Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Jugendkriminalität und neue Erziehungskonzepte
Wegsperren zur Erziehung
Neue Höhepunkte in der Brutalität von Straftätern im Kindes- und Jugendalter werden festgestellt – aber nicht als Früchte des nationalen Erziehungswesens, sondern als dessen Ausrutscher. Öffentlichkeit, Pädagogen und Politiker sind sich einig. Es geht um ein Ordnungsproblem, für dessen Bewältigung man in der Vergangenheit mit besonderen Gesetzesbestimmungen für Jugendliche viel zu viel „Toleranz“ gezeigt habe.
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Jugendkriminalität und neue
Erziehungskonzepte
Wegsperren zur Erziehung
Anfang Juli ist die Öffentlichkeit wieder einmal „fassungslos“. Sie sieht sich einmal mehr konfrontiert mit neuen Höhepunkten der Brutalität von Straftätern im Kindes- und Jugendalter:
„In Hamburg war es in der vergangenen Woche der Raubmord zweier sechzehnjähriger Deutscher an einem 73 Jahre alten Kaufmann. In München ist es der Fall des türkischen Serientäters Mehmet, der, kaum hatte er das 14. Lebensjahr überschritten, trotz intensiver Betreuung gleich wieder einen Raubüberfall verübte…“ (Giovanni di Lorenzo, SZ 11.7.98)
*
Ein hinreichender Anlaß – nach wiedergewonnener Fassung – für ein paar Gedanken über Art und Grund der gewaltträchtigen Verwahrlosung, die diese Gesellschaft ihrer nachwachsenden Brut angedeihen läßt, wären solche Taten allemal. Dies umso mehr, als es sich nach der laufenden Berichterstattung bei der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen auch an Delikten der härteren Art nicht mehr um Einzelfälle handelt: Die lieben Kleinen prügeln und treten, bewaffnen sich, rauben und erpressen innerhalb wie außerhalb ihres Milieus und geben den Polizeistatistikern Anlaß zu der Feststellung, daß die „Täter und die Opfer von Gewalt immer jünger“ würden.
So fassungslos und namenlos erstaunt über diese Entwicklung müßte zumindest nicht sein, wer die betreffenden Früchtchen wirklich als die dieser Gesellschaft nehmen und sich deren Aufzucht und Pflege vor Augen halten wollte. Die gehorcht, ob sie im Schoße der „intakten Mittelstandsfamilie“ oder mehr auf der Straße und vor dem Fernsehgerät stattfindet, durchaus gemeinsamen und gar nicht unbekannten Prinzipien:
Daß „das Leben“ voller Widrigkeiten ist, die es erfolgreich zu bestehen gilt, und dies nach Möglichkeit erfolgreicher als andere; daß es irgendwie ein „Kampf“ ist, um Schulnoten, Anerkennung und die richtigen Freunde; daß man diese wie die nachschulische Konkurrenz um und in der Arbeit nur besteht als „durchsetzungsfähige Persönlichkeit“: Das alles ist sowohl Gegenstand frühzeitiger Erfahrung, noch bevor ein Kindlein so ein kompliziertes Wort wie „Konkurrenz“ auch nur richtig schreiben könnte, als auch deren erzieherischer Bestätigung. Letztere versäumt es nicht, diese umfassende „Lehre“, die aus dem „Leben“ zu ziehen ist, daß es entscheidend auf „den Einzelnen“ ankommt, beizeiten mittels moralischer und sozialkundlicher Unterweisung um den Gesichtspunkt des „Dürfens“, des Erlaubten und nicht Erlaubten, also des Rechts zu ergänzen. Dieses soll die Welt der konkurrierenden Persönlichkeiten danach einteilen, was wem in welcher Menge zusteht, was zwar den Menschen zum „Rechtssubjekt“ adelt, andererseits aber seine Zugriffsmittel auf die Welt des Schönen, Guten und Genußreichen auf die rechtlich genehmigten beschränkt. Diesen Ritterschlag läßt sich – auch in jungen Jahren – jeder gern gefallen, der sich selbst schon öfter gedacht hat, daß einem Kerl wie ihm ein angemessener Teil an der Welt zustünde. Wenn einem der aber – weil man jung ist – dann doch versagt bleibt, die Abhängigkeit vom Elternhaus sowie schulische und andere Pflichten die nötigen monetären Mittel arg begrenzen, dann kommen sich diese frühreifen Rechtspersonen ausgeschlossen vor: vom Reichtum der Gesellschaft, von dem sie meinen, er stünde ihnen zu. Und so, wie sie an sich selbst perfekt schon das gesellschaftlich übliche psychologisierte Rechtsbewußtsein ausgebildet haben, so kennen die Youngster der bürgerlichen Gesellschaft auch die Konsequenzen genau, die zu ziehen sind, wenn dieses sich um seine Ansprüche betrogen sieht. Die Kollision zwischen ihrem gefestigten Anspruchsniveau und einer Welt, die für sie wenig Gelegenheiten, dafür aber sehr viele verordnete Einschränkungen bereithält, korrigieren sie praktisch zu ihren Gunsten – und holen sich Geld, Anerkennung und adidas. Zwar unter Verstoß gegen die Rechtslage, aber eben in umso entschiedenerer Übereinstimmung mit der höchstpersönlich definierten Gerechtigkeitslage. Die dabei um sich greifende Härte und Brutalität ist ein gelungenes Mischprodukt aus dem Vorbild, das der Rechtsstaat in seinem Kampf gegen allerlei Unrecht bietet, aus der berechnungslosen Wut, die dem enttäuschten Rechtsstandpunkt von Haus aus eigen ist, und aus den Anregungen hinsichtlich Stil und Mittel, die die fiktiven Gewaltorgien in Film und Fernsehen für den Betrachter bereithalten – so er willig ist, aus der Glotze so zu lernen wie aus dem „Leben“. Diese bedienen nämlich den bürgerlichen Verstand mit unterhaltsamem Stoff, indem sie die Gleichung zwischen Recht und Gewalt konsequent zugunsten letzterer auflösen. In den bunten Inszenierungen der Anwendung berechtigter Gewalt, in denen der Kampf zwischen Gut & Böse ausgetragen wird, wird vorgeführt, wie sich vorbildlich und konsequent ein Anliegen ausgefochten gehört, das das Recht auf seiner Seite weiß – was offenbar nicht wenigen so sehr aus dem Herzen spricht, daß sie sich daran dann gleich als Vorbild orientieren.
*
Auch die demokratische Öffentlichkeit macht sich so ihre
Gedanken. Daß Gewalt im Fernsehen
den unmündigen
Zuschauer verdirbt
und im übrigen Kriminalität
„vielfältige Ursachen“ hat, ist für sie
ein alter Hut. Bei dem Verweis auf psychologische und
soziale Komponenten als Erklärung und manchmal auch als
Entschuldigung für Verbrechen: eine von Gewalt und
Verwahrlosung bestimmte Kindheit etwa, die wachsende
Kluft zwischen arm und reich, das Fehlen von
Arbeitsplätzen und Lehrstellen
fällt G. di Lorenzo
von der SZ ein, daß all diese Argumente nach wie vor
nicht ganz falsch (sind)…
.
Aber ob diese Verweise
stimmen oder verkehrt sind,
ist dem Autor sowieso egal. Angesichts der frühreifen
Verbrecher hat er sich die einzig erlaubte Gretchenfrage
gestellt: Bin ich für die Objekte der
staatlichen Beaufsichtigung und Maßregelung – oder für
die Ordnung? Und herausgekommen ist bei diesem
liberalen Geist, daß eine zeitgemäße Antwort im
Zweifelsfall natürlich immer nur für die Ordnung
ausfallen kann. Da mag er früher selbst noch bei
Verbrechen Jugendlicher an soziale Komponenten
gedacht, also gemutmaßt haben, daß die jungen
Delinquenten auf ihre Weise schon auch irgendwie ein
Produkt der Gesellschaft sind, in der sie störend
auffallen. Heute gehört sich für ihn da anders gedacht.
Heute fallen für ihn Verstehen und Verständnis,
Erklärung
und Entschuldigung
umstandslos
zusammen, und wer da noch auf Ursachen
verweist,
singt in einem Chor der Abwiegler
(ebd.), der
nicht geschnallt hat, welche Argumente
heutzutage
für Verbrechen
einschlägig sind. Die steuert der
ausgewiesene Politsoftie di Lorenzo – der für den Beweis,
daß es Deutschland mit guten Ausländern echt gut meint
und deshalb als Nation viel besser ist als die
vielen ihr zugehörigen Ausländerfeinde, schon mal
großartige Lichterketten organisiert – dann zielstrebig
an. Aufrufe zur Mäßigung
gegenüber straffälligen
Kindern und Jugendlichen kommen ihm mittlerweile selbst
irgendwie verbrecherisch vor – für ihn sind sie längst
Teil des Problems geworden.
Er, anerkanntes Mitglied
der kritisch-aufgeklärten Öffentlichkeit und daher ganz
unverdächtig der „rechten“ Scharfmacherei aus
Wahlkampfgründen, stimmt mit allen anderen
ordnungsversessenen Sangesbrüdern besonders glaubwürdig
in den Chor der Aufwiegler ein und führt vor, wie man
heute über ein derartiges „soziales Problem“ redet: Die
vielfältigen sozialen Ursachen der
Jugendkriminalität
werden zitiert, um sie als
Argument zu denunzieren, und anstatt nach Gründen ist
einerseits nach der Verantwortung für ein
offenkundiges gesellschaftliches Versagen, andererseits
nach den erforderlichen gesetzgeberischen und
polizeitechnischen Konsequenzen angesichts eines
staatlichen Ordnungsproblems zu fragen. Und die
fallen sehr originell aus: Strafe muß sein!
trompetet der liberale di Lorenzo in der Überschrift
seines Artikels, mit dem er sich, gleichsam
stellvertretend für die „weiche Linie“ im Lande,
öffentlich zu seinem „Lernprozeß“ in Sachen
Kriminalitätsbekämpfung bekennt.
*
Mit dieser Einsicht, zu der er anläßlich der jugendlichen Kriminellen vorgestoßen ist, macht der Kommentator vorerst allerdings nur seinen moralischen Drangsalen Luft. So, wie die geltende Rechtsordung es vorsieht, muß Strafe bei Jugendlichen nämlich nicht bedingungslos sein. Weil die Bestrafung „rechtssystematisch“ einen Willen zum Rechtsbruch voraussetzt und dieser bei Kindern als nicht vorhanden, bei Jugendlichen als erst unvollkommen ausgebildet unterstellt wird, wird die willensmäßige Mangelhaftigkeit der minderjährigen „Rechtssubjekte“ in der „Strafunmündigkeit“ für Kinder bis zum 14. Lebensjahr und im milderen Jugendstrafrecht samt zugehöriger staatlicher Erziehungsmaschinerie berücksichtigt. Jugendamt wie Jugendgericht sind grundsätzlich auf „Besserung“ des jugendlichen Übeltäters angelegt, also auf die staatliche Hoffnung, ihn mit einer Mischung aus Drohung und pädagogischer Agitation doch noch zu einem „rechtstreuen“ Leben bewegen zu können.
Genau da also wird auch von bekennenden Liberalen heute öffentlich Reformbedarf angemeldet. Diese problembewußten Ordnungsfanatiker sind dafür, anstatt allzulange den jugendlichen Willen des Delinquenten zu explorieren und beeinflussen zu wollen, einfach aus der Tat den Schluß zu ziehen, daß er sie schon auch irgendwie so gewollt haben wird. Dafür soll ihn dann auch – ungeachtet seines Alters – die ganze Härte der Strafe treffen.
Die hauptberuflich mit der Erziehung der Jugend befaßten sozialen und anderen Pädagogen wollen sich diesem Geist der Zeit gleichfalls nicht verschließen. Kaum richtet sich die öffentliche Aufmerksamkeit auf die jugendlichen Straftäter, finden sie sich angesprochen und zu sachkundiger Einmischung aufgerufen und leisten ihren Beitrag: Sie bekennen, daß es sich bei den vielen kleinen schweren Jungs und Mädels um die Früchte des von ihnen betreuten nationalen Erziehungswesens handelt. Freilich nicht im Sinne einer rationalen Erklärung des verbotenen Tuns aus der gebotenen Konkurrenz plus Rechtsbewußtsein; vielmehr soll es sich um die mißratenen Ergebnisse einer Pädagogik handeln, die im unverwüstlichen Gehorsam gegenüber dem Recht ihr zentrales Erziehungsziel und maßgebliches Erfolgskriterium hat und anerkennt. Deswegen stellen sie, stellvertretend selbstkritisch, die Frage gleich so: „Wer hat versagt? Die Schule, die das Jugendamt nicht schnell genug einbezogen hat?…Die Eltern? Das Jugendamt? …“ (SZ 16.07.98) Der wesentliche Auftrag dieser ehrenwerten Institutionen besteht nämlich darin, wirksam vorwegzunehmen, was andernfalls die Justiz zu leisten hat:
„Die Realisierung des Strafrechts durch Verfolgung und Verurteilung der Delinquenten verschafft dieser Forderung (sc. keine Straftaten zu begehen) im Bewußtsein der Allgemeinheit Geltung und wirkt so sozialpädagogisch und sittenbildend“ (Schönke/Schröder, Kommentar zum StGB).
Und was liegt da näher, als zum Zweck wirksamer
Prävention auch die Verfahren des
Strafrechts vorwegzunehmen?! Richtig verstanden, gibt das
Ideal des Jugendstrafrechts ganz
umstandslos einen zeitgemäßen Realismus
der
Jugendpädagogik her: Einsperren als
Erziehungsmittel, um dem Nachwuchs die Belehrung
durch Einsperren als Strafe zu
ersparen…
*
Die demokratischen Parteien, die die kriminellen
Neigungen des Jungvolks ohnehin ausschließlich als
Ordnungsproblem definieren, liefern sich einen harten
Wettlauf um die meisten geschlossenen Heime
und
das härteste Durchgreifen
gegenüber den Tätern.
Der schlaue Westerwelle von der FDP hat dabei entdeckt,
daß es sich bei der Frage „Strafe oder Erziehung“ gar
nicht um eine Alternative handelt –
„Westerwelle begründete seine Forderung nach mehr geschlossenen Heimen damit, daß es nicht ums Wegsperren gehe, sondern um das Ziel der Einwirkung durch Erziehung.“ (SZ 13.07.98)
Selbstverständlich ist auch Schily, der für die inneren
Belange der Republik zuständige Experte von der SPD, vom
selben pädagogischen Eros beflügelt, wenn er als Ersatz
für die Herabsetzung des Strafmündigkeitsalters die
geschlossene Heimunterbringung sowie die Anwendung des
Erwachsenenstrafrechts – freilich: nur in bestimmten
Fällen
– bevorzugt. Allenthalben also Null
Toleranz
(CDU/CSU) auch gegenüber der Jugend, die
sich am Recht vergeht, wobei die Vertreter der
unbedingten Geltung von Recht und Ordnung sich nicht im
geringsten dazu veranlaßt sehen, überhaupt noch ein
Interesse der Bürger namhaft zu machen, dem durch jede
Menge Repression
und einen starken Staat
gedient wäre. Sie gehen einfach davon aus, daß dem Recht,
das in ihrer Republik gilt, sowieso alle Interessen
untergeordnet sind, den Bürgern also am besten gedient
ist, wenn ihrem eigenen Interesse an einer in jeder
Hinsicht unangefochtenen Rechtsordnung gedient wird, und
damit werben sie dann für sich:
Opferschutz
heißt die letzte verbliebene
Dienstleistung des Rechtsstaats, mit der dessen
wahlkämpfenden Vertreter den Bürgern gegenüber aufwarten,
sich sicher fühlen können
– das wenigstens sollen
alle braven Menschen schon noch dürfen. Aus dem Umstand,
daß in ihrer rechtsstaatlich zivilisierten Demokratie
offenbar nicht einmal ein Minimum an zivilem Betragen
üblich ist und die Möglichkeit, Opfer privater Gewalt zu
werden, offenbar verbreitet ist, sollen sie also den
Schluß ziehen, daß zur Kritik dieses Zustandes allein die
Polizei zuständig ist. Als einzige Mängel in dem
Rechtsstaat, in dem sie leben, sollen sie die
Verbrecher identifizieren, die sich auch noch in
ihm herumtreiben – also genau nach dem
Polizeistaat rufen, den die verantwortlichen
Demokraten zur Wahrung ihrer Ordnung für
unverzichtbar halten. Die kommen daher bei allen ihren
Machenschaften prinzipiell nur dem Wunsch der Bürger
nach, möglichst unbeschädigt durchs Leben zu kommen: Ihr
härteres Durchgreifen
, die entschlossene
Wahrnehmung ihres hoheitlichen Kontrollwesens und den
flächendeckenden Einsatz von ganz viel Gewalt zur
Sicherung der geltenden Ordnung, wollen sie als eine
einzige Fürsorgepflicht gegenüber ihren Bürgern
verstanden wissen, und wenn sie demnächst die Jungen, die
ihre Ordnung stören, frühzeitig und nachhaltig außer
Verkehr ziehen, so tun sie auch dies nur im Namen des
Volkes, das vor Gewalt sicher sein will.