Heinz Dieterichs „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ (1)
Ein soziologisch-geschichtsphilosophischer Neuaufguss der Utopie einer gerechteren Welt
Heinz Dieterich gilt als Chefideologie der linken südamerikanischen Bewegungen. Mit seinem Programm eines ""Sozialismus des 21. Jahrhunderts"" nimmt er die Rolle eines Beraters lateinamerikanischer Linksregierungen wahr und findet als Theoretiker des dortigen ""Linksrucks"" Anklang unter hiesigen Linken.
Dabei erschöpft sich das, was Dieterich unter dem Schlagwort ""Sozialismus des 21. Jahrhunderts"" an Kritik und Argumenten ausbreitet, im Grunde in einem einzigen falschen, aber unter kritischen Menschen enorm verbreiteten Gedanken: Die kapitalistischen Zustände in der Welt sind ungerecht; das dürfte und müsste nicht so sein, wenn man sie nur gerechter einrichten würde. Und dieser Fortschritt ist – so versichert Dieterich unentwegt – auch machbar, im Kapitalismus angelegt und längst auf dem Vormarsch: Gerechtigkeit siegt. Aus diesem hoffnungsvollen Standpunkt verfertigt er eine falsche Kritik des Kapitalismus und des realen Sozialismus – sowie ein widersprüchliches Konstrukt einer neuen, besseren Welt.
Aus der Zeitschrift
Teilen
Systematischer Katalog
Gliederung
- Der Blick des Weltverbesserers auf den Lauf der Welt: „Die da oben – lauter Lumpen!“
- Der Kapitalismus: ein denaturiertes System ungerechter Bereicherung
- Der bürgerliche Staat: eine Perversion von Volksherrschaft
- Der „historische Sozialismus“: auch nicht gerecht
- Die neue politische Ökonomie: Gerechtigkeit als Produktionsweise
- Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts auf dem Vormarsch: Weltverbesserungsidealismus – eine realistische Perspektive für alle fortschrittlichen Menschen
Heinz Dieterichs „Sozialismus des
21. Jahrhunderts“ (1)
Ein
soziologisch-geschichtsphilosophischer Neuaufguss der
Utopie einer gerechteren Welt
Heinz Dieterich, emeritierter Professor an der Universität von Mexiko-Stadt,
„hat weder Familie noch Heimat, aber ein Ziel: die Revolution. Leuten wie Chavez und Castro liefert er die Theorie. Der deutsche Soziologe ist der Chefideologe der linken südamerikanischen Bewegungen. In Lateinamerika ist er ein Star, in seiner Heimat kennen ihn nur wenige. Mit Hugo Chavez hat er bis morgens um drei diskutiert. Er kennt den bolivianischen Präsidenten, Evo Morales und Rafael Correa, den Präsidenten Ecuadors so gut, dass sie ihn um Analysen bitten. Sie alle berufen sich auf seine Theorie des Sozialismus des 21. Jahrhunderts.“ (Die Zeit, 1.10.2008)
Ein Soziologe also, der sich nicht mit empirischer Sozialforschung über ‚Armut‘, mit Theorien über die ‚Arbeitsgesellschaft‘, der ‚die Arbeit ausgeht‘, oder andere ‚Risiken der Moderne‘ nützlich machen will, sondern ganz anders: mit dem Modell einer besseren, sozialistischen Welt. Mit seinem Programm eines „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ nimmt er die Rolle eines Beraters lateinamerikanischer Linksregierungen und -bewegungen wahr und findet als Theoretiker der dortigen Bemühungen um bessere Verhältnisse auch Anklang unter hiesigen Linken.
Dabei halten sich die theoretischen Auskünfte Dieterichs allerdings in Grenzen. Was er unter dem Schlagwort „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ an Kritik und Argumenten ausbreitet, erschöpft sich im Grunde in einem einzigen falschen, aber unter kritischen Menschen enorm verbreiteten Standpunkt: Die kapitalistischen Zustände in der Welt sind ungerecht; das dürfte und müsste nicht so sein, wenn man sie nur gerechter einrichten würde. Aus diesem Stoßseufzer aufgebrachter Gemüter verfertigt er eine Kritik des Kapitalismus und ein Modell einer besseren Welt.
Der Blick des Weltverbesserers auf den Lauf der Welt: „Die da oben – lauter Lumpen!“
Der Mann kennt das Elend, das die kapitalistische Weltordnung ihren Opfern beschert. Und er hat eine Erklärung dafür. Die erklärt allerdings, genau genommen, nicht die wüsten Sitten, die die Welt beherrschen: Dieterich räsoniert über deren nicht gelungene Beseitigung:
„Die menschliche Gattung hat die beiden großen Wege der Evolution durchschritten: den industriellen Kapitalismus und den historischen (realexistierenden) Sozialismus. Keinem von beiden ist es gelungen, die drängenden Probleme der Menschheit wie Armut, Hunger, Ausbeutung, Unterdrückung ökonomischer, sexistischer und rassistischer Natur, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen und das Fehlen einer real teilhabenden Demokratie zu lösen.“ (Heinz Dieterich: Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts, Wirtschaft, Gesellschaft und Demokratie nach dem globalen Kapitalismus, Berlin 2006, 1. Aufl., S. 15)[1]
Dieterich denkt Armut, Unterdrückung etc. als Probleme, die es einfach gibt, irgendwie, als Menschheitsschicksal; und die politökonomischen Systeme, die das 20. Jahrhundert beherrscht haben, betrachtet er nicht als Produktionsweisen, die solche Verhältnisse produzieren, sondern als fehlgeschlagene Versuche, ihnen beizukommen. Er redet von „Ausbeutung“ und „Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen“ und zieht von vornherein den „industriellen Kapitalismus“ – so wenig wie den „historischen Sozialismus“ – überhaupt nicht als Verursacher derartiger „Probleme“ in Betracht, sondern verbucht ihn als deren nicht gelungene Lösung. Sind denn die Verhältnisse, die da so vornehm als „drängende Probleme“ angesprochen werden, vom Himmel gefallen?
Nein, sind sie nicht, und natürlich sieht auch Dieterich das nicht so. Er kennt die Ursache der inkriminierten Verhältnisse:
„Die Menschheit ist in die Hände krimineller Eliten gefallen, die sich aus einigen Zehntausenden Bankiers, Industriellen, Berufspolitikern, Generälen und Berufspropagandisten zusammensetzt, welche die Ressourcen des Planeten und Früchte unserer Arbeit für sich nutzen. Sie monopolisieren die Vorteile aus Energie, Technologie, Wissenschaft, Nahrungsmitteln, Erziehung und Gesundheit und lassen die Mehrheit in Elend und Schutzlosigkeit vegetieren.“ (S. 127)
Dieterich kennt Schuldige, und damit sind die
Elemente seiner kritischen Weltsicht beisammen. Der Mann
sieht das Elend auf der Welt; er ist – wie jeder
anständige Mensch, der die verheerenden Zustände nicht
einfach gottergeben oder zynisch als gegeben hinnimmt –
dagegen; er will wissen, wie Abhilfe zu schaffen ist und
warum die auf sich warten lässt. Und an der Stelle fängt
ein Denkfehler an, der deswegen so fatal ist, weil er von
so vielen Leuten geteilt wird, die sich mit der gegebenen
Weltlage nicht abfinden mögen. Schon die Kennzeichnung
der herrschenden Zustände als Probleme der
Menschheit
führt in die Irre: Ganz offenkundig
zerfällt diese Menschheit in sehr verschiedene
Abteilungen, die mit dem Elend auf der Welt ganz
unterschiedliche Probleme und zum Teil auch gar kein
größeres Problem haben. Die „Menschheit“, die
Dieterich als betroffenes Subjekt in Anschlag bringt,
gibt es nicht – außer in einem ganz ideellen Sinn: Sie
ist die Chiffre für die Allgemeingültigkeit, die
Dieterich seinem Wunsch nach Abschaffung von
Armut, Unterdrückung etc. beilegt. Natürlich wird er
niemanden treffen, der sich begeistert für
Hunger und Elend ausspricht; die „Eliten“ an erster
Stelle werden ihm geschlossen bestätigen, dass das alles
für sie auch furchtbar problematisch ist. Umso mehr wäre
deswegen aber der Schluss fällig, dass dieser allseits
bekundete gute Wille keine reale Größe ist,
schon gar nicht die herrschende gesellschaftliche
Zwecksetzung, nach der der Lauf der Welt sich richtet.
Den Schluss zieht Dieterich auch – und er verweigert ihn
zugleich, wenn er, als wäre das die Erklärung, auf den
bösen Willen der oberen Zehntausend deutet.
Damit hält er nämlich nur, jetzt dezidiert gegen
die tatsächlich herrschenden Verhältnisse, seinen
Standpunkt hoch, dass der Wille zur Weltverbesserung
eigentlich doch der maßgebliche Zweck ist, dem
alle Welt folgen sollte. Darauf besteht er so
konsequent, dass er sogar die politökonomischen Systeme,
nach deren Gesetzen die Welt des 20. Jahrhunderts
eingerichtet worden ist, als große Wege der
Evolution
würdigt, auf denen die Menschheit
versucht hätte, ihrer irgendwie doch naturwüchsigen
Drangsale Herr zu werden: Er lässt den Gedanken einfach
nicht an sich heran, dass die politökonomische Logik
eines Systems wie des industriellen Kapitalismus
,
wenn auf diesem „Weg“ Verelendung und Unterdrückung um
sich greifen, offenkundig ganz anderen, übrigens viel
handfesteren Zwecken folgt als ausgerechnet dem Ziel, mit
Ausbeutung und Zerstörung der natürlichen
Lebensgrundlagen fertig zu werden. Er will nichts davon
wissen, dass der Grund solcher „Probleme“ in den da zu
sachzwanghafter Herrschaft gebrachten Zwecksetzungen
liegt und dort ermittelt werden muss, wenn man es mit
deren Beseitigung ernst meint. Stattdessen trifft er eine
äußerst unsachgemäße Unterscheidung zwischen den
geheimnisvollen „Wegen der Evolution“ der Menschheit, die
er als Großversuche zur Weltverbesserung im Prinzip auf
seiner Seite weiß, und der tatsächlich herrschenden
Elite, die er mit dem Vorwurf des kriminellen Missbrauchs
aller Errungenschaften des menschlichen Fortschritts ins
Abseits stellt. Dabei hält er nicht einmal für
erklärenswert, wie die Menschheit es auf ihrem
vielversprechenden Entwicklungsweg geschafft hat, diesen
Kriminellen in die Hände zu fallen. Mit der ideellen
Roten Karte, die Dieterich den wirklich Mächtigen dieser
Welt zeigt, ist der Lauf der Welt fertig erklärt: Lauter
Lumpen „da oben“ vergreifen sich am Bemühen der
Weltgeschichte um Beseitigung all der grauenhaften
Verhältnisse, die es nun mal gibt.
Um es noch mal ganz kurz zu sagen: Wenn man sich an den verheerenden Wirkungen der weltweiten Marktwirtschaft stört, dann muss man sich entscheiden. Entweder man nimmt den eigenen Abscheu ernst und geht den abscheulichen Verhältnissen auf den Grund, um da den einzig wirksamen Hebel zur Abschaffung dieser Verhältnisse anzusetzen. Oder man macht den Wunsch nach einer besseren Welt zum Vater aller kritischen Gedanken, malt sich eine Alternative aus und macht den wirklichen Machthabern den Vorwurf der Amtspflichtverletzung, weil sie sich der Verwirklichung dieser Alternative widersetzen statt so alle Probleme der Menschheit zu lösen.
Dieterich hat sich entschieden. Von den Gründen
der beklagten Verhältnisse, also – was dasselbe ist – von
den Leistungen der herrschenden Geschäftsordnung
dieser Welt will er nichts wissen. Bei der Begutachtung
der großen Wege der Evolution
befasst er sich
weder mit der zur gesellschaftlichen Realität geronnenen
Zielsetzung der politischen Ökonomie des
industriellen Kapitalismus
oder des
historischen Sozialismus
noch mit der
Notwendigkeit der schädlichen Konsequenzen für
die große Mehrheit. In seinem Drang, die Welt zu
verbessern, geht er davon aus, dass deren herrschende
Ordnung im Prinzip dasselbe Anliegen haben müsste wie er
und alle guten Menschen: die Welt besser zu machen. An
diese wohlmeinende Unterstellung schließt er die
verkehrte Frage an, warum die herrschende Ordnung das
nicht schafft, was er von ihr erwartet. Die Antwort,
die er findet, fällt entsprechend aus.
Der Kapitalismus: ein denaturiertes System ungerechter Bereicherung
Dieterichs Standpunkt, wonach die Verfassung der Welt eine Frage des guten Willens zu ihrer Verbesserung ist, gibt schon vor, wo er bei der Suche nach dem Grund unterbliebener Weltverbesserung fündig wird: Die Herrschenden sind bösen Willens; sie haben sich alle Errungenschaften der menschlichen „Evolution“ angeeignet, die eigentlich für die Lösung der Menschheitsprobleme gut und dafür da wären, und missbrauchen sie für ihren Egoismus. Dieterich erläutert diesen Gedanken an der politischen Ökonomie des Kapitalismus:
„Preise sind, im Gegensatz zum Wert, subjektive Größen, die heutzutage wenig mit Werten zu tun haben. Der Preis in der Marktwirtschaft ist das, was der Revolver beim Banküberfall ist. Wer in der Bank den Revolver hat, bekommt den (monetären) Reichtum; wer in der Marktwirtschaft die Preise bestimmen kann, bemächtigt sich des gesellschaftlichen Mehrprodukts. Preise sind nichts anderes als legalisierte Expropriationsmechanismen des gesellschaftlichen Reichtums in der Chrematistik. Sie sind in der Tat der entscheidende Bereicherungsmechanismus der ökonomischen Elite, und als solche haben sie soviel mit Gerechtigkeit und Konsens zu tun, wie Adolf Hitler mit der Demokratie.“ (S. 158f)
So viel ist also auch für den Theoretiker der
Weltverbesserung klar, dass die Macht der Bösen über die
Welt auf gesellschaftlichen Mechanismen
beruht,
auf festen Einrichtungen der gesellschaftlichen
Arbeitsteilung und der gesellschaftlichen Gewalt. Für die
interessiert er sich aber ausschließlich unter dem
vorgefassten Gesichtspunkt, dass die Herrschenden sie als
Waffe für sich zweckentfremden. Seine gesamte
Unterscheidung zwischen ‚Wert‘ und ‚Preis‘ hat allein
diesen Inhalt: Die Kategorie ‚Wert‘ fällt unter die
Rubrik der evolutionären Errungenschaften und
geht voll in Ordnung; die Machthaber bösen Willens
verfälschen das gute Ding zu ‚Preisen‘ und beuten damit
die Menschheit aus. Ausschließlich in dem einen Sinn geht
Dieterich dem in der Marktwirtschaft herrschenden
Preissystem auf den Grund: Es ist nicht gerecht
– damit ist alles gesagt.
Oder fast alles. Dieterich will nämlich als Wissenschaftler ernst genommen werden und verleiht seinem kritischen Moralismus die höheren Weihen einer Theorie, indem er sich auf Marx bezieht, gelehrte Ausdrücke wie „Chrematistik“ benutzt, seine Idee der Ungerechtigkeit der herrschenden Verhältnisse weitschweifig ausarbeitet und von da her zu so interessanten Einsichten gelangt wie der:
„Das Problem der ungerechten Ökonomie kommt nicht vom Geld.“ (Interview mit Dieterich, rebelión, 2.1.07)
Wäre das Ganze ein ernst gemeinter Erklärungsversuch,
dann könnte man ihm entgegenhalten, wie in der
Marktwirtschaft Wert und Preis tatsächlich
zusammenhängen; dass im Geld der Wert als
verselbständigtes Maß der privaten Verfügung über
Reichtum und dass er überhaupt nicht anders existiert;
dass die Aneignung und Vermehrung von Geld in Privathand
daher der herrschende Zweck einer ‚Geldwirtschaft‘ ist;
dass Verfügung über Geld in ausreichender Menge die
ökonomische Macht verleiht, über fremde Arbeit als Mittel
der eigenen Geldvermehrung zu gebieten; dass Ausbeutung
also nicht über ungerechten Warentausch passiert, sondern
in der Produktion; dass der Lohn den Wert der Arbeit für
einen Arbeitgeber bemisst; und dergleichen mehr. Solche
Erinnerungen treffen aber auf eine Theorie, die von
Anfang bis Ende nur den einen Gedanken der
Ungerechtigkeit transportiert. Und so gesehen
hat der Mann irgendwie Recht: Man kann dem Geld, um
dessen Vermehrung es im Kapitalismus geht, weil es
private Verfügung über Reichtum verkörpert, viel
nachsagen – für seine Vermehrung ist Unternehmern kein
Lohn zu niedrig, keine gewinnbringende Schinderei lang
genug, umgekehrt jede Einsparung an bezahlten
Arbeitskräften im Dienste der Lohnkostensenkung recht.
Dass aber das System kapitalistischer Geldvermehrung
Dieterich als ungerechtes
Verteilungssystem
vorkommt, das „kommt“ wirklich nicht vom Geld. Das kommt
von seiner Vorstellung, die kapitalistischen
Gesetzmäßigkeiten der Profitproduktion, die ökonomische
Macht des Privateigentums, kurz: der Kapitalismus wäre
ein einziger Verstoß gegen die Gerechtigkeit einer
ordentlichen Geldproduktion, eine chrematistische
Denaturierung
eben.
Beim Blick auf den Weltmarkt verschwindet der Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital gleich ganz; da erschließt sich Dieterich ganz zwanglos eine ungerechtfertigte Aneignung etwas anderer Art. Da sind es nicht mehr die kapitalistischen Agenten, da sind es nationale Kollektive, Kapital und Lohnarbeiter der Metropolen gleichermaßen, die sich zu Lasten anderer Nationen aneignen, was ihnen eigentlich nicht zusteht:
„Die europäischen Industriestaaten sind nur Treuhänder der von allen Völkern der Erde unter unendlichen Opfern erkauften Industrialisierung, und sie betrügen durch den nicht-äquivalenten Austausch die außereuropäischen Völker täglich um den ihnen geschichtlich zustehenden Anteil an dem hieraus erwachsenden Reichtum.“ (S. 102)
Kurz – der ganze Kapitalismus ist die Entartung einer eigentlich gebotenen und im ‚Wert‘ objektivierten Verteilungsgerechtigkeit.
Der bürgerliche Staat: eine Perversion von Volksherrschaft
Für diese Entartung einer vorgestellten guten Geldwirtschaft zur Räuberei kennt Dieterich auch einen Schuldigen: Die falschen Nutznießer werden politisch nicht an ihrem Wirken gehindert, sondern mit ihrem Unrecht ins Recht gesetzt:
„Die formal-repräsentative Demokratie legalisiert die Expropriationsmechanismen des gesellschaftlichen Reichtums in der Chrematistik.“ (S. 46)
Denn auch bei der Herrschaft geht es nicht mit rechten Dingen zu: Die Demokratie ist nicht das, was sie eigentlich ihrem Wesen nach sein sollte, eine gerechte Herrschaft nämlich, sondern ebenfalls eine Entartung:
„Die Abgeordneten der bürgerlichen Demokratie repräsentieren nicht diejenigen, von denen sie ihr Mandat bekommen, sondern substituieren sie. Gewählt, dem Volk zu dienen, dienen sie nur zwei Herren: den Eliten und ihren eigenen Interessen. Häufig pervertieren die bürgerlichen Wahlsysteme sogar die formalen Aspekte der Repräsentationsidee.“ (S. 46)
Schon wieder konfrontiert Dieterich nur seine Idee einer guten Herrschaft, die dazu da wäre, Verteilungsgerechtigkeit zu organisieren, mit der Realität demokratischen Regierens – und ist abgrundtief enttäuscht. Seine Achtung vor der Demokratie ist so hoch, dass er gar nicht merkt, dass die ‚Substitution‘ des politischen Willens derer, die als Wähler der Herrschaft in Gestalt ihrer Repräsentanten zustimmen, gerade der Witz an ihrer Repräsentation ist. Dass das Gemeinwohl in der Förderung des privaten Geldreichtums besteht, von dessen Mehrung auch die Staatsgewalt lebt, das hält er schon wieder für einen einzigen Verstoß gegen eine ‚wirkliche‘ Herrschaft des Volkes – das ist die, die ihm im Kopf rumgeistert. Die Herrschaft, der die wählenden Bürger laufend ihr Plazet geben, kann das Volk gar nicht wollen. Wenn die politischen Schutzpatrone der Herren über die unmoralischen Preise dann doch immer gewählt werden, dann äußert sich da also kein Volkswille, sondern
„es regieren innerhalb des Parlaments die verlängerten Arme der ökonomischen Elite sowie die ideologische wie materielle Korruption; außerhalb dominiert das ‚Wahrnehmungsmanagement‘, die ‚Fabrikation des Konsenses‘ und die systematische Idiotisierung über die transnationalen Oligopole der Massenindoktrinierung (Medien) und das Opium des Konsumismus.“ (S. 48)
Von einer Demokratie, wie Dieterich sie sich vorstellt,
kann das Volk, wie er es sich zurechtdenkt, nur durch
Manipulation und materielle Bestechung,
Konsumismus
, ferngehalten werden, was sicher bei
denen, die unter Hunger, Armut und Ausbeutung
leiden, besonders gut funktioniert.
Der „historische Sozialismus“: auch nicht gerecht
Im System des realen Sozialismus hat Dieterich ein
politökonomisches Unternehmen vor sich, das sich
tatsächlich programmatisch genau die Aufgabe gestellt
hat, an der, Dieterich zufolge, die beiden Wege der
Evolution
gescheitert sind, nämlich: die Ausbeutung
und mit der auch alle anderen Übel zu beseitigen, an
denen die moderne Menschheit laboriert. Dabei haben sich
die Experten dieses verflossenen Systems bei ihrem
Unterfangen einer gründlichen Weltverbesserung mit eben
den politökonomischen Größen herumgeschlagen, an denen
Dieterich seine ganze Kapitalismuskritik festmacht: Dem
Elend, das auch sie schon als Versagen des
Kapitalismus eingeordnet haben, wollten die regierenden
Realsozialisten durch eine bewusste Anwendung des
Wertgesetzes beikommen und haben mit ihrem Programm,
mit Geldgrößen und betrieblichen Kosten- und
Ertragsrechnungen auf Basis staatlicher
Preisfestsetzungen eine planmäßige Ökonomie aufzuziehen,
lauter gegensätzliche Rechnungen in die Welt und ins
Recht gesetzt. Dass dabei nicht viel Gutes herausgekommen
ist, will Dieterich gemerkt haben; Gründe interessieren
ihn aber auch da nicht weiter. Seiner Diagnose zufolge
hat der „Sozialismus des 20. Jahrhunderts“ genauso
versagt wie der Kapitalismus, insofern auch er es nicht
zur richtigen Gleichung von ‚Wert‘ und ‚Preis‘ gebracht
hat:
„Die Volkswirtschaften der sozialistischen Staaten basierten auf Kosten-Preis-Berechnungen in monetären Einheiten, die im allgemeinen an den Weltmarktpreisen orientiert waren oder an sozialistischen Direktiven der Regierung.“ (S. 78) „Die Löhne entsprachen nicht den von den Arbeitern den Gütern hinzugefügten Werten.“ (S. 81)
Eine Ursache für diese Fehlleistung deutet Dieterich immerhin an:
„Für die Parteiführung dieser Systeme wurde die Realisierung des alten Traums sozialer Sicherheit der Arbeiterbewegung des 19. Jahrhunderts zur ideologischen Zwangsjacke. Soziale Sicherheit im Austausch gegen reale Demokratie.“ (S. 68)
Auch die damaligen Sozialisten wollten also – Dieterich
hätte sich im Ansatz darin wiedererkennen können – die
Welt verbessern, nämlich den Traum von sozialer
Sicherheit
in die Tat umsetzen; dafür haben sie das
Staatsanliegen einer volksdienlichen Reichtumsproduktion
mit der Festlegung von gerechten Preisen und Löhnen und
geldmäßigen Betriebsvorgaben verfolgt. Aber die
Absurdität, das Privateigentum abzuschaffen, um dann
staatlich den Wert, das per Arbeitsaufwand erworbene
Anrecht auf Reichtum, zum Zweck und Maß aller materiellen
Bemühungen und Bedürfnisse zu erheben, das ist es gerade
nicht, was Dieterich zu kritisieren hat. Er sieht das
umgekehrt: Die Wertbestimmung haben sie nicht radikal
genug zum Zuge kommen lassen. Und als Grund dafür fällt
ihm – wie noch jedem Antikommunisten – sogleich das
Stichwort Zwangsjacke
ein, die sich die vormaligen
Sozialisten ausgerechnet mit ihren sozialen Absichten
angelegt hätten; das Stichwort verbürgt ihm die
ideologische Borniertheit der damaligen Weltverbesserer.
Das Anliegen, das die in ihrer Verbohrtheit haben
durchsetzen wollen, erledigt er mit der albernen
liberalen Uralt-Ideologie, soziale Sicherheit
wäre
letztlich nur um den Preis bürgerlicher Mündigkeit zu
haben.
Die neue politische Ökonomie: Gerechtigkeit als Produktionsweise
All das soll der „Sozialismus des 21. Jahrhunderts“ auf
alle Fälle besser machen: vermittels einer
demokratisch gelenkten Äquivalenzökonomie
. In
diesem Modell verschwinden alle Ungerechtigkeiten, wenn
jeder mit seinem Lohn exakt das kriegt, was er zum
Reichtum der Gesellschaft beisteuert:
„Dann entspricht der Lohn der aufgewendeten Arbeitszeit ... Die Preise entsprechen den Werten und sie enthalten nichts anderes als den vollen Gegenwert der in den Gütern verkörperten Arbeit. Damit schließt sich der Kreislauf der Wirtschaft in Werten statt in Preisen.“ (S. 99)
Mit dem ausbeuterischen Lohnsystem des industriellen
Kapitalismus
hätte ein solcher geschlossener
Kreislauf in der Tat nichts mehr zu tun. Voll gewahrt
bliebe allerdings die eine fundamentale Verrücktheit des
alten Systems: Die gesellschaftliche Arbeitsteilung kommt
nicht über die Sachzusammenhänge zwischen
Produktionsprozessen zustande, die für eine optimale
arbeitsparende Bedürfnisbefriedigung zweckmäßig
eingerichtet werden, sondern über einen Tausch, in den
die geleistete Arbeit unter vollständiger Abstraktion von
jedem konkreten Inhalt als bestimmende Größe eingeht.
Eine Versorgung mit Gebrauchsgütern findet nur statt in
strikter Abhängigkeit von Ansprüchen auf ein Quantum
fremder Arbeit, die man sich durch ein genau gleich
großes Quantum eigener Arbeit zu erwerben hat; Arbeit
wird nicht nach Maßgabe des gesellschaftlichen Bedarfs an
nützlichen Gütern verrichtet, sondern um damit ein Stück
ökonomischer Zugriffsmacht, einen Rechtsanspruch gegen
alle anderen zu erwerben. Von dem einen absurden
Grundprinzip der Marktwirtschaft kommt der Konstrukteur
eines neuen Evolutionswegs der Menschheit also nicht los:
Ökonomie funktioniert auch in seiner Vorstellung nur auf
der Basis individueller Verfügungsgewalt über fremde
Dienste, erworben durch puren Arbeitsaufwand, und einer
Arbeit, deren Nutzen durch nichts als den
geleisteten Aufwand definiert ist. Dabei
überlässt Dieterich freilich, er ist ja Sozialist, die
Abstraktion, die die produktive Tätigkeit der Leute auf
ein pures Quantum reduziert, nicht der Messlatte des
Geldes; schon gar nicht des Geldes, das
kapitalistische Eigentümer mit der Benutzung fremder
Arbeit als Quelle vermehrten Eigentums am Markt
verdienen. In freier Anknüpfung an Vorstellungen aus dem
19. Jahrhundert, wonach die Übel der Lohnarbeit mit der
Zuteilung von Arbeitsstundenzetteln als Kaufmittel zu
heilen wären, will Dieterich die Äquivalenz der
verschiedenen Arbeiten allein an der aufgewandten
Arbeitszeit messen; und das so strikt, wie die dümmsten
Marx-Kritiker dessen Aussagen über Wert und Arbeit
missverstanden haben, nämlich so, als ob Ungeschick und
Langsamkeit beim Arbeiten ganz gute Bereicherungsmittel
sein könnten:
„Dann entspricht der Lohn der aufgewendeten Arbeitszeit, unabhängig vom Lebensalter, vom Geschlecht, vom Familienstand, von der Hautfarbe, von der Staatsangehörigkeit, vom Wesen der Arbeit, von der körperlichen Anstrengung, von der Vorbildung, von der Beanspruchung, von der Fertigkeit, von der Berufserfahrung, von der persönlichen Hingabe an die Arbeit, unabhängig auch von der Schwere der Arbeit und deren gesundheitlichen Gefahren – kurz: Der Lohn entspricht der Arbeitszeit direkt und absolut.“ (S. 99) [2]
Nicht nur vom konkreten nützlichen Inhalt der Arbeit, auch vom Aufwand des einzelnen will Dieterich bei seinem äquivalenzökonomischen Regime über die gesellschaftliche Produktion definitiv nichts wissen. Immerhin geht er davon aus, dass der Sozialismus, wie er ihn sich vorstellt, die Produktivkräfte erbt, die das Kapital entwickelt und zu seinem Bereicherungsmittel gemacht hat:
„Bei dem heutigen Stand der Produktivkräfte steht außer Zweifel, dass die notwendige körperliche und intellektuelle Arbeit nur einen Bruchteil der Arbeitsfähigkeit und Arbeitszeit der erwerbstätigen Bevölkerung der Zukunft in Anspruch nehmen wird. Nur unter der Bedingung der Freisetzung von notwendiger Arbeit ist die postkapitalistische Wirtschaftsordnung überhaupt denkbar.“ (S. 94)
Eigenartigerweise denkt Dieterich seine
postkapitalistische Wirtschaftsordnung
aber doch
wieder so, dass von einer Freisetzung
der Arbeiter
von notwendiger Arbeit
überhaupt nicht die Rede
sein kann; vielmehr muss auch dann der individuell
erbrachte Arbeitsaufwand, in Stunden gemessen, das
Lebensnotwendige verfügbar machen; und das Quantum
unbefriedigter Bedürfnisse, der Mangel also, ist
allemal groß genug, um den Leuten in einer fürs System
höchst produktiven Weise Lust auf Arbeit zu machen:
„Auch die äquivalente Ökonomie gibt von der Einkommensseite her echten Tätigkeits-Anreiz; denn jeder erhöht sein Anrecht auf Güter und Dienstleistungen durch seine eigene Tätigkeit. Und da er es nur auf diese Weise erhöhen kann, ist der materielle Arbeitsanreiz größer als in der nicht-äquivalenten Ökonomie .“ (S. 105)
So kommen Gerechtigkeit und Produktivkraft aufs Schönste überein, besser noch als in den alten Entlohnungssystemen des Kapitalismus und erst recht des ‚sozialistischen Wettbewerbs‘ in der Hebelwirtschaft des einstigen Ostblocks: Wenn der Reichtum der armen Leute in nichts anderem besteht als in Zeitgutschriften, die ein Quantum Zugriffsmacht auf produzierte Güter begründen; wenn ihr ganzes ökonomisches Interesse völlig darin aufgeht, solche Gutschriften zu ergattern: dann verschleißen sie sich ganz von selbst. Was im real existierenden Kapitalismus das Kapital erzwingt, indem es die abstrakte Arbeit als Reichtumsquelle ausbeutet, das bewirkt in Dieterichs brutaler Utopie das Äquivalenzprinzip: Unter dem Regime der reinen Tauschgerechtigkeit beuten die Leute gerne und freiwillig sich selber aus. Dafür haben sie, was ihnen laut Dieterich am meisten fehlt: Lohngerechtigkeit.
Freilich bewirkt eine bedingungslos gerechte
Lohnzumessung noch nicht den sachlichen,
gebrauchswertmäßigen Zusammenhang der gesellschaftlichen
Produktion, den im realen Kapitalismus die Ausbeutung der
Arbeit für den Gelderlös am Markt, die Konkurrenz um
Profit und die Anarchie der Märkte zustande bringen.
Damit sich der Kreislauf der Wirtschaft in Werten
statt in Preisen
tatsächlich schließt
, muss
zum Regime der gerechten Entlohnung schon noch alles das
hinzutreten, wovon Dieterich im Interesse der reinen
Äquivalenz der geleisteten Arbeitszeiten gründlichst
abstrahiert: der Inhalt der Teilarbeiten, ihr
arbeitsteiliger Zusammenhang, ihre Verknüpfung zu einem
System der Bedürfnisbefriedigung... Zwischen der
abstrakten quantitativen Definition des Reichtums durch
die aufgewandte Arbeitszeit und dem materiellen Reichtum,
der konkreten Arbeit, all dem, was Dieterich sorgfältig
weggedacht hat, um der Gerechtigkeit der Wertbestimmung
zur Geltung zu verhalfen, besteht nicht nur theoretisch
eine gewisse Inkommensurabilität: Am Kapitalismus wäre zu
lernen, wie brutal es zugeht – von wegen drängende
Probleme der Menschheit
! –, wenn konkrete Arbeit
und Bedürfnisbefriedigung komplett unter die Mehrung des
abstrakten Reichtums subsumiert sind. An dem anderen
großen Weg der Evolution
, dem Sozialismus des 20.
Jahrhunderts, hätte man lernen können, wie viel gut
gemeinter Irrsinn bei dem Versuch herauskommt, beides
planmäßig und in einem arbeiterfreundlichen Sinn
zusammenzubringen. Dieterich dagegen sieht da gar kein
Problem. Er denkt sich die Sache einfach so, dass die
Arbeitszeiten, die jedem einzelnen seinen Anteil am
gesellschaftlichen Reichtum zumessen, schon so ungefähr
dasselbe sind wie die Arbeitsquanta, die auf die
verschiedenen Teilbereiche der gesellschaftlichen
Produktion verteilt werden müssen, damit die Gesellschaft
davon leben kann – und die Steigerung der Produktivität
stellt sich dann irgendwie auch ein.
Gewiss, ein wenig muss da schon herumgeschoben werden. Ein wenig muss dann doch vom Prinzip der Gleichwertigkeit der Arbeitszeiten abgewichen und eine unterschiedliche Bewertung nach ihrem materiellen Nutzen eingeführt werden.[3] Es müssen auch öffentliche Güter zur Verfügung stehen, deren Inanspruchnahme durch das per Arbeit erworbene Recht auf ein Äquivalent fremder Arbeit nicht zu regeln ist: Krankenversorgung, Bildung, sogar den Unterhalt von Kasernen samt Soldaten will Dieterich in seiner Äquivalenzökonomie unterbringen. Aus dem verrückten Ideal, den materiellen Lebensprozess einer ganzen Gesellschaft mit einem planmäßigen Regime über abstrakte Arbeit zu organisieren und zu regeln, einem Regime, das die allein an der Arbeitszeit bemessene Gleichheit von geleistetem Beitrag und empfangenem Ertrag zur Planungsgrundlage macht, folgt ein unendlicher Wust von Abstimmungsproblemen und von Interessengegensätzen – notwendigerweise. Denn Gerechtigkeit bei der Zumessung von Zugriffsrechten ist ein für allemal kein Leitfaden für eine Produktion, die den konkreten Reichtum schafft, auf den jeder einzelne mit seinen Zugriffsrechten angewiesen ist; die Abstraktion von allen materiellen Unterschieden verschiedener Teilarbeiten gibt definitiv keine materiell vernünftige Arbeitsteilung her. Stattdessen ist Gerechtigkeit ein überpersönliches Gewaltverhältnis zur Regelung von Interessengegensätzen; und als solches erweist sie sich auch in Dieterichs Utopie: Wo Reichtum in individuell zugemessenen Zugriffsrechten besteht, da herrschen wechselseitiger Ausschluss von Bedarfsartikeln, wechselseitige Benutzungsverhältnisse, also alle Schönheiten der Konkurrenz, auch wenn der Erfinder der Äquivalenz-Idylle davon partout nichts wissen will. Und so viel ist sicher, dass sein goldener Grundsatz der gerechten Zuteilung sich nur in einer Hinsicht wirklich bewährt, nämlich in der Beschränkung individueller Bedürfnisse – im Kalkül mit dem wahren und gerecht zugemessenen Wert als Arbeitsanreiz rechnet Dieterich ja bereits mit dem Effekt.
Es ist also eine rechte Verrücktheit und ein ziemlich hartes Regime, was Dieterich in seiner Äquivalenzökonomie projektiert. Aber er meint es nur gut. Und in der Tat: Das große Menschheitsproblem, jenes einzige Problem aller Probleme, das der Menschheit das Leben schwer macht: die herrschende Ungerechtigkeit, damit hätte es ein Ende. Und zwar, da ist Dieterich nicht kleinlich, im Kleinen wie im ganz Großen:
„Wenn weltweit alle Waren auf Grund der in ihnen enthaltenen Arbeitszeit ausgetauscht werden (womit dann für eine Lokomotive vielleicht nur noch 7.300 Sack Kaffee zu zahlen wären, nämlich so viele, wie die Arbeiter in Brasilien in der gleichen Zeit ernten, die zum Bau ihrer Lokomotive gebraucht wird), würde diese neue Preisrelation Naturprodukt/Industrieprodukt die notwendige wirtschaftliche Gleichberechtigung der Völker herbeiführen.“ (S. 101f)
Und damit wäre schlagartig auch allen Konflikten zwischen den Nationen der Boden entzogen...
Was im Großen wie im Kleinen an Problemen bleibt, das sind aus Sicht des Erfinders der neuen globalen Ökonomie auf Gerechtigkeitsbasis allerlei Planungs-, Bewertungs- und Abstimmungsfragen. Und die sind allesamt lösbar: Dem Nachweis widmet er seinen ganzen wissenschaftlichen Ehrgeiz und den größeren Teil seines epochemachenden Buches. Sein Konstrukt einer besseren Welt ist realistisch, sein sozialistisches Gerechtigkeitsmodell kein Fantasiegebilde! Wie jede Utopie, so kommt auch die seine lächerlich ‚konkret‘ daher, als bis ins letzte durchdachte, ausrechenbare und durchorganisierbare, eben fix und fertige Gegen-Welt zum Kapitalismus. So soll die Menschheit überzeugt werden, dass es geht, und zwar ganz leicht.
Und nicht nur das. Sozialismus geht nicht nur – heute,
endlich, im 21. Jahrhundert –; er ist auch
fällig. Erstens, weil alles andere letztlich gar
nicht funktioniert – das bescheinigt der Mann in vielen
Bildern und Gleichnissen dem Imperialismus des 21.
Jahrhunderts. Zweitens, weil der Weg der Evolution
der Menschheit genau darauf als sein Telos zuläuft: Viele
Seiten seines Buches verschwendet Dieterich auf den
Beweis, dass das, was er sich als bessere Welt ausgedacht
hat, in Wahrheit genau das ist, was diese Welt selber im
Programm hat – auch wenn es damit noch etwas dauern kann
...
Der Sozialismus des 21. Jahrhunderts auf dem Vormarsch: Weltverbesserungsidealismus – eine realistische Perspektive für alle fortschrittlichen Menschen
– garantiert machbar!
Dieterich hat nicht zufällig ‚Gerechtigkeit‘ im systemischen Gegensatz von ‚subjektiven‘ Preisen und ‚objektiven‘ Werten verortet. Sozialismus besteht demnach darin, der Gleichung von Gerechtigkeit und Objektivität Genüge zu tun – d.h. den lebendigen und vergegenständlichten Arbeitszeitaufwand exakt zu bestimmen. Wenn man Sozialismus als Sammelsurium von Aufwands- und Geldgrößen versteht, Bedarfsplanung und individuelle Zuteilung in ein reines Rechenproblem verwandelt, dann erschließt sich zwanglos: Das eigentlich brennende Problem für den Übergang zum Sozialismus ist nicht die Abschaffung der ökonomischen Macht des Privateigentums, die Auseinandersetzung mit der bürgerlichen Staatsgewalt und den imperialistischen Agenturen des globalen Kapitalismus. Es ist buchhalterischer Art:
„Der Sozialismus ist heutzutage ein essenzielles Problem der komplexen Informatik. Deswegen besteht der transzendierende Schritt in der Stabilisierung einer sozialistischen Buchhaltung (Wert) gegenüber der kapitalistischen Buchhaltung (Preis).“ (Interview mit Dieterich, rebelión, 2.1.07)
Der Versicherung, dass eine andere Buchhaltung glatt
geht, widmet Dieterich einige Umstände und ein
schlagendes Argument: Das geht wirklich, Arbeitszeit ist
messbar; und das eigentlich erst heute so richtig; der
Fortschritt hat dafür endlich das passende Instrument zur
Verfügung gestellt: den Computer samt einer
fortgeschrittenen Mathematik
.[4] Das technische Instrument
preist er unentwegt als Generalschlüssel für die Lösung
der Aufgaben, die überhaupt nur seinem Wahn einer
gerechten Zuteilung entspringen:
„Der Übergang in die äquivalente Ökonomie wird erleichtert, gefördert durch die schnelle Computerisierung von Wirtschaft, Verwaltung und privater Lebensentfaltung. Die weltweite Ermittlung des Bedarfs, die Lenkung der Produktion und die Verteilung von Gütern wäre vom Computer bereits heute zu bewältigen. ‚Computer-Sozialismus‘ nannte der Erfinder des Computers, Professor Konrad Zuse, diese Wirtschaftsordnung, wenn sie das Äquivalenz-Prinzip mit der Arbeitswertlehre verbindet.“ (S. 101)
Die Erfindung, die dem digitalen Zeitalter seinen Namen gegeben hat, ist nicht bloß ein unschlagbares Hilfsmittel, sie ist überhaupt der entscheidende Schritt auf dem Weg in eine globale lichtere sozialistische Zukunft.[5]
Und was der Computer nicht gleich regelt, das regelt sich
alternativ herrschaftlich. Dass in seinem
verrückten Modell einer Welt-Gesellschaft zugleich
konkurrierender und kooperierender Produzenten laufend
zwischen gegensätzlichen individuellen und kollektiven
Ansprüchen im Sinne einer vorgestellten Gerechtigkeit
entschieden, also nicht gemessen, sondern
bewertet werden muss – ein möglicher
Gefahrenpunkt von Korruption und
Ungerechtigkeiten
–, das sind Probleme in
Dieterichs Sozialismusmodell der Zukunft, die er nicht
nur mit aller Selbstverständlichkeit vor seinen Lesern
ausbreitet. Für die hat er auch eine überzeugend
realistische Lösungen parat: Alles kein Problem bei
entsprechender demokratischer Kontrolle
(S. 152)!
„Mögliche Konflikte werden durch aus Bürgerinnen und Bürgern zusammengesetzte ‚Wert(Arbeits-)Tribunale‘ entschieden.“ (Dieterich u.a., Übergangsprogramm zum Sozialismus des 21. Jahrhunderts in Lateinamerika, veröffentlicht 8.10.08)
Damit Gerechtigkeit nicht einfach über die Köpfe der
konkurrierenden Interessen hinweg beschlossen wird,
dürfen also einfach alle Bürger an der jeweiligen
Entscheidung über die widerstreitenden Ansprüche aktiv
teilnehmen, um sich dann dem vom Tribunal mehrheitlich
Beschlossenen zu beugen, das durch ihre Mitbestimmung ja
ausreichend legitimiert ist. Dafür gibt es eine
Herrschaft, die eigentlich kein solche mehr ist, weil sie
irgendwie von allen gemeinsam ausgeübt wird, das positive
Spiegelbild seiner Kritik an der entarteten bürgerlichen
Demokratie und der Kommandowirtschaft des realen
Sozialismus nämlich: die echte, partizipative
Demokratie
.
„In der partizipativen Demokratie wird das Teilhaberrecht an der Entscheidungsnahme weder konjunkturell-zeitlich beschränkt noch ausschließlich für die politische Sphäre gelten, sondern permanent und ausgedehnt auf alle Sphären sozialen Lebens, von den Fabriken und den Kasernen bis zu den Universitäten und Massenkommunikationsmitteln. Es handelt sich um das Ende der repräsentativen – in Wahrheit substitutiven – Demokratie und ihre Überwindung durch die direkte oder plebiszitäre Demokratie.“ (S. 118)
Im Näheren hat diese gute Herrschaft – so wie sie sich ein radikaler Anwalt einer Konsensbildung zwischen gegensätzlichen Interessen eben vorstellt – dann erst einmal alles, was eine Herrschaft so braucht, eine Verfassung und Steuern für allgemeine Aufgaben z. B., die dann von dem abgehen, was ein jeder für sich beanspruchen darf – von wegen also voller individueller Arbeitsertrag! –:
„Den Arbeitern und Arbeiterinnen wird das verfassungsmäßige Recht eingeräumt, den durch ihre Arbeit geschaffenen vollen Wert zu erhalten, abzüglich der gesellschaftlich notwendigen Sozialfonds (Gesundheitswesen, Erziehung, Neuinvestitionen etc.). Diese Abzüge können in Form von Steuern erhoben werden.“ (Dieterich u.a., Übergangsprogramm... )
Und überhaupt läuft im Sozialismus alles so ähnlich wie in der wirklichen Staatenwelt, bloß einfach umgekehrt:
Unten „wird es kleinste regionale Plan-Institutionen geben (vergleichbar Kommunen), darüber größere Regionen (vergleichbar Bezirken), noch größere Regionen (vergleichbar Staaten) und größte Regionen (Staatenbünden oder kontinentalen Zusammenschlüssen vergleichbar).“ (S. 104)
So einfach geht das also – von unten nach oben! Und außerdem hilft diesem schönen Instanzenweg eines weltumspannenden Beratungswesens dann wieder der Computer auf die Sprünge:
„Die operative Technologie für die Ausübung partizipativer Demokratie stellt kein Problem mehr dar. Es wurde durch das Internet gelöst.“ (S. 139)
Alles klar: Beratschlagen geht! Die Bürger können miteinander kommunizieren, also sind alle Konflikte kein Problem mehr.
– garantiert kein Umsturz!
Auch die Durchsetzung des Sozialismus des 21. Jahrhunderts bereitet im Grunde keine großen praktischen Schwierigkeiten. Mit PC und Partizipation wird der Sozialismus nämlich nicht nur garantiert machbar; er erfordert nicht einmal einen wirklichen Bruch mit dem räuberischen Kapitalismus. Da kann Dieterich – im Verein mit gleichgesinnten sozialistischen Modellbauern – vorgestellte Zweifel ausräumen. Das Problem erledigt sich mit der Äquivalenzökonomie fast von selbst:
„Für die Verwirklichung des Äquivalenzprinzips hat die Eigentumsform der Produktionsmittel keine große Bedeutung. Mit dem Fortfall des Profits verliert das Privateigentum an Produktionsmitteln seine Grundlage, es hebt sich selbst auf.“ (S. 107)
So schlicht löst sich die ökonomische Macht des Eigentums
in Luft auf, und die Herrschaft, die diese Macht sichert,
gleich mit, wenn man sich vom kapitalistisch genutzten
Eigentum die falschen Profiteure und von der Herrschaft
die verselbstständigten Herrschaftsagenten wegdenkt. Bis
es so weit ist, koexistieren chrematistische
Marktwirtschaft
und sozialistische
Gemeinwirtschaft
friedlich miteinander, und irgendwer
rechnet mit Kommensurabilitätskalkülen
‚subjektive‘ Preise in ‚objektive‘ Werte um und
umgekehrt:
„Dies ist im Grunde problemlos, da alle Ökonomie auf dem Produktivitätsfaktor ‚Zeit‘ beruht.“ (S. 159)
Selbst die Gegensätze zwischen reichen und armen Ländern verschwinden friedlich aus der Welt, wenn die Bürger in den Metropolen nur für den Sozialismus verzichten lernen und die Vorzüge des gesellschaftlichen Fortschritts und seiner freiwilligen Einführung erkennen:
„In den reichen Ländern würde die plötzliche Einführung des Äquivalenzprinzips voraussichtlich zu einer vorübergehenden Verschlechterung des heutigen materiellen Lebensstandards führen. Aber eine wachsende Anzahl von Menschen ist auch in diesen unseren Ländern überzeugt, dass wir über unsere Verhältnisse leben. Mit der Verbreitung dieses Bewusstseins ist bei vielen Menschen die Bereitschaft verbunden, einer allmählichen Annäherung des Lebensstandards zuzustimmen. Erhöht wird diese Bereitschaft durch die Gewissheit, dass die einzige Alternative zu dieser freiwilligen Annäherung in der gewaltsamen Einführung des Äquivalenzprinzips durch die jetzt notleidenden Dreiviertel der Menschheit besteht.“ (Gespräch zwischen H. Dieterich und A. Peters, junge welt, 9.1.98)
Zu guter Letzt löst sich mit diesem Ideal einer
friedlichen Transformation
der falschen Preise in
die richtigen Werte dann auch die leidige Gewaltfrage in
Wohlgefallen auf, und auch die in unserem Jahrhundert
mit zunehmender Heftigkeit sich Bahn brechenden
Revolutionen könnten gegenstandslos werden.
(S. 103)
Da wird das angestrengte Bemühen, den neuen Sozialismus nicht bloß als bessere, sondern vor allem als realistische Alternative zur kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft und der dazugehörigen demokratischen Herrschaft vorstellig zu machen, einmal richtig reaktionär: Bloß am Kapitalismus nichts umschmeißen wollen, das ist unnötig, unmachbar und nur schädlich. Denn die gute Sache ist
– garantiert schon unaufhaltsam auf dem Vormarsch!
Als Beweis für sein Gerechtigkeitsanliegen kennt Dieterich, wie jeder Weltverbesserer, nämlich lauter höhere Instanzen und objektive Gesetzmäßigkeiten, die für dessen unausweichlichen Erfolg und damit für seine unbezweifelbare Güte bürgen.
Dafür spricht als erstes das allerallgemeinste Grundgesetz der Soziologie. Wenn man den Kapitalismus ganz abstrakt als eine Gesellschaft und diese, wie überhaupt alles in der Welt, als einen irgendwie funktionierenden Zusammenhang deutet, ein „System“, das – wodurch auch sonst! – durch seine ‚Teile‘ zusammengehalten wird, dann erschließt sich, so man will, zwanglos, dass es mit dem Kapitalismus längst nicht mehr so weitergehen kann:
„Das wirtschaftliche Subsystem einer Gesellschaft, zum Beispiel, ist dann an die maximale Grenze seines Existenzzyklus geraten, wenn es die grundlegenden Bedürfnisse der Staatsbürger nicht mehr befriedigen kann und somit dysfunktional für den Fortbestand des Systems in seiner Gesamtheit wird.“ (S. 33)
Mit der dümmsten soziologischen Tautologie – was nicht
funktioniert, geht kaputt! – erschließt sich Dieterich
Ausbeutung als untaugliches Element eines
gesellschaftlichen Systemzusammenhalts: Ausbeutung geht
langfristig nicht, daran geht der Kapitalismus zugrunde –
eine aparte Kritik an Armut, Hunger und
Unterdrückung
. Und zugleich im soziologischen Gewand
ein äußerst affirmatives Angebot: Der Sozialismus ist das
einzige wirklich funktionierende System!
Wenn man sich einmal in der funktionalistischen
Abstraktion vom Fortbestand eines Systems
herumtreibt, dann braucht es kein Argument mehr, dann
liefert eine alberne Analogie den zweiten schlagenden
Beweis dafür, dass hier ein ehernes Gesetz waltet: Im
Übergang zum Sozialismus verwirklicht sich ein Gesetz
der Natur!
„Biologische Subsysteme, wie etwa der Verdauungstrakt eines Menschen geraten dann an das Ende ihres Existenzzyklus, wenn sie die Kapazität verlieren, zum Fortbestand des ihnen übergeordneten Systems noch etwas beizutragen.“ (S. 33)
Weil alles werden und vergehen muss, wird auch der Kapitalismus das Zeitliche segnen:
„So wie wir es im Atom, in einer Zelle, im Organismus beobachten können, ist alles, was in Natur und Gesellschaft existiert, vergänglich und vorübergehend (transitorisch).“ (S. 27)
Da, wie schon die alten Griechen wussten, ‚alles fließt‘, ist auch die Heraufkunft des Sozialismus unausweichlich:
„Die Zustandsänderung ist eine Gesetzmäßigkeit der Bewegung des Universums.“ (S. 29)
Konkreter gesprochen, geht es drittens auch
weltgeschichtlich letztlich immer vorwärts. Wenn
man die globale Herrschaft des Kapitalismus, die elende
Lage der Massen in den Armenhäusern des Kapitalismus
teleologisch sieht, dann erscheint das alles in einem
anderen, rosigeren Licht. Man muss die Geschichte nur so
abstrakt wie möglich anschauen, als
„Menschheitsevolution“, die in allen Gesellschaften am
Werk ist, dann erweisen sich ohne größeren argumentativen
Aufwand Kapitalismus und realer Sozialismus als
vergängliche Etappen einer welthistorischen Entwicklung,
die es einfach noch nicht zur höchsten Stufe ihrer
Entfaltung gebracht hat. Zugleich eröffnet sich damit die
hoffnungsvolle Perspektive auf eine Besserung, die die
Evolution der menschlichen Gattung
längst auf die
Tagesordnung gesetzt hat. Dieterich denkt da in Äonen:
„Wenn wir heute, an der Wende vom zweiten zum dritten Jahrtausend auf diese Epoche der hinter uns liegenden 5000 Jahre zurückblicken ...“ (S. 38)
Was sehen wir da? Es geht unaufhaltsam voran, auch wenn das mit dem Telos noch dauern kann:
„Der Übergang zur neuen Ökonomie wird voraussichtlich Jahrhunderte dauern.“ (Gespräch zwischen H. Dieterich und A. Peters, junge Welt, 9.1.1998)
Von den Opfern wird es zwar keiner mehr erleben, aber unausweichlich ist er, der Übergang in eine bessere „postbürgerliche Weltgesellschaft“.
Das ist materialistische Wissenschaft. Mit der sieht sich
Dieterich schließlich, vierter Beweis für die Gültigkeit
seiner Prophezeiung, im Einklang mit allen großen
Wissenschaftlern: mit Newton
, Darwin
,
Marx
... Sie alle waren, egal auf welche Weise, der
Evolution
verpflichtet und haben so für
Fortschritt im Reich der Wissenschaft gesorgt. Mit der
Ahnenreihe ist Dieterichs sozialistische
Geschichtsteleologie auch wissenschaftsgeschichtlich zur
Genüge ausgewiesen.
Mit seiner vierfach bebilderten Fiktion einer
gesetzmäßigen „Evolution“ hat der Mann die höchsten Höhen
der Abstraktion erreicht, in denen er sich mindestens so
wohl fühlt wie in den Niederungen volks- und
betriebswirtschaftlicher Rechenfantasien. Da waltet nur
noch ein hoffnungsstiftendes Gesetz, das beweist, dass
seine Weltverbesserungsidee die eigentliche Wirklichkeit
ist: der unaufhaltsame Fortschritt. Und der Beweis ist
für Dieterich enorm wichtig. Denn ohne Gewissheit,
dass diejenigen, die den Kampf gegen den Weltkapitalismus
aufnehmen, sicher sein können, auf der richtigen Seite
der weltgeschichtlichen Entwicklungsdynamik zu stehen
(S. 24), hält er sein
Anliegen für nicht vertretbar, sähe er seine Kritik ins
Unrecht gesetzt – dass die Geschädigten der herrschenden
Verhältnisse in ihrem kapitalistischen Alltag Grund genug
haben, sich gegen das System aufzulehnen, das ist für ihn
undenkbar. Der Anwalt einer guten Sache, die partout kein
partikulares Anliegen sein soll, tut nichts ohne höheren
Auftrag, ohne einen allumfassenden Auftraggeber und ohne
vorgestellte Erfolgsgarantie.
– als guter Weltgeist unterwegs!
So durch die allerhöchsten anerkannten Instanzen –
Geschichte, Natur, Vernunft – beglaubigt, befindet sich
Dieterich mit seinem Fortschrittsprogramm also endlich
ganz da, wo er unbedingt sein möchte: Er steht auf der
richtigen Seite, verfolgt kein partikulares Interesse und
keine kleinliche Kritik, sondern die Sache der
Menschheit: das NHP (das Neue Historische Projekt)
des Sozialismus, den Fortschritt als solchen. Da agieren
keine Staaten, Kapitalisten, Lohnarbeiter oder sonst wer
mehr, da kämpft in persona die gute gegen die schlechte
Welt, das weltumspannende gattungsgeschichtliche
Befreiungssubjekt stellt sich dem globalen
elitär-reaktionären Herrschaftssubjekt entgegen.
(S. 137)
Und wofür kämpft es dann, das Befreiungssubjekt? Oberflächlich betrachtet, für eine bessere Politökonomie:
„Die Ausbeutung von Menschen durch ihre Mitmenschen (=Aneignung fremder Arbeitsergebnisse, die den Wert der eigenen Arbeit übersteigen) ist vorüber, jeder Mensch erhält den vollen, von ihm den Gütern eingefügten oder in Leistungen erbrachten Wert.“ (S. 99)
Doch falsch liegt, wer hier bei „Wert“ an schnöden
Reichtum denkt. Der volle Wert
, um den es
weltgeschichtlich geht, ist das
rational-ethisch-ästhetische Subjekt
(S. 120 und des öfteren) in uns allen.
Von der Utopie zur Wissenschaft – das war gestern. Der
Sozialismus des 21. Jahrhunderts
geht den
umgekehrten Weg.
[1] Alle folgenden Zitate, soweit nicht anders angegeben, aus diesem Buch. Dieterich zitiert in seinem Buch immer wieder zustimmend über mehrere Seiten Arno Peters als Kronzeugen für seine Kritik am Kapitalismus und das Modell einer künftigen sozialistischen Gesellschaft. Auf eine gesonderte Kennzeichnung wird deshalb bei der Kritik verzichtet.
[2] Für dieses Programm eines gerechten Lohns beruft sich Dieterich nicht zuletzt auf Marx. Wieder einmal wird Marx damit eine „Arbeitswerttheorie“ abgelauscht, die angebliche Erkenntnis, dass ‚die Arbeit‘ Wert schafft, statt zur Kenntnis zu nehmen, dass Marx mit seinen Auskünften über wertschaffende Arbeit von der spezifisch gesellschaftlichen Qualität der Arbeit im Kapitalismus handelt und kritisiert, dass unter der Regie des Kapitals Arbeit auf abstrakte Arbeit, „Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv“ reduziert wird; dass der pure Arbeitsaufwand als Reichtumsquelle wirkt, und zwar in der Hand des Kapitalisten, der Arbeitskräfte anwendet. Und wieder einmal wird –als Fortentwicklung von Marx – mit der falschen Vorstellung von der Arbeit als Quelle allen Reichtums die Forderung nach dem gerechten Ertrag, dem ‚vollen Arbeitswert‘ zum Programm erhoben; ein Programm, das Marx und Engels immer wieder – von Proudhon bis zum Gothaer Programm der Sozialdemokratie – als theoretisch grundverkehrte Kritik am Kapitalismus und praktisch verhängnisvolles Gegenprogramm gegen den Kampf zur Abschaffung der Lohnarbeit kritisiert haben. Offensichtlich ist die moralische Unart, dem Kapitalismus das Ideal einer (lohn-)gerechteren Welt zu entnehmen und als sozialistisches Gesellschaftsmodell entgegenzustellen, einfach nicht auszurotten.
[3] Die radikal gleiche
Wertigkeit aller aufgewendeten Arbeitsmühe ist denn
auch beileibe nicht das letzte Wort in Dieterichs
Konstruktion gerechter Lohnverhältnisse. Im Gegenteil:
Die Bewertung von Leistungsunterschieden im Hinblick
auf Lohnanrechte, das ist überhaupt eine der
vorgestellten großen Herausforderungen seiner
‚Äquivalenzökonomie‘. Dieterich denkt an alles, was
sich im Kapitalismus an ‚Lohngerechtigkeit‘ über den
Bedarf und die ökonomische Macht des Kapitals regelt.
Z.B. stellen sich da so heiße Fragen wie die, wann
eine höhere individuelle Produktivität des
Beschäftigten ‚A‘ gegenüber dem Beschäftigten ‚B‘, bei
gleicher Anzahl geleisteter Arbeitsstunden, eine höhere
Gratifikation für ‚A‘ erlaubt ... welcher arbeitenden
Gruppe würde man diesen Extrabonus abziehen
, soll
ein Ingenieur 1,8 oder 2,2 mal mehr verdienen als
ein Mechaniker
... (S. 151f) Solche Probleme seiner
Zukunftsgesellschaft beschäftigen Dieterich offenkundig
viel mehr als die Frage, wie eigentlich der
Produktivitätsfortschritt erreicht werden soll, der den
Arbeitenden doch nur, in Dieterichs gerechter Welt, im
wörtlichen Sinne ‚wertlose‘ Zeit beschert.
[4] In derselben Manier,
mit der gewisse kritische Ökonomen früher umfangreiche
Rechenmodelle entworfen haben, um die Profitrate bis
hinters Komma genau auszurechnen, und gemeint haben,
nur so wäre die kapitalistische Ausbeutung exakt und
erst dadurch richtig glaubwürdig zu kritisieren,
verwandelt Dieterich den Sozialismus in eine einzige
riesengroße Rechenaufgabe zur Feststellung exakter
Wertgrößen – und meint ausgerechnet damit der
Ausbeutung verlässlich den Garaus zu machen. Und da hat
er Erfreuliches zu melden. Der exemplarische
Beweis
, dass solche Berechnungen gehen, ist
erbracht: Britische Autoren haben die
Durchschnitts-Wertbestimmung für eine Stunde
Arbeitszeit in Großbritannien im Jahre 1987
ausgerechnet, indem sie einfach das
Bruttosozialprodukt zu Marktpreisen
minus
Ersatzinvestitionen
durch Beschäftigte und
Jahresarbeitsstunden dividiert haben. Herausgekommen
sind pro Stunde übrigens 7,33 Einheiten ‚Wertgeld‘
(Pfund Sterling)
. (S. 109) Das ist
hochmathematischer Realismus! Auch was sonst noch für
einen funktionierenden Sozialismus nötig ist, erweist
sich bei näherer Betrachtung als eine Art Rechenaufgabe
– leicht lösbar für einen Mann, der sich anheischig
macht, den Klassencharakter oder Grad an
demokratischem Humanismus
von Gesellschaften zu
messen
(S. 66), und
der auf alle Fälle das Niveau an erreichter
Demokratie in einem komplexen sozialen System (DKMS)
durch drei Größen oder Magnituden quantitativ
erfassen
und in einer Tabelle auflisten kann (S.
116, 125).
[5] Dass ohne Computer
Sozialismus nicht geht, meint Dieterich so ernst, dass
er dem realen Sozialismus, glatt zugutehält, er habe
wegen der Unterentwicklung der kybernetischen
Produktivkräfte
letztlich gar nicht anders gekonnt,
als vor der Aufgabe, sich zur ‚Äquivalenzökonomie‘
fortzuentwickeln, zu versagen: Es gab weder Computer
noch Datenübertragungsnetze noch die fortgeschrittene
Mathematik, welche für die Wertkalkulation eines
Produktes in der Praxis notwendig sind. Das machte den
Quantensprung des Systems aus dem realen Sozialismus in
den wirklichen Sozialismus unmöglich.
(S. 78) Deswegen kann auch in China,
Kuba und Venezuela solange keine Äquivalenzökonomie
aufgebaut werden, als die entsprechende
Informatik-Logistik nicht existiert.
(S. 143)