Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Jelzins Militärreform
Ein weiteres vorletztes Kapitel der Abdankung der ehemaligen Weltmacht

Die Militärreform soll die Schlagkraft von Armee und Staat erhöhen. Das kann sie aus verschiedenen Gründen nicht leisten.

Aus der Zeitschrift

Jelzins Militärreform
Ein weiteres vorletztes Kapitel der Abdankung der ehemaligen Weltmacht

Boris Jelzin entläßt seinen Verteidigungsminister, weil der an dem Auftrag gescheitert ist, die Reste der Roten Armee – und das auch noch zum Nulltarif – so energisch gesundzuschrumpfen, daß Rußlands Präsident ab sofort für wenig Geld über ein richtiges Militär verfügt hätte, das auf Befehl innere Gegner besiegt und dem Rest der Welt kräftig imponiert. Mit der Entlassung und öffentlichen Beschimpfung seiner Generäle – die werden immer fetter, die Soldaten hingegen immer dünner – beweist der Präsident, wo die Schuldigen am Niedergang der bewaffneten Macht der Nation sitzen. Seine neue Armee, in der alles besser und billiger wird, bestellt er sich per Ukas und Ernennungsurkunde bei Rodionows schnell gefundenem Nachfolger. Dieser, bislang Chef der verbliebenen russischen Nuklearwaffen, überzeugt seinen Auftraggeber mit dem Versprechen, die verrottenden Resttruppen so um die noch funktionierenden Raketen herumzuarrangieren, daß Rußlands bewaffnete Macht wieder respektiert wird; vom nahen wie im fernen Ausland.

Das wäre, rein national-russisch gesehen, auch bitter nötig.

  • Was das nahe Ausland – die GUS-Partner – betrifft, so spitzt sich die Sicherheitslage im zentralasiatischen Süden gerade kräftig zu. Bis auf ein paar Reste im Norden erobern nämlich die islamistischen Taliban im Laufe des Mai den größten Teil Afghanistans und öffnen sich damit Nachschubwege zur Unterstützung ihrer Gesinnungsgenossen, die in Rußlands angrenzendem „Vorhof“, Tadschikistan vor allem, seit längerem nicht ohne Erfolge die russische Vorherrschaft und deren regierende Repräsentanten bekämpfen. Und nicht nur das: Weil der Auftrag Allahs an seine afghanischen Glaubenskrieger ganz zufällig mit einem Auftrag der USA an deren pakistanische Oberaufseher und Waffenlieferanten zusammenfällt, verschieben die Taliban mit ihrem Vormarsch nicht bloß die Verschleierungsgrenze, sondern die strategischen Einflußsphären in der Region. Die USA wollen mehr Zugriff auf eine Weltgegend, die sich nach ihrer Einschätzung noch immer viel zu sehr nach Moskau orientiert statt an Washingtons globalen (Zu-)Ordnungsinteressen. Gegen beide „Entwicklungen“ haben 20000 Mann russische Hilfstruppen schon bisher wenig ausgerichtet. Jelzins Anordnung, die geerbte Armee auf ein schlagkräftiges Maß zu reduzieren, kann die Dinge nur noch weiter in Fluß bringen.
  • Das ferne Ausland, mit dem es die russische Rest-Macht in ihrer nahen zentralasiatischen Einflußsphäre bislang mehr indirekt zu tun bekommt, revidiert gleichzeitig nach Plan und im großen Stil die strategischen Verhältnisse in Europa: Die NATO selber rückt mit Riesenschritten an die Westgrenze der GUS vor. Sie vereinnahmt das gesamte frühere osteuropäische Einflußgebiet der einstigen Sowjetunion, nimmt Rußland also sein militärisches Vorfeld und bringt das Land damit in die Lage eines Kriegsverlierers, gegen den sie nur einen „Kalten“ Krieg zu gewinnen brauchte. Sie kassiert die Kriegsbeute, ohne einen Schuß abgeben zu müssen, und sieht sich als Sieger dazu berufen, dem Verlierer (analog zu Frankreich 1815) seinen rechtmäßigen Platz in der Gemeinschaft der europäischen Nationen einzuräumen. (Süddeutsche Zeitung)

Der Chef der Verliererpartei freilich geht davon aus, gar kein schlechtes Geschäft zu machen, wenn er für die weitere Zurückstufung seines Staates auf der Skala der Weltmächte mit der ehrenvollen Anerkennung seines zurückgestuften Staates durch die Feinde von gestern belohnt wird. Und die bekommt er nicht zu knapp. Eigens zu diesem Zweck begeben sich die Chefs der Siegerpartei nach Paris zu einer sehr repräsentativen, sehr stimmungsvollen Feierstunde und danken Jelzin die widerstandslose Preisgabe militärischer und politischer Positionen in Osteuropa mit einem ganz exklusiven Sicherheitsabkommen zwischen NATO und Rußland. Der Präsident besitzt nunmehr eine Rechtsposition, die ihm beim Vormarsch der NATO nach Osten ausdrücklich ein Mitsprache-, nicht aber ein Mitentscheidungsrecht (Clinton) gewährt. So finden die Russen unter vielen Ehrenbezeigungen und großem Beifall bei der Vertragsunterzeichnung ihren rechtmäßigen Platz in der Gemeinschaft der europäischen Nationen.

Dieser Platz wird von den maßgeblichen Herren besagter Gemeinschaft gleich anschließend näher dahingehend definiert, daß er sich mit strategischer Atomrüstung schlichtweg nicht verträgt. Deren Beseitigung muß also weitergehen – Amerika hilft mit Abrüstungsverträgen und beim Verschrotten nach. Ein nach Europa heimgekehrtes Rußland hat außerdem hinzunehmen, daß das große euro-amerikanische Bündnis, von dem es als eurasischer Randstaat selbstverständlich ausgeschlossen bleiben muß, mit seiner Expansion nach Osten noch lange nicht fertig ist: Im frisch gegründeten Euroatlantischen Partnerschaftsrat finden alle NATO-Mitgliedschaftsbewerber Aufnahme, und neben den erstrangigen Beitrittskandidaten Polen, Ungarn und Tschechien sowie Slowenien, Rumänien und Bulgarien dürfen vor allem die baltischen Staaten nicht im Niemandsland bleiben. Wegen ihrer Nähe zu Rußland sind sie nämlich am meisten gefährdet, was natürlich für die Staaten des Kaukasus und das gleich anschließende Armenien erst recht gilt; deswegen schließt die Bewerberliste auch frühere Sowjetrepubliken, soweit sie zu Europa gehören, nicht aus. (Rühe). Mit der strategisch interessantesten Ex-Sowjetrepublik, der Ukraine, einigt sich die NATO gleich im Anschluß an ihren Sondervertrag mit Rußland auf ein genauso umfassendes Partnerschaftsabkommen, das den zukunftsweisenden Kernsatz enthält, jedes Land solle seine Bündnisangelegenheiten selbst regeln.

Zu soviel Drang nach Osten möchte der russische Außenminister Primakow dann doch einmal vorsichtig-kritisch angemerkt haben, daß die Nato unbedingt an den Bug will, wir aber nicht wissen, was sie da will. Sein Chef jedoch sieht mit dem Abkommen von Paris seine Sicherheitsbedürfnisse weitgehend geregelt, hält seine Konzessionen an die NATO für einen zweifelsfreien Sieg der Vernunft und ist von der Großzügigkeit, mit der seine westlichen Freunde sie kassieren, so tief beeindruckt, daß es ihn in Paris am Ende der Unterzeichnungszeremonie noch einmal – protokollwidrig – ans Rednerpult treibt: Er habe beschlossen, daß die Sprengköpfe sämtlicher Raketenwaffen, die auf hier vertretene Länder gerichtet sind, abmontiert werden. Mit dieser Geburtstagsüberraschung hätte er seinen hartgesottenen NATO-Kollegen beinahe noch die Laune verdorben. Die kennen nämlich in der Politik keine Leistung ohne Gegenleistung, müssen also einen besonders perfiden Schachzug argwöhnen, wenn ihr Gegenspieler sie mit einer gar nicht beantragten strategischen Gratisgabe überrumpelt. Andererseits kennen sie auch ihren Mann im Kreml und geben sich angenehm berührt. Die endgültige Entwarnung von russischer Seite läßt auch nicht lange auf sich warten: Es wird nichts auseinandergeschraubt, sondern – wie schon mehrfach vereinbart – die Zielprogrammierung der Sprengköpfe annulliert und ansonsten dem vereinbarten Entwaffnungsplan gefolgt. Jetzt kennt sich die westliche Seite wieder aus: Jelzins nettes Geschenk ist so symbolisch wie die Unterzeichnung der Grundakte, stellt einer klar, der sich in Rußland auskennt, weil er nämlich der Direktor des Nuklearprogramms der Moskauer Filiale der unabhängigen Carnegie-Stiftung ist.

Daß es in der russischen Führung trotz alledem ein gewisses Bewußtsein über den bereits erfolgten Niedergang ihrer eigenen Weltgeltung gibt, hat sie kurz vor ihrer Einladung nach Paris erkennen lassen: Anläßlich eines chinesischen Staatsbesuchs in Moskau wird der gemeinsame chinesisch-russische Wunsch nach einer multipolaren Welt proklamiert. Offenbar stellt sich die bestehende Welt diesen beiden Mächten als ziemlich unipolar dar; und daß große Mächte auch gerne Pole wären, ist verständlich. Deswegen ist es aber auch ausgesprochen peinlich, wenn sie zu verstehen geben, daß sie es gerne wären: Ein Staat ist entweder eine respektierte Weltmacht – oder er wünscht sich nur, eine solche zu sein. Rußland hat sich diesbezüglich fürs erste aufs Wünschen verlegt. Das gibt dem US-Präsidenten Gelegenheit, anläßlich des Kontraktes von Paris die Sache mit den Polen der Welt wie folgt zusammenzufassen: Rußlands Stärke ist nicht mehr die Schwäche der NATO. Recht hat er. Erstens war das ohnehin noch nie der Fall. Und zweitens ist angesichts von Rußlands Schwäche wirklich nicht abzusehen, warum die NATO ihre Stärke nicht ausspielen sollte.