletariats an den Belangen Deutschlands Maß zu nehmen. Ganz nebenbei erhalten die geschädigten Arbeitnehmer der Nation die amtliche Erlaubnis, sich – statt über ihre grundsoliden kapitalistischen Arbeitgeber und über ihre sozialdemokratischen Regenten, die es so schwer haben – nicht nur über die angloamerikanischen Heuschreckenschwärme des Herrn Müntefering, sondern auch über antideutsche Supranationalisten und Bürokraten in Brüssel aufzuregen.