Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Das ICE-Unglück von Eschede:
Deutschland in Trauer und ein enttäuschter Rechtsanspruch auf Erfolg
Ein ICE verunglückt, 100 Passagiere sterben – ein Anlass für zwei bedenkenswerte öffentliche Ereignisse. Erstens wird aus den Toten unter der Anleitung des Bundespräsidenten eine sich von den kleinlichen Sorgen und Nöten des kapitalistischen Alltags ziemlich hervorhebende deutsche Schicksalsgemeinschaft beschworen – der sittlich so geforderte Mensch ist bestürzt und fühlt mit. Und zweitens kommt auch die sachlich-kritische Aufarbeitung des Unfallhergangs nicht zu kurz, mit der sich überhaupt erst die eigentliche Tragweite des Unglücks erschließt: die Sorge um die internationale Konkurrenzposition unserer bombigen deutschen Bahn AG.
Aus der Zeitschrift
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Das ICE-Unglück von Eschede:
Deutschland in Trauer und ein
enttäuschter Rechtsanspruch auf Erfolg
Ein ICE verunglückt, 100 Passagiere sterben – und mit jedem Bericht über das Ereignis wird das nachrichtenhungrige Publikum als zutiefst betroffene Trauergemeinde angesprochen und in Anspruch genommen. Denn hier ist der Tod alles andere als bloß der private Abschied aus dem Leben, der allenfalls die lieben Nächsten berührt. Dieser Tod ist ein öffentliches Ereignis, das – zwar nicht wirklich, um so mehr aber ideell – den alltäglichen Gang der Dinge unterbricht, alle normalen, erst recht materiellen Sorgen verstummen läßt, die üblicherweise wichtig genommenen Probleme in den Schatten stellt; beispielgebend seufzen Fernseh-Moderatoren unter ihrer schweren Pflicht, vom Anglotzen des Schauplatzes den ‚Übergang‘ zu den trivialen Themen des Standorts – Wahlkampf, Euro, Arbeitslosigkeit… – hinzukriegen. Die Berichterstattung fingiert als ihren Adressaten eine große Gemeinschaft mitfühlender Menschen; Anstand und Moral verbieten es, sich dieser Fiktion zu entziehen. Der informierte Mensch ist bestürzt und fühlt mit.
Und was fühlt er da?
Eins ganz sicher nicht: Trauer über die Verstorbenen – die überfällt ja auch niemanden beim Blick auf die Todesanzeigen im Tagblatt. Verspürt werden – wenn überhaupt etwas, dann – höhere Empfindungen bzw. eine gewisse sittliche Verpflichtung dazu. Deren Inhalt kleidet anläßlich der öffentlichen Trauerfeier für die ICE-Opfer kein geringerer als der Bundespräsident in die folgenden passenden Worte:
„Gerade weil hier ‚nur‘ ein winziges technisches Detail versagt hat, haben wir die Katastrophe von Eschede als ohnmächtige Zeugen eines modernen Alptraums erlebt. Sie hat gezeigt, daß wir dem Schicksal der Sterblichkeit nicht entrinnen können.“
Das sensationelle Massensterben im ICE enthält eine tiefsinnige Botschaft, und die ist der wahre Inhalt der Betroffenheit, zu der die öffentliche Meinung ihr Publikum anleitet und verpflichtet: Letztlich sind „wir alle“ doch eine Gemeinschaft von Würmchen, denen die letzte praktische Abstraktion, der Tod in seiner Unberechenbarkeit, die Eitelkeit ihrer Berechnungen, Bemühungen, Pläne und Interessen beweist. Das hat nicht irgendwer, sondern der Vereinspräsident aller Deutschen herausgefunden; und das gibt der pfäffischen Botschaft ihren besonderen Dreh. Für schlichtweg alle „Sterblichen“ spricht der Mann nämlich nicht; sein „wir“ schließt die 1 Milliarde Chinesen oder die polnischen Nachbarn nicht so ohne weiteres mit ein. Denn das Amt, das ihn zur maßgeblichen Deutung des Unfalls autorisiert, ist ein staatliches; die Sterblichen, deren Betroffenheit er moralisch verbindlich demonstriert und in Worte faßt, sind die Seinen: Es ist die deutsche Nation, die er in seiner Trauerrede ideell um sich versammelt. Der gilt die Botschaft, daß es sich bei ihr, schon wenn ein größerer Unfall an ihrer bürgerlichen Oberfläche kratzt, eigentlich und in Wahrheit um ein ziemlich existentielles „wir“ handelt – um eine Schicksalsgemeinschaft. Und zwar um eine solche von lauter berechnungslos guten Menschen, für die – entgegen allem alltäglichen Augenschein – Geld und Karriere, Konkurrenz und bürgerlicher Erfolg doch nicht der Güter höchste sind. Die Katastrophenhelfer und alle Anwohner, die sich da mal ein paar Stunden lang einfach normal aufgeführt und beim Retten mitgeholfen haben, dienen dieser Predigt von der nationalen Sittlichkeit als Beleg:
„Der Name Eschede steht nicht nur für Schrecken und Tod. Vielmehr steht er für gelebte Mitmenschlichkeit und spontane Solidarität.“
In der Gestalt seines Bundespräsidenten ist das deutsche Volk von sich und seiner Güte ganz ergriffen…
Kein Wunder, daß die übrigen führenden Häupter dieser vortrefflichen Nation sich beeilen, dem Präsidenten bei der Erfüllung dieser süßen Repräsentationspflicht nachzueifern, beizustehen oder besser noch zuvorzukommen. Als erster natürlich der Kanzler: Was für eine Gelegenheit für ihn als amtierenden Wahlkämpfer, ganz und gar unübersehbar die nationale Betroffenheit zu verkörpern und seinem Volk zu dem Geist zu gratulieren, in dem es sich ihm ruhig wieder anvertrauen sollte! Sein Herausforderer, in dessen Bundesland eine glückliche Fügung den Schauplatz des sensationellen Massensterbens verlegt hat, zieht nach und übersetzt Kohl in patriotischen Klartext:
„Die schreckliche Katastrophe hat gezeigt, daß die Deutschen ein Volk sind, das zusammenhält.“
Und der Ministerpräsident, der in Bayern wiedergewählt werden will, weiß auch, was sich gehört. Schließlich waren es seine Landeskinder, die nun tot sind: Öffentlich bringt er sich als Repräsentant der in Trauer geeinten bayrischen Unter-Volksgemeinschaft in Erinnerung und vermeidet jede überflüssige Erinnerung daran, daß ihn dieser würdige Repräsentationsakt selbstverständlich für eine Wiederwahl empfiehlt.
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Über all der solidarisch-schicksalsgemeinschaftlichen Trauerarbeit kommt die sachlich-kritische Aufarbeitung des Unfallhergangs nicht zu kurz. Die wird genausowenig den Experten überlassen wie das Trauern den Freunden der Toten. Dem entsetzten Publikum ist die demokratische Öffentlichkeit bohrende Fragen schuldig, die über alle technischen Details hinaus auf die Ermittlung von Versäumnissen und Schuldigen zielen, keine Ausreden gelten lassen – und auf diese Weise weit mehr leisten als ein bißchen Aufklärung über Probleme der Hochgeschwindigkeitstechnologie und des gepolsterten Radreifens. Sie geben nämlich den Blickwinkel vor, unter dem sich überhaupt erst die eigentliche Tragweite des Unglücks erschließt: Man macht sich Sorgen. Nicht die unpassende planwirtschaftliche, wie die Gesellschaft sich am besten ihren Verkehr einrichtet, sondern lauter teilnahmsvolle um die Konkurrenzposition der nationalen Großunternehmen, deren Gerät da verunfallt ist: Was wird aus der Bahn AG, diesem ökologisch besonders wertvollen nationalen Großunternehmen, und seinem erhofften Erfolgsweg im gnadenlosen Konkurrenzkampf um Passagierkilometer, wenn ihr Nimbus der Unfallfreiheit, ihr wichtigstes Werbeargument, solchen Schaden leidet? Und was wird aus unserer nationalen ICE-Technologie, diesem Renommierstück deutscher Eisenbahn-High-Tech und Exportweltmeisterschaft: Droht deutschen Triebwagenbauern jetzt ein Vertrauensverlust bei ausländischen Kunden, ein Wettbewerbsnachteil gegenüber dem französischen Billig-TGV womöglich? Kostet der „schwarze Tag von Eschede“ am Ende gar – Arbeitsplätze?!
Die Fragestellung ist schon aufschlußreich genug, was das Problembewußtsein der demokratischen Öffentlichkeit am Standort Deutschland betrifft. Noch bemerkenswerter ist freilich das Anspruchsniveau, das dieses Problembewußtsein auszeichnet: Man ist – oder gibt sich – fassungslos, daß „so etwas“ überhaupt passieren konnte; man besteht darauf, haargenau die „Lücke im System“ zu ermitteln, die den Radreifen brechen ließ – und dokumentiert damit einen erschütterten, aber unverwüstlichen „Glauben“ nicht bloß „an die Technik“. Es ist schon unsere deutsche Technik, die eigentlich gar nicht versagt haben kann und auf deren unschlagbarer Überlegenheit die öffentliche Meinung besteht, wenn sie zur „Aufklärung“ nichts geringeres als den stichhaltigen Nachweis fordert, daß die nationalen Reiseveranstalter ab sofort – bei ihrem gebilligten Bemühen, unter Ausreizung des technisch Machbaren mit ihren Zügen in Sachen Hochgeschwindigkeit auch noch Flugzeugen Konkurrenz zu machen – auch noch den letzten Zufall, der dann wirklich nicht mehr eintreten darf, unter Kontrolle haben. Alles Nachfragen und Nachbohren entstammt dem Anspruch und bekräftigt ihn, daß deutsche Weltunternehmen mit allem, was sie technologisch anpacken, unschlagbar Spitze und jeder Konkurrenz überlegen sind. Darauf hat die Nation ein Recht; und dessen Infragestellung durch ein schnödes Unglück läßt sie sich einfach nicht gefallen – weder von der Bahn-AG noch von den ICE-Konstrukteuren. Denen wird entsprechend ‚eingeheizt‘ – im Namen eines Volkes von je für sich schon unübertrefflichen Hochgeschwindigkeitsexperten.
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So bleibt jenseits deutscher Perfektion bloß noch jenes unauslotbare Quantum Schicksal übrig, das selbst uns Deutsche mit unserer Sterblichkeit konfrontiert und unter Anleitung unseres Präsidenten zur gottergebenen Solidargemeinschaft schmiedet, an der die wahlkämpfende Führungsriege ihre helle Freude hat.