Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Land unter am Jangtse
Ein Hochwasser im Systemvergleich
Zwei mal tritt ziemlich viel Wasser über die Ufer und Dämme und hinterlässt massive Schäden an Land und Leuten – ein klarer Fall für die freiheitlich unvoreingenommene Presseberichterstattung. Hochwasserbekämpfung in Ostdeutschland an der Oder – eine öffentlich inszenierte Orgie des nationalen Zusammenhalts, der seines Gleichen sucht. Hochwasserbekämpfung am Jangtse in China – von vorne bis hinten ein Offenbarungseid des fehlerhaften Systems dort.
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Land unter am Jangtse
Ein Hochwasser im
Systemvergleich
Der wuchtigen Symbolik nationaler Solidarität, die der
„Oderbruch“ inzwischen im Bewußtsein der Nation markiert,
wird vom Kanzler ein Jahr nach der schlimmsten
Naturkatastrophe unseres Vaterlandes
(FAZ 27.7.98) direkt am Brennpunkt des
Geschehens gedacht.
Die anwesende Presseöffentlichkeit verweist bei der
Gelegenheit stolz auf ein Land, in dem die materiellen
Schäden der im dortigen Bruch angesiedelten Bevölkerung
der Wachstumsgröße des Bruttosozialprodukts nichts
anhaben können. Vernachlässigenswerter Ruin von Haus und
Hof wird durch Streitereien zwischen Versicherungen,
Hauseigentümern und Gerichten rechtsstaatlich abgewickelt
und trägt zur Wahrung der öffentlichen Ordnung bei: So
wurde den Geschädigten kontinuierlich … bewußtgemacht,
daß völliger Ausgleich ihres Verlustes nicht
zustandekommen konnte
(NZZ
7.8.98).
Daneben wird auf einen gewissen Beitrag zum
Aufbauprogramm Ost durch den Zuwachs von Arbeitsplätzen
im Dienstleistungsbereich verwiesen, der durch seine
gelungene Mischung von gelebtem Geschichtsbewußtsein und
praktischer Aufbauleistung ein wenig stolz machen soll:
Immer wieder kommen Touristen, die sehen wollen, wie
hoch das Wasser damals gestiegen war und wo es beinahe
zum Deichbruch gekommen war…Sie kaufen Videos, Bildbände,
Gedenkmünzen und bei der Abwehr gegen die Flut benutze
Sandsäcke
(NZZ ebd.).
Aufkommender Kleinmut angesichts der vorhandenen Schäden
und der Furcht vor dem neuen Hochwasser
(NZZ ebd.) wird von der
Presse mit Unverständnis quittiert: Manche Menschen
tragen ihr Unglück wie eine Fahne vor sich her
(NZZ ebd.). Daß es sich dabei
ursprünglich um eine Flutwelle gehandelt hat, die mit
geballtem Einsatz von Polizei, Bundeswehr und sonstiger
Ordnungskräfte größeren Schaden verhindert und großen
Schaden hinterlassen hat, ist heute etwas in den
Hintergrund getreten. Der Kampf gegen die Naturgewalt
spricht von höherer Symbolik: Wir Deutsche stehen
zusammen, wenn es darauf ankommt
(Kohl, FAZ 27.7.98), verkündet der
oberste Dammwächter den zerstörerischen Flutwellen einer
„Null-Bock-Generation“, denen er die guten deutschen
Tugenden von Pflichterfüllung, Dankbarkeit und Opfersinn
vom Jahr zuvor dringend anempfiehlt. Mit denen wurde
schließlich das Wasser geschlagen. Von wegen
Evakuierungsmaßnahmen und Sandsäcke schleppen, Häuser und
Anbauflächen kaputt: Dammbruch, Überschwemmung und
Aufräumarbeiten sind Sinnbild für die praktisch
gelebte Solidarität
einer ganzen Nation, die wie eine
Eins zusammensteht, gerade wenn dabei manches kaputtgeht
und auch wenn dabei manches kaputt bleibt.
Den Heroen gegen die Flut, der Armee, diesem
Friedensdienst im besten Sinne des Wortes
(FAZ ebd.) wird eine
Gedenktafel in Stein gemeißelt. Jeder darf sich nun daran
erinnern, daß die eigentliche Zweckbestimmung der
Bundeswehr im Retten von Witwen und Waisen besteht.
Der historische Tag wird genutzt, um im nationalen
Gesinnungshaushalt die Pflege der Werte auszuloben, mit
denen Hochwasser und überhaupt alles, was sich die Nation
zur Aufgabe setzt, so gut zu bekämpfen ist: Nationale
Solidarität von Armee und Volk, Ost und West, Arm und
Reich sei an der Oder manifest geworden – und wieder
einmal wächst die Nation zusammen, wenigstens im
moralischen Postulat des Staatslenkers, nach dem sich
eine Nation durch ihr innerstes Gefühl der
Zusammengehörigkeit auszeichnen soll und muß. So
innerlich gestärkt und erneuert
sieht der Kanzler
seine Nation aus den Fluten hervorsteigen, daß auch die
Natur endlich ihre Einsicht hat: Ein zurückgekehrtes
Storchenpaar überflog die Festversammlung
(FAZ 27.7.98).
*
Wo an der Oder den Flutexperten öffentlicher Berichterstattung standortsicher das Lob des hiesigen nationalen Zusammenhalts aus der Feder fließt, stört dieselben Leute beim Blick auf die Flutwelle des Jangtse etwas grundsätzlich an der Art des chinesischen Notprogramms. Man gibt sich da ganz skeptisch:
Je länger die Flut anhält und je katastrophalere Folgen
für Land und Leute absehbar sind, desto eindeutiger
werden die Hinweise auf die menschenrechtliche
Fragwürdigkeit chinesischer Notstandsprogramme. In der
Stunde einer nationalen Naturkatastrophe ist nichts
mehr zu spüren von vermeintlicher Offenheit und
Diskussionsbereitschaft in Peking, die Kommentatoren noch
während des Clinton-Besuchs vor einem Monat ausgemacht
hatten.
(Spiegel 10.8.)
Das offene Diskussionsklima, das in Hamburgs
Redaktionsstuben vorherrscht, ist auf den Dämmen des
Jangtse einfach nicht zu entdecken, und schon weiß man
Bescheid. Womöglich ist nach Clintons Besuch an diesem
Staat ein zu guter Ruf hängen geblieben, so daß dessen
wahres Gesicht mal wieder deutlich gemacht werden muß.
Keine Freiheit der Information
herrscht auf den
Sandsäcken; wenn mit Hubschraubern Besichtigungsrunden
angeboten werden, dann können sich westliche Journalisten
unten im Katastrophengebiet nicht frei bewegen
und
von oben zeigt man ihnen nur, was man zeigen will. Aus
der Flut und ihrer Bewältigung grinst also wieder die
häßliche Fratze des Kommunismus und die düstere
Zukunft Chinas
(HB
10.8.98).
Wo sich inzwischen die sechste Flutwelle auf den
Nordosten Chinas zubewegt und die dortigen Ölfelder
bedroht
(Welt 14.8.98),
verfestigt sich hierzulande der Verdacht, daß es sich
einfach um systembedingte Ursachen
(HB 11.8.) handeln muß. Die Chinesen
werden der Fluten nämlich nicht Herr. Daß sich China
abmüht, eine Überschwemmungskatastrophe und ihre Folgen
unter Einsatz aller zur Verfügung stehenden Mittel zu
bekämpfen, stellt demgemäß klar, daß sich China in einem
Zustand der selbstverschuldeten Hilflosigkeit befindet.
Der zeichnet dieses System überhaupt aus. Denn die
Schäden, die der Jangtse anrichtet, verweisen darauf, daß
die gesamte Ökonomie Chinas ein einziger Fehler sein muß
– ein Fluß, der über seine Ufer tritt, ist eine
Grundsatzkritik der politischen Ökonomie des Landes, das
solche Ufer hat:
„An der Misere ist natürlich nicht der Jangtse schuld, selbst wenn die Schäden für Industrie und Landwirtschaft dort am Ende zweistellige Milliarden-Mark-Beträge erreichen sollten. Der unkontrollierbare Strom zeigt aber die Hilflosigkeit und läßt ahnen, wie hoch das Wasser für die Gesamtökonomie schon steht.“ (SZ 12.8.98)
Der Schaden, den die Flutwellen anrichten, ist nicht nur
Symptom, sondern eindeutig auch systemimmanent und
herbeiregiert. Staudämme und Bewässerungssysteme
figurieren als Monumente der Gigantomanie
(NZZ 5.8.98), und aus
der resultieren dann ganz zwangsläufig
Dammbrüche, Überschwemmungen und Landschaftszerstörungen.
Einwände in den Wissenschaftsbeilagen derselben Blätter,
die Nutzen und Zweck der Dämme eher in Flutregulierung
und Energiegewinnung entdecken wollen, irritieren da
kaum. Kommunistische Staudämme führen da so ihr eigenes
politisches Leben.
Und wer es immer noch nicht kapiert, dem darf es der
Spiegel vorbuchstabieren: Planungsfehler der
Kommunisten
macht das Hamburger Intellektuellenblatt
aus, die vor allem darin bestehen, nicht mit
Wettervorhersagen zurechtzukommen – katastrophale
Wetterprognostik
–, zu spät
und zu
hilflos
Reaktionen zu bewerkstelligen
. Was
Planwirtschaften eben so auszeichnet. Fazit: Chinesische
Planwirtschaft kann Naturkatastrophen letztlich nicht
verhindern.
Chinesische Planwirtschaft kann Naturkatastrophen daher
vor allem auch nicht bekämpfen. Sie fällt dabei doch bloß
auf Methoden zurück, die an die finsteren Zeiten des
Stalinismus erinnern. Evakuiert wird, was das Zeug hält,
– also werden Leute vom Land vertrieben
.
Notwendige Evakuierungen werden einmal unterlassen –
entgegen früherer Meldungen wurden nur 110.000 statt
513.000 Personen aus der Region Gongan in Sicherheit
gebracht
(FAZ 11.8.98) –,
ein anderes Mal werden sie ohne ersichtlichen Grund
einfach durchgeführt – auf Anweisung des örtlichen
Parteikomitees wurden über hunderttausend Einwohner ohne
ersichtlichen Grund aus Gongan evakuiert
(SZ 12.8.98). Hier werden also offenbar
nicht Leute in Sicherheit gebracht, sondern eine
fehlgeleitete Planbürokratie tobt sich auf dem Rücken der
Bevölkerung aus.
Gerade dort, wo der chinesische Staat alle Mittel
aufwendet, seiner Flut Herr zu werden, weiß man
hierzulande, daß es den Machthabern dort letztlich nicht
um Flutbekämpfung, sondern um lupenreine staatliche
Propagandaaktionen geht. Um schlechte, versteht sich. So
stellt sich der Einsatz der Armee am Jangtse als
inszeniertes Heldenepos dar, um den Enthusiasmus der
betroffenen Menschen zu stärken. Nächtliche
Fernsehsendungen zeigen Bilder von schlecht bezahlten
Soldaten der Volksbefreiungsarmee, Polizisten und
freiwillige Helfer, die bis zur Hälfte im Wasser stehen
und Baumstämme sowie Sandsäcke gegen die Fluten aufbauen.
Banner an den Ufern des Yangzi versprechen den Kampf bis
zuletzt gegen die Fluten. Offizielle im weißen Hemd
kommen zur symbolischen Stippvisite in die
Katastrophengebiete
(HB
28.7.98). Während Rühes Auftritt an der Oder im
Parka und Gummistiefeln eindeutig Einheit von Volk und
Armee demonstriert, sind Chinas Bemühungen auf diesem
Feld vaterländischer Selbstdarstellung sowieso sinnlos.
Da können die sich abmühen, wie sie wollen: Da in China
Volk und Führung längst gespalten sind, gelingt es der
dortigen Führungsmannschaft doch nicht, durch
theatralische Inszenierungen den Schein nationaler
Solidarität beim Dämmestopfen zu wahren. In China beweist
auch die Naturkatastrophe nur den grundsätzlichen
Vertrauensverlust zwischen Volk und Führung.
Wenn wundert’s, daß die chinesische Regierung das dann auch nicht zugeben will:
„Wie schon in früheren Krisen fiel die Regierung bei der Bewältigung der Flutkatastrophe in die Gewohnheit des Vertuschens, Verleugnens und Verherrlichens zurück.“ (Spiegel ebd.)
Mal davon abgesehen, daß es etwas schwierig ist, eine
Katastrophe, die dem Vernehmen nach über 250 Millionen
Leute betrifft, zu vertuschen, denken der Spiegel und
seinesgleichen vor allem an die schlechte
Informationspolitik
der chinesischen Seite. Der
Spiegel, der seine Informationen täglich von
offizieller chinesischer Seite
aus Internet,
Fernsehen und Zeitung erhält, bestens weiß, wo zum Kampf
gegen die Wasserflut aufgerufen und vor Krankheitsherden
gewarnt wird, wo 100.000 Sanitäter und etwa 1.000.000
Soldaten auf die Hochwassergebiete verteilt werden und
welche Mittel gegen das Wasser in Anschlag gebracht
werden, erklärt sich selbst zu einem Opfer einer einzigen
Desinformationskampagne. Und wie sehr das Recht auf
Information in China mit Füßen getreten wird, zeigt man
dann gerne an den Opfern, die die Flut fordert. Weil
deren Anzahl gar nicht groß genug sein kann, wird jede
offizielle Angabe bezweifelt, Verleugnen
und
Vertuschen
sind ja systemimmanent:
„Man weiß, daß es die chinesischen Kommunisten mit der Wahrheit nicht genau nehmen, gleich, ob es um Wirtschaftsstatistiken geht oder die Zahl der Aidskranken, ob um die Temperaturangaben beim Wetterbericht oder die Geburtenzahlen… Durch derlei Lügen, Teil des Erbes der kommunistischen Propagandatradition, bringt sich China um die Glaubwürdigkeit und fördert das Aufkommen von Gerüchten.“ (FAZ 12.8.98)
Das fehlt nämlich nach Auffassung der westlichen Presse vor allem beim Eindämmen der Flut: Freier Journalismus, der am Damm jede Wasserleiche als Symbol für den Vertrauensverlust der Regierung abfilmt – je mehr davon, desto besser. Wo dieses Bedürfnis nicht bedient wird, wundert es eben keinen, wenn das Recht auf Information sich seine Gerüchte eben selbst machen muß:
„Westliche Nachrichtenagenturen wollen von chinesischen Kollegen erfahren haben, daß es viele Vermißte gebe und daß nahe bei Jiujiang im Fluß viele Leichname zu sehen seien…“ (FAZ 12.8.98)
Nix wie hin und Kamera drauf für das Recht auf Information, und wenn gerade kein Schlauchboot frei ist, weiß man wieder Bescheid und vermeldet den nächsten erfolgreichen Anschlag auf die Freiheit der demokratischen Berichterstattung.
*
So reden sie sich und ihrem Publikum durch jeden neuen
Dammbruch mit seinen dazugehörigen Toten ein, daß der
Schaden Chinas ziemlich grundsätzlich zu bilanzieren ist,
denn im Reich der Mitte schwindet das Vertrauen in die
Fähigkeit der Herrschenden, in den Städten wie bei den
Bauern
(Spiegel). Und
wenn dann die Flut dort drüben auch mit ähnlichen
Feierstunden zu Ende gehen sollte wie an der Oder und
auch die chinesische Nation selbstbewußt ihre Opferbilanz
zur Darstellung nationaler Größe nutzt? Dann weiß gut
informierte Öffentlichkeit natürlich sofort, wie verlogen
und inszeniert auch das ist.