Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Irak zum Fünften
Eine Kommission reist aus und wieder ein – Saddam Hussein spricht von „Sieg“

Alternative Ordnungspolitik der Konkurrenten gegen die von Amerika geltend gemachte Vormachtstellung im Nahen Osten / Irak

Aus der Zeitschrift

Irak zum Fünften
Eine Kommission reist aus und wieder ein – Saddam Hussein spricht von „Sieg“

  1. Alle Anstrengungen des Irak richten sich darauf, in der zivilisierten Staatenwelt, aus der man ihn ausgeschlossen hat, wieder einen halbwegs akzeptablen Stand einnehmen zu können. Er läßt die Sanktionen der UNO über sich ergehen, gibt aber sein Bemühen nicht auf, den inneren staatlichen Zusammenhang inklusive der Gewaltmittel, an die er herankommen kann, aufrechtzuerhalten. Für seinen Wiedereintritt in die Staatenwelt will er einiges von dem vorweisen können, was in der als echtes Argument gilt, das für Anerkennung sorgt. Sozusagen die Prüfungstermine, wieviel Anerkennung, häppchenweise, ihm die Staatenwelt zukommen lassen will, sind die Sitzungen des UN-Sicherheitsrates, in denen über Lockerungen oder schrittweise Aufhebung der Sanktionen beraten wird. Dabei ist den Voten der Veto-Mächte Rußland, Frankreich und China seit einiger Zeit zu entnehmen, daß eine allmähliche „Normalisierung“ des Irak mehr in ihre Kalkulationen paßt als seine ständige Verdammung. Sie verfolgen am Irak ihre eigenen Interessen – das an „lukrativen Geschäften“ ist nur eines und nicht das höchste –, weswegen in ihrem praktischen Umgang mit dem Irak dessen Anstrengungen, sich als Staat intakt zu erhalten, nicht als Verbrechen bezeichnet werden; auch ist ihnen die Person des Saddam Hussein kein Hindernis für die angestrebte Verbesserung der Beziehungen, eher bürgt er in mancher Hinsicht für „Stabilität“ – was nicht zuletzt sein politisches Überleben beweist. Die USA hingegen beharren bei jedem Prüfungstermin auf ihrer seit dem Golfkrieg gültigen Charakterisierung des Irak als absolut verbrecherisches „Regime“, dem eine andere Behandlung als Eindämmung und Bestrafung nicht zusteht. Strikt verweigern sie jede Lockerung und dringen statt dessen auf weitere Verschärfung; so verlangen sie diesmal eine Erweiterung der Überwachungstätigkeit. Der Irak meint, etwas dagegen setzen zu können, und droht mit dem Abbruch der Beziehungen zur UNO-Abrüstungskommission. Diese Drohung halbiert er tags darauf. Nur amerikanische Staatsbürger sollen nicht mehr als Teilnehmer der Waffeninspektionen der UNO ins Land kommen, er sei aber bereit, die Zusammenarbeit mit der UNO fortzusetzen.
    „Mit Bagdad befreundete Länder sollten weiterhin die Möglichkeit haben, eine Aufhebung des gegen den Irak verhängten UNO-Embargos zu erreichen.“ (NZZ 30.10.)

    Bei den amerikanischen Inspektoren handle es sich um Spione, die nicht im Auftrag der UN, sondern der USA unterwegs seien. Vizepremier Asis wirft den USA

    „rücksichtslosen Mißbrauch des Sicherheitsrats und der ganzen UNO für ihre Supermacht-Zwecke“ vor. „Diese bestehen im Urteil Bagdads darin, die Inspektionen der Unscom trotz der schon sechsjährigen Überwachungsarbeit immer weiter auszudehnen, damit eine Aufhebung der Uno-Sanktionen verhindert wird und der Irak unterjocht bleibt.“ (NZZ, 10.10.)
  2. Eine in der Irak-Hetze routinierte Öffentlichkeit wirft ihre übliche Argumentationsmechanik an: Wenn der Irak sich gegen ausgeweitete Inspektionen zur Wehr setzt, dann beweist das nur die Notwendigkeit der Inspektionen, denn der zu Inspizierende hat etwas zu verbergen – der Verdacht beweist sich seine Gewißheit; etwas zu verbergen haben nur Verbrecher, das Verborgene muß von abscheulicher Qualität sein, diese Qualität beweist rückwärts die hochgradige kriminelle Energie: Ein „Massenmörder“ will „Massenvernichtungswaffen“. Mit diesen Waffen bedroht er seine Nachbarn, letztlich die ganze Welt. Wie um einen Einwand auszuräumen, daß es sich dabei immerhin noch um ein staatliches Anliegen handeln und daß in den Waffen ein politisches Kalkül hausen könnte – schließlich hält sich der Irak mit seinem Wunsch nach ABC-Waffen an große Vorbilder –, greift das journalistische Handwerk ins volle Menschenleben: Hussein, in Schande geboren, mit der Prophezeiung der Mutter Ich trage den Teufel im Leibe versehen, brutal auf- und zur Gewalt erzogen – mit dieser Prägung ausgestattet, auch wenn über die Jugend des Diktators verläßliche Angaben fehlen, tut dieser Mensch Böses um des Bösen willen. Die Frage, wie ein einzelner Psychopath sich einen ganzen Staat unterwerfen kann, erfährt eine doppelte Antwort: Erstens erschießt er jeden, der sich ihm in den Weg stellt, zweitens ist er eingebettet in einem sowieso psychopathischen Staat:
    „Seine Skrupellosigkeit erklärt sich auch aus der Struktur des irakischen Staats, in dem nackte Gewalt das einzige Mittel zum politischen Wechsel ist.“ (alles nachzulesen im „Spiegel“ 47/97)

    Wieder einmal erledigen also Journalisten die Fleißaufgabe, die alte Vorgabe einprägsam umzusetzen: Das Handeln des Saddam Hussein ist ausschließlich auf einen verbrecherischen Trieb zurückzuführen, der nur sich selbst betätigen will; diesem Menschen muß noch der geringste Anschein einer politischen Kalkulation abgesprochen werden. Seine nicht schwer nachzuvollziehende Spekulation auf Differenzen im Sicherheitsrat wird nachvollzogen und verstanden; da sie ihm aber nicht zusteht, handelt es sich dabei um eine teuflische Hinterlist, die aus dem Umkreis anständigen politischen Handelns herausfällt. Entmachtet und ohnmächtig, wie er ist, ein Spieler der aus eigener Kraft nicht mehr gewinnen kann, stellt er zugleich eine große Gefahr dar: Was ihm bleibt, sind Versuche, seine Gegner zu schwächen (SZ 31.10). Der Irak steht seit 6 Jahren unter Kontrolle bei ständig ausgeweiteter Überwachung, im Nordteil bekämpfen sich Kurden und Türken, im Süden herrscht ein Flugverbot, Hungersnot und Krankheiten bestimmen den Alltag – das „berechtigt“ ausschließlich zu Unterwerfung pur. Umgekehrt hat jedes Lebenszeichen, das der „Diktator“ von sich gibt, gar nichts mit seiner faktischen Unterwerfung zu tun, sondern ist nur Ausdruck einer ziellosen „Unberechenbar-keit“ – er ist gefährlich, weil ohnmächtig. So schafft es die öffentliche Besprechung immer wieder, mit dem Feindbild jeden Grund für die Feindschaft aus der Welt zu schaffen. Der Irak will böse sein, dagegen muß sich die restliche Welt wehren.

  3. Die Annexion Kuwaits durch den Irak haben die USA nach kurzem Zögern als exemplarischen Angriff auf ihre „neue“ – bzw. nach Ende des Kalten Krieges neu zu bestimmende – Weltordnung definiert. Es genügte ihnen deswegen überhaupt nicht, den „Aggressor“ hinter seine eigenen Grenzen zurückzuwerfen, vielmehr verfolgten sie mit ihrem Krieg darüber hinausgehende strategische, die Welt in ihrem Sinne ordnende Interessen. In der legendären „Golfkriegsallianz“ gelang es ihnen, die arabischen Staaten, insbesondere aber auch ihre imperialistischen „Partner“ auf ihren Standpunkt zu verpflichten: Solche „Herausforderungen“ drittrangiger Mächte müssen umstandslos zurückgewiesen und dürfen nicht aus Konkurrenzinteressen heraus zu „besonderen Beziehungen“ verwendet werden; Amerika bestraft stellvertretend für die „Weltgemeinschaft“, mit der UNO hinter sich, diese „Herausforderung“; und Amerika ist und bleibt unumstößlich erste Ordnungsmacht im Nahen Osten, für sie und nicht nur für sie eine „Region erster Priorität“. Seither fragen sich amerikanische Kommentatoren immer wieder verständnislos und verbittert, warum die damalige „chirurgische“ Kriegsführung nicht gleich bis nach Bagdad vordrang und Saddam Hussein enthauptete, womit doch dem ganzen Spuk ein Ende bereitet worden wäre. Darüber geht ihnen, was aber keine Spezialität amerikanischer Meinungsmacher ist, der Blick für die Leistung der Lage verloren, die die USA dauerhaft in dieser Region etabliert haben. Sie haben den Irak als einen jederzeit und sogar mit steigendem Aufwand zu bekämpfenden Terrorstaat definiert; sie erklären ihn zu der überragenden Bedrohung der gesamten Region; sie machen daraus einen unwidersprechlichen Tatbestand, indem sie mit ihrer Militärmacht vor Ort präsent sind – sie versetzen also den Nahen Osten in einen permanenten Kriegszustand. Sie „verdeutlichen“ diesen Kriegszustand hin und wieder durch Aufdeckung neuer Untaten des Irak, die eine „entschlossene Reaktion erzwingen“ – und diesem Zwang kommen sie nach, indem sie die Kriegsdrohung aktualisieren und verschärfen, indem sie massenhaft zusätzliche Schiffe und Flugzeuge in Marsch setzen. Die Beliebigkeit, mit der die USA eine solche „Eskalation“ herbeiführen und auch die nötige Wucht dahintersetzen können, macht im Nahen Osten und nicht nur dort gehörigen Eindruck. Die USA zwingen allen Staatsinteressen, die sich in dieser Gegend betätigen (wollen), seien es die der Anrainerstaaten oder die ihrer imperialistischen Konkurrenten, einen wesentlichen Inhalt auf: Sie haben sich an dem gemeinsamen Ziel der „Verbrechensbekämpfung“ messen zu lassen, was grundsätzlich einen positiven Bezug auf die amerikanische Vormacht, Anerkennung ihrer Beurteilungskompetenz und -macht, Parteinahme für ihre „Terrorismusbekämpfung“ und den Nachweis der Nützlichkeit eigener Interessen dafür, Verbot der Neutralität und selbstverständlich Verbot der Parteinahme für den Irak beinhaltet. Indem sie den Störenfried Irak bekämpfen, sichern die USA zugleich ihr Monopol darauf, daß jede interessierte Partei sich vor ihrem prüfenden Blick zu rechtfertigen, den Nachweis der Kompatibilität mit amerikanischen Ordnungsvorstellungen zu erbringen hat. Und das läuft in diesem Fall auf ein Verbot normaler Benutzungsverhältnisse und der darin eingeschlossenen Konkurrenz um Einflußnahme hinaus.
  4. Der Versuch, eine alternative Ordnungsmacht aufzubauen, muß sich mit der herzlichsten Feindschaft der USA auseinandersetzen. Das muß keinem der großen Konkurrenten zweimal gesagt werden. Ein unerträglicher Zustand bleibt das aber trotzdem oder erst recht – und alle sinnen auf Wege, wie sie sich zum „Ansprechpartner“ in der Region machen und den USA zugleich die Anerkennung dieses mit ihrem Vormachtinteresse konkurrierenden Standpunktes abringen können. Ihr Einfallstor ist das Interesse der USA, ihren Ordnungsanspruch allgemeinverbindlich zu machen, eben nicht „im Alleingang“, sondern als befugte und beauftrage Macht der „Staatengemeinschaft“ die monopolistische Kontrolle auszuüben. Dieses Interesse variiert immer neu den Gedanken der „Golfkriegsallianz“ und ist in einem widersprüchlichen Angebot an die Konkurrenten verkörpert: Ihr Eigeninteresse an der Region sollen sie gegen den Schein einer anerkannten Mitentscheidung eintauschen. Dieses Angebot kommt den „Partnern“ nicht mit Zwang oder gar Androhung von Gewalt, es setzt ganz im Gegenteil, natürlich im demonstrativen Bewußtsein der eigenen Macht, auf deren freie Entscheidung – die, wenn sie im amerikanischen Sinne „einsichtig“ ausfällt, die Führungsrolle der USA besser als jede Zwangsmaßnahme absichert. Damit haben sich die USA von ihren „Partnern“ nicht abhängig gemacht, ihr Führungsanspruch und auch ihre Überlegenheit sind über deren mit deren „einsichtiger“ Entscheidung in jedem Fall erhaben. Wenn sie aber Wert legen auf diese Methodik der Einbindung, wenn sie meinen, ihre Führungsrolle würde darüber immer kugelsicherer, schließlich unumstößlich, dann können sie die Vorstellungen der „Partner“, wie die die „Gemeinschaft“ interpretieren, deren Beharren auf ihrem Nutzen aus der Einbindung, nicht umstandslos zurückweisen. In den Sitzungen des UN-Sicherheitsrates läuft dieses sehr methodische Ringen seit einigen Jahren so ab, daß die Konkurrenten der USA unter Berufung auf den gemeinschaftlichen Sanktionsbeschluß nach Wegen suchen, einen Fuß in die nahöstliche Tür zu bekommen, wobei sie darauf achten, sich des Irak zu bedienen, ohne sich mit ihm gemein zu machen. Dies interpretieren die USA aber, ebenfalls unter Berufung auf den gemeinschaftlichen Beschluß, sehr schnell als Relativierung der Feindschaft und fordern deren Bekräftigung. Ihren Willen unterstreichen sie auch gleich, indem sie den Übergang zum offenen Krieg vorbereiten. Die „Partner“ sind damit vor die Frage gestellt, ob sie ihren instrumentellen Umgang mit dem Irak zumindest vorläufig wieder aufgeben oder ob sie der von den USA angestrebten kriegerischen „Bereinigung“ der Lage widersprechen. Eine Zwischenlösung ist ihr Veto im Sicherheitsrat, das die Gegensätze in diesem Gremium einerseits weltöffentlich darlegt, andererseits den „Willen zur Gemeinsamkeit“ nicht aufkündigt und den USA die „Suche nach einer Kompromißlösung“ anträgt.
  5. Bislang endete diese „Suche“ immer so, daß die USA nach einigem Hin und Her ihren Willen durchsetzen, mit der Verpflichtung auf den gemeinsamen Feind die Gegensätze zusammenschweißen und den Versuch der Einflußnahme wieder ungeschehen machen konnten. Diesmal verweigern Rußland, Frankreich und China aber ihre Zustimmung zu einer militärischen „Lösung“. Das ist nicht gleichbedeutend mit einer Verhinderung einer solchen „Lösung“, zwingt den USA aber eine Güterabwägung zwischen dem Nutzen eines einseitigen Machtbeweises im Nahen Osten und dem Schaden einer nachhaltigen „Verstimmung“ in New York auf. Die Schwäche, die in ihrem anspruchsvollen Verlangen steckt, bei und mit ihren Gewalttaten zugleich die Unterschrift ihrer Konkurrenten einfordern und die Konkurrenz stornieren zu wollen, drückt sich nun so aus, daß sie zwar einerseits alles für einen militärischen Schlag vorbereiten, andererseits aber zögern, ihn auszuführen – so daß schließlich sogar die kuwaitische Regierung sich traut, von einer gewaltsamen Aktion abzuraten. In dieses Zögern stößt Rußland als Vermittler: Es braucht nicht selbst ordnungsstiftend tätig zu werden, sondern nutzt die von den USA geschaffene „Lage“, die Eindeutigkeit der Kräfteverhältnisse, für seinen Wiedereinstieg in die Region. Ohne sich bei den USA rückzuversichern, aber auch ohne an der Feindschaft gegenüber dem Irak zu rütteln –
    „Außenminister Primakow hat sich gegen einen Rückschlag abgesichert, indem er ‚selbstverständlich‘ die umfassende Durchsetzung der Abrüstungsauflagen im Irak unterstützte“ (NZZ 21.11.) –,

    läßt sich der Russe vom Irak die Zusicherung geben, jegliche Gegnerschaft gegen die UNO-Abrüstungskommission wieder aufzugeben und sich dem erweiterten Überwachungsregime zu unterwerfen, und präsentiert dieses Ergebnis in einer „nächtlichen Sondersitzung“ in Genf. Die USA schicken nicht sofort ihre Flugzeuge los, sondern akzeptieren dieses Nachgeben des Irak – was dort anschließend als Sieg gefeiert wird und nach einhelliger öffentlicher Meinung Rußland viel „Prestige“ und die „Rückkehr auf die Weltbühne“ eingetragen hat. Die Spekulation, ob dem Irak nicht heimlich Bedingungen zugestanden wurden und ob sich Rußland nun wirklich in Zukunft für die Belange „Bagdads“ einsetzen wird, kann man sich schenken. Diese „Vermittlung“ für sich allein definiert die „Lage“ neu: Indem nämlich das Nachgeben des Irak akzeptiert wird, der „Konflikt“ durch Rückkehr zum status quo ante als ausgeräumt gelten soll, wird der Irak – schon in seiner Rolle als Verhandlungspartner Rußlands, abschließend auf der Sondersitzung in Genf – in den Status eines politischen Subjekts erhoben; die amerikanische Definition der „Verbrechensbekämpfung“ steht dazu völlig konträr, kann sich aber nicht als die alleingültige durchsetzen – aufgehoben ist sie deswegen allerdings auch nicht. Die USA tun alles zu verbergen, wie sauer sie sind, weil dies ihrem Eingeständnis gleichkäme, nicht mehr alleiniger Herr der Lage zu sein. Die andere Seite ihrer Politik der Einbindung macht sich ihnen so bemerkbar, daß sie ihrerseits nun an den „gemeinschaftlichen Beschluß“ gebunden sind; unter dem Titel „Verbrechensbekämpfung“ wollten sie dem Irak weiter zusetzen und genau das haben sie bekommen – aber es handelt sich um das Resultat einer Verhandlung, die nicht einmal sie geführt haben. Bei Redaktionsschluß setzen sie ihren Aufmarsch fort.