Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Wirtschaftssenator Gregor Gysi:
Sozialismus im Konjunktiv für Kapitalismus ohne Wenn und Aber und eine „zusammengewachsene“ Nation

Gysi wird Berliner Wirtschaftssenator und tritt den Beweis an, wie gut Sozialisten regieren können. Auch und gerade die PDS weiß um die Notwendigkeiten des deutschen Standortes, der zu allererst „soziale Härten“ verlangt. Das soll gleichzeitig das definitive Angebot an den besonderen Nationalismus der Ossis sein (Deutsche zweiter Klasse).

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Wirtschaftssenator Gregor Gysi:
Sozialismus im Konjunktiv für Kapitalismus ohne Wenn und Aber und eine „zusammengewachsene“ Nation

Jetzt sind sie also angekommen – an der Macht in Deutschlands Hauptstadt. Die „Partei des demokratischen Sozialismus“ ist drittstärkste Fraktion im Abgeordnetenhaus geworden und darf unter SPD-Führung mitregieren. Und ihr Frontmann Gysi, als „bekennender Sozialist“ mit „sozialistischen Visionen“ (ER über SICH) bislang mehr eine allseits für interessant befundene Bereicherung der nationalen Talkshow-Kultur, greift sich nicht irgendeinen Posten und eben schon gar nicht das Amt für Kultur, in dem sich alle Welt den schlagfertigen Glatzkopf am ehesten hätte vorstellen können, sondern wird Wirtschaftssenator. Denn er hat sich etwas vorgenommen. Mit seiner Beteiligung an der Regierungsmacht im größten und wichtigsten Stadtstaat der Republik will er einen doppelten Beweis führen. Erstens den, dass er persönlich alles andere als ein linker Spaßvogel ist, ein Verfremdungseffekt im deutschen Politikbetrieb, nämlich vielmehr ein Mann der „ökonomischen Basis“, ein politischer Arbeiter, der die „Mühen“ der „politischen Kärrnerarbeit“ im aufreibenden Kampf um den Wirtschaftsstandort Berlin nicht scheut, sondern zur Stelle ist, wenn es „hart auf hart geht“. Mit diesem selbstlosen Einsatz der eigenen Persönlichkeit will er zweitens vorführen, dass Sozialisten aus der untergegangenen DDR es können – das Regieren nämlich, wie es sich jenseits aller parteilichen Differenzen für eine Nation wie das neue Deutschland im Allgemeinen und für eine kapitalistische Sonderwirtschaftszone wie dessen neue Hauptstadt im Besonderen gehört: nach Kassenlage alle marktwirtschaftlich fälligen „sozialen Härten“ durchsetzen und das kapitalistische Eigentum umschmeicheln, auf dass es der Stadt ein paar „konkurrenzfähige Arbeitsplätze“ spendiere. Was drittens mit erstens vollständig zusammenfällt.

Und das muss man zugeben: Für so einen Beweis ist das Berlin der Nach-Diepgen-Ära selten gut geeignet.

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In der Hauptstadt kommt schon sehr viel von dem zusammen, was etliche Leute früher einmal dermaßen gegen die von Kapital und Lohnarbeit diktierten Lebensverhältnisse aufgebracht hat, dass sie darüber auf das Projekt verfallen sind, „es“ ganz anders, „sozialistisch“ statt „kapitalistisch“, angehen zu lassen; Dinge, die auch den heutigen Erben dieser vergangenen „Bewegung“ noch gegen den Strich gehen könnten, auch wenn sie ihre „sozialistische“ Opposition bereits auf den höchst bescheidenen Einwand zurückgenommen haben:

„Man darf als Partei des demokratischen Sozialismus doch wohl kritisieren, dass an der Verteilung des Vermögens in dieser Gesellschaft irgendetwas nicht stimmt und die Bundesregierung dies auch noch befördert, statt wenigstens schrittweise umzuverteilen…“ (Gysi am 13.9.00 in einer Rede im deutschen Bundestag)

In Berlin hat die Spekulation des Kreditgewerbes auf zukünftige Monopolgewinne aus Grundbesitz und auf Rendite aus Büropalästen, aus Luxuswohnungen für bessere Staatsbedienstete und aus renovierten Wohnkästen fürs gemeine Volk einen ansehnlichen Boom hingelegt und nebenbei, zusammen mit gewaltigen Staatsaufträgen, der Bauindustrie reichlich Gelegenheit gegeben, an großen Heerscharen exzessiv ausgebeuteter Billigarbeiter aus aller Welt enorm viel zu verdienen. Die Staatsmacht, hier vertreten durch den Berliner Senat und dessen landeseigenes Banken-Imperium, hat diesen Boom mit Rendite-Garantien in Gang gebracht und angeheizt – und steht nun, nach dem absehbaren Zusammenbruch der Immobilienpreise, für die versprochenen Erträge gerade: mit Milliardensummen, die selbst der keiner Systemwidrigkeit verdächtige sozialdemokratische Finanzsenator als „abartig“ bezeichnet. Die Obrigkeit betätigt sich also in unverschämter Direktheit als Ersatz-Bereicherungsquelle für finanzstarke Spekulanten und setzt diese soziale Dienstleistung über ihren Landeshaushalt ins Verhältnis zu allen ihren sonstigen Ausgabeposten. Und zwar in ein eindeutiges: Alle Gewinnansprüche müssen pünktlich bedient werden; das hat Priorität. Gekürzt wird alles, was nach geltender marktwirtschaftlicher Rechnungsweise unter die Rubrik „bloße Kosten“ fällt und kein Kapitalinteresse hinter sich hat. Das betrifft die Bezahlung der Landesbediensteten, die ja bloß durch leicht revidierbare Tarifverträge und nicht durch sakrosankte Bankgarantien rechtlich abgesichert sind. Das betrifft den öffentlich finanzierten „Luxus“ für „kleine Leute“ wie Kindergärten und Hallenbäder – nach dem Motto: Wer sich keinen eigenen Pool leisten kann, soll auf den Sommer warten, und wer sich Kinder anschafft, soll selber auf sie aufpassen. Das betrifft die Sozialhilfe fürs Subproletariat, in das zahlreiche Berliner Betriebe große Teile ihrer Belegschaften überstellt haben, nachdem – sei es infolge ausbleibender Subventionen, sei es, weil potente Weltfirmen den einstigen realsozialistischen VEBs auf den Weltmärkten keine Chance gelassen haben – Profite in hinreichender Höhe ausgeblieben sind: Für so viel unnützes Volk kann „die Allgemeinheit“ unmöglich auch noch aufkommen, wenn schon für die Schuldenbedienung zu Händen der Bankenwelt ein Drittel aller Steuereinnahmen – oder sind es schon zwei? – draufgeht. Geradezu mustergültig sorgt der kleine „ideelle“, nämlich politische, und über seine landeseigene Bankgesellschaft zugleich ziemlich reelle Berliner Gesamtkapitalist für die Bereicherung seiner finanzkapitalistisch engagierten „Besserverdienenden“, betreibt komplementär dazu die Verelendung der Mehrheit, die ohnehin nichts besitzt. Und als dem Demos sittlich verpflichtete Kratie agitiert er dafür auch noch mit betörenden Begründungen: Erstens geht es gar nicht anders, weil alles andere ganz einfach unrealistisch und außerdem mit der Rechtslage unvereinbar wäre – ein unbestreitbar richtiger Hinweis, der freilich weniger für die Schönheiten einer staatlich umsorgten Klassengesellschaft spricht als gegen deren unbestrittene Realität und gegen die Rechtsordnung, mit der die Staatsgewalt ihren geschätzten Bürgern diese Realität vorschreibt und aufherrscht. Und zweitens ist die haushälterische Zuteilung von Anspruchsrechten an Kapitaleigentümer und Verzichtsverpflichtungen an Eigentumslose auch unbedingt sozial, weil das höchste Gut, das den Letzteren zugänglich ist – ein Arbeitsplatz, auf dem sich ein Lohn erarbeiten lässt, bekanntlich vom Wohlergehen des Kapitals abhängt. Verärgerte Sozialisten sind angesichts dieser Sach- und Begründungslage schon mal auf den Gedanken gekommen, man sollte sich alle sowieso hoffnungslosen, weil in die kapitalistische Realität ohnehin nicht hinein passenden Reformversuche schenken, das Recht des Eigentums überhaupt abschaffen und die gesellschaftliche Realität gleich vernünftig organisieren; und sie haben die Abhängigkeit der Ernährungslage der eigentumslosen Massen vom Kapital auch schon mal mehr für ein Argument gegen den Kapitalismus gehalten als für einen guten Grund, dem Kapital viel Erfolg beim lohnenden Ausbeuten von Arbeitskräften zu wünschen. Jetzt sollen also Tausende von Arbeitsplätzen bei der Berliner Bankgesellschaft auf dem Spiel stehen – wie wär’s denn mit einer Umschulung zu Kindergärtnern? Und wenn die Zwänge des Haushalts das nicht zulassen – warum nicht gleich planmäßig wirtschaften statt mit Haushaltsplänen das Klassenverhältnis pflegen? Die Haushaltsexperten von Stadt und Land würde man damit gleich auch noch von großen Drangsalen erlösen – denn das ist die dritte Frechheit, mit der diese Figuren ihren „Bankenskandal“ und dessen Abwicklung der Öffentlichkeit erklären: Die eigentlichen Leid Tragenden wären ganz eindeutig sie; sie wären die wahren Opfer der Opfer, die sie anderen zumuten; aber sie wären auch so tapfer, dass sie, statt den „einfachen Weg“ radikaler Kritik einzuschlagen, die Zähne zusammenbeißen und den ärmeren Leuten notdürftige finanzielle Leistungen entziehen, weil sonst die Finanzen nicht mehr stimmen…

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Sachzwanghafte und realitätskonforme Geldgier, die Brutalität einer klassenstaatlichen Haushaltsführung und ideologische Unverschämtheit prägen die marktwirtschaftliche Idylle allemal; und was die bei den letzten Wahlen so erfolgreichen „demokratischen Sozialisten“ in Berlin antreffen, ist eine arg dreiste Kombination aller drei Elemente. Und genau da wollen sie sich unbedingt und hemmungslos einmischen nach der Maxime: Genau das wollen wir machen, und genau das können wir auch, obwohl es uns niemand zutraut, und zwar besser als alle andern. Das Berliner Elend kommt ihnen gerade recht als öffentlich zelebrierte Bewährungsprobe für ihre unbedingte Entschlossenheit, es aller Welt zu zeigen, dass sie vor nichts zurückschrecken und sich vor überhaupt nichts mehr ekeln, was zum marktwirtschaftlichen Alltag einer demokratisch ermächtigten Herrschaft im freiheitlich-christlich-sozialen Abendland gehört. Allen voran legt Gysi selbst größten Wert darauf, mit der Übernahme des Amtes für Kapitalismus am Standort Berlin jegliche „Berührungsängste“ mit der Sorte Reichtum, der Sozialisten früher einmal zumindest eine gewisse Skepsis entgegen gebracht haben, nachdrücklich zu dementieren und Kompetenz zu beweisen, indem er die beiden Seiten des „Konsolidierungsprogramms“, das so hervorragend kreditdienlich einerseits Risiken für die Finanzkräftigen abschirmt und andererseits Risiken für die Lebensführung der minderbemittelten Bürger vermehrt, für absolut „notwendig“ und „alternativlos“ (vgl. FR vom 9.4. und taz vom 20.3.) erklärt.

Und er bekommt das Echo, auf das er es abgesehen hat. „Willkommen, Herr Senator“ übertitelt das Fachblatt „Financial Times Deutschland“ – das ja schon aus Gründen seiner Bornierung aufs Finanzwesen wissen muss, wer da richtig liegt und wer nicht – am 12.4. einen Artikel über Gysi: willkommen im Club der verantwortungsbewussten und gnadenlos kompetenten Männer und -innen, die, ohne rot zu werden, für die von ihnen wahrgenommene Pflicht, dem Kapital zu Diensten zu sein, allerlei Soziales aus dem Regierungsprogramm ausmustern. Diesen Ritterschlag zur Regierungsfähigkeit ergänzt einer, der es auch wissen muss, ein gewisser Herr Woriescheck vom Babcock-Vorstand um einen Elativ: „Außerordentlich realistisch“ sei er gewesen, der Herr Gysi in Gesprächen mit ihm (ebenda). Der Realismus, der dem „Sozialisten“ im Amt des Wirtschaftssenators da bescheinigt wird, hat mit den Realitäten des Berliner Wirtschaftslebens haargenau so viel zu tun: Der Mann ist uneingeschränkt dafür, nach den Kriterien der kapitalistischen Geldvermehrung zu regieren, d.h. den Standort zuzurichten; er ist unwiderruflich entschlossen, alle dafür nötigen Realitäten zu schaffen – in Form neuer Kredite zur „Wirtschaftsförderung“ etwa, deren Bedienung dann wieder zu „Realismus“ bei der weiteren Haushaltsplanung des Landes zwingt. Dass diese unverrückbare Parteilichkeit für das System und seine Erfolgskriterien mit dem Ehrentitel „Realismus“ versehen wird, hat den schönen und erwünschten Effekt, dass damit die mit einer ausreichenden Dosis von Gewalt alternativlos gültig gemachten Prinzipien der demokratisch-marktwirtschaftlichen Geld- und Machtvermehrung als welche da stehen, die getrennt von Gewalt und Parteilichkeit schlechthin gelten, unumstößlich und alternativlos qua Wirklichkeit: Es gibt kein Argument dafür, es braucht aber auch gar keins, weil „die Verhältnisse“ bereits alles geregelt haben.

Dass dem Babcock-Kapitalisten der Realismus des Herrn Senator Gysi „außerordentlich“ vorkommt, liegt an seinem Vorurteil, das er schon bei seiner ersten Begegnung mit dem PDS-Mann entkräftet findet – und, was Gysi betrifft, an dessen Ehrgeiz, genau dieses Vorurteil außer Kraft zu setzen. Der PDS-Genosse will eben überhaupt nicht bloß so realitätskonform, kapitalistisch sachgerecht und sozial zynisch regieren, wie das noch jeder Politiker tut, der im bürgerlichen Gemeinwesen ein nennenswertes Stück Macht erobert hat. Er will, indem er genau so mitregiert, gleich auch neu definieren und praktisch festlegen, wie heutzutage Sozialismus geht: dass der überhaupt nichts mehr mit dem kunstledernen Mief der DDR-Vergangenheit zu tun hat und auch nichts mit sozialromantischer Weltfremdheit, der die bürgerliche Welt bestenfalls in den Feuilleton-Seiten ihrer Politik noch ein ungefährliches Plätzchen einräumt, sondern dass er im Realismus prokapitalistischer Parteilichkeit, der Grundvoraussetzung demokratischer Regierungsfähigkeit, ohne Rest aufgeht. Das ist es, was den Finanzmann überrascht, weil es ihm so vorkommt, als hätte da der „linke“ Gregor über Nacht eine Verwandlung durchgemacht – und der genießt die Überraschung, den Schein und, vor allem, die Achtung, die er da bei einem leibhaftigen Funktionär der finanzkräftigen besseren Gesellschaft findet.

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Etwas anders liegt die Sache mit seiner Partei. Die erlebt zwar auch mit tiefer Genugtuung nach, wie gut ihr mitregierender Berliner Repräsentant bei den kapitalistischen Bossen ankommt. Dass der „Sozialismus“, den sie im Namen führt, genau und nur so und nicht anders gemeint ist, im Endeffekt für nichts anderes als „Regierungsfähigkeit“ nach den herrschenden Maßstäben der kapitalistischen Republik stehen soll, das will sie aber schon noch erklärt kriegen. In der Richtung muss Gysi daher belehrend wirken.

Da trifft es sich gut, dass er sich dieser Mühe bereits unterzogen hat. In seinem Buch „Ein Blick zurück, ein Schritt nach vorn“ (Hamburg 2001) bekämpft er schon das dumme Missverständnis, „Sozialismus“ hätte etwas mit Kritik am Kapitalismus und dem ernsthaften Willen zu seiner Abschaffung zu tun. Er definiert ihn dort, was seine Partei betrifft, als doppelten Potentialis: …PDS, die Möglichkeit einer sozialistischen Option in der deutschen Gesellschaft… (S.380) Dabei gelingt ihm eine bemerkenswert schlüssige Deduktion seines „Sozialismus-Begriffs“ aus dem Attribut, das die PDS ihrer Namen gebenden Erinnerung an das Endziel der einstigen Arbeiterbewegung vorangestellt hat. Exemplarisch so:

„Die Verantwortlichen jeder Partei müssen wissen, dass sie das Profil der eigenen Partei nur begrenzt selbst bestimmen. Es hängt auch immer davon ab, welches Profil durch andere Parteien nicht besetzt ist und was einer Partei in einer konkreten gesellschaftlich-historischen Situation abverlangt wird. Nur naive Dogmatiker und Fundamentalisten glauben, das Profil einer Bewegung ausschließlich selbst bestimmen zu können.“ (S.334 f.)

Was eine Partei sich vornimmt, ihr Programm, fällt für den gelehrigen Schüler der bürgerlichen Demokratie von vornherein in den Bereich der kalkulierten Außenwirkung, des öffentlichkeitswirksamen Erscheinungsbilds, kurz: des Profils der Partei. Und ein solches Profil erwirbt man sich nicht durch die „naiv-dogmatische“ Kundgabe dessen, was man vorhat. Da muss man vielmehr schauen, welche im demokratischen Geschäft handelsüblichen Unterscheidungsmerkmale, mit denen ehrbare politische Parteien Unkenntlichkeit zu vermeiden pflegen, gerade von der Konkurrenz vernachlässigt werden und ob man damit bei gewissen noch nicht optimal abgeholten Wählern Punkte machen und Stimmen sammeln könnte; von da her „positioniert“ man sich – erklärt der auf- und abgeklärte Fundamentalist in Sachen Demokratie seinen begriffsstutzigen Genossen und rückt so die altbackene, in Zoni-Kreisen womöglich noch „dogmatisch“ für wahr gehaltene Ideologie vom Pluralismus der politischen Parteien zurecht, nach der man glauben soll, dass an deren Anfang eine bestimmte Vorstellung und Überzeugung davon steht, was Land und Leuten irgendwie gut tut; mit diesem politischen „Profil“ ginge man dann beim Wähler werben; und wenn man damit ausreichend Erfolg hätte, käme man an die Regierung, an der man dann seine Vorstellung umsetzen könne; wobei man allerdings bisweilen betrübt feststellen müsse, dass das Schönste und Beste wg. diversen politischen und ökonomischen „Sachzwängen“ gar nicht so einfach zu realisieren sei…[1] Gar nicht naiv, stellt der Erfolgsdogmatiker seiner Partei diese Legende vom Kopf auf die Füße und spricht die Wahrheit über das Verhältnis von politischer Position, die man sich zulegt, und politischer Macht, die man anstrebt, gelassen aus: Politiker wird man mit dem Entschluss, Herrschaft zu exekutieren – selbstverständlich die, die es gibt, mit allen dafür einschlägigen Inhalten und Programmpunkten; insofern und deswegen unterscheiden sich die Politiker in einem ordentlich beherrschten Land auch nicht wirklich voneinander. Unterscheiden muss man sich aber, um an die Exekutive gewählt zu werden; denn dafür muss man den Konkurrenten möglichst viele Stimmen abjagen und auf sich vereinigen. Dafür braucht es ein „Profil“, das nicht schon von der Konkurrenz „besetzt“ ist: Mit dem geht man dann bei den anvisierten Stimmbürgern hausieren – alles nach dem Motto: Man wird sich in der freiheitlichsten aller Welten doch wohl noch eine Überzeugung raussuchen dürfen, mit der man sich beim Wähler Erfolg verspricht.

Auf die Art – so will er jedenfalls mit seinen „Bekenntnissen“ verstanden sein – ist der schlaue Mann aus dem Osten darauf verfallen, den „Sozialismus“ zum Markenzeichen einer Partei zu machen resp. als solches beizubehalten, die im bundesdeutsch annektierten Ost-Volk eine ihre Existenz sichernde Wählerschaft aufzutun gedachte.

„Theoretisch hätte auch eine andere als eine linke Partei eine solche Funktion“, nämlich die „Anwaltsrolle“ für die ehemaligen DDR-Bürger, „übernehmen können. Aber die Geschichte der DDR schloss dies praktisch aus.“ (S.21)

Da ist also einiges glücklich zusammengetroffen: Eine linke Partei hat man in Gestalt der in einen demokratischen Wahlverein zu transformierenden SED zur Hand; mit der besetzt man „die Lücke“ in der Parteienlandschaft, die mit lauter Ossis vollgestellt ist; denn die sind zu erheblichen Teilen immer noch mehr oder weniger heftig von der Staatsideologie des realen Sozialismus infiziert, also immer noch ein wenig von sozialistischem Gedankengut versaut. Für Gysi und seine Partei passen daher diese „Lücke“ und der Sozialismus als Erfolgsmethode der Machtbeschaffung aufeinander wie der Arsch auf den Eimer. Umgekehrt folgt aus diesem „Profil“ für das, was man, im Erfolgsfall an der Herrschaft beteiligt, als Machthaber zu erledigen hat, überhaupt nichts. Und es darf auch nichts daraus folgen – aus Gründen der „Regierungsfähigkeit“. Deswegen sind Oppositionszeiten eine gute Gelegenheit, sich mit abweichenden Meinungen, zur Vermögensverteilung in der Gesellschaft und einer fälligen Umverteilung zugunsten der Armen beispielsweise, von den anderen und vor allem den Regierungsparteien abzusetzen; doch damit ist Schluss, wenn es ans Mitregieren geht. Spätestens dann muss klar sein, dass an der klassenstaatlichen Agenda nichts zu deuteln ist und man in der Oppositionsrolle nur die Lizenz zu dosierter und rein ideeller Verantwortungslosigkeit genossen hat. Sollten dann Widersprüche zwischen „Profil“ und Regierungspraxis allzu deutlich auffallen, hilft das bereits von den Sozialdemokraten zu Tode gerittene, mittlerweile abgelegte, also herrenlose und deswegen gut zu übernehmende verlogene leider, mit dem der Herr Senator die Leistungen des Landeshaushalts für eine ordentliche Vermögensverteilung zwischen den gesellschaftlichen Klassen als alternativlosen Sachzwang bedauert – also rechtfertigt:

„Dass die Leute das nicht verstehen, kann ich nachvollziehen, ich will es auch nicht, muss es aber akzeptieren.“ (Gysi in FTD, 12.4.)

Und mit dem unausgesprochenen Hinweis, dass man noch viel Schlimmeres beschließen könnte – und demnächst wohl auch noch beschließen muss… –, lässt sich auch noch an den tief bedauerten Gemeinheiten des Klassenstaats etwas Soziales kenntlich machen – so Gysi in seiner Antwort auf die natürlich selber schon berechnend gestellte Frage:

„Wie wollen Sie die Personalkosten sozial gerecht um 2 Milliarden Mark kürzen?“
„Die sozialste Gerechtigkeit besteht darin, auf betriebsbedingte Kündigungen zu verzichten und die natürliche Fluktuation zu nutzen.“ (Tagesspiegel, 16.12.01)

Sozial im Superlativ sind demnach Entlassungen, die eigentlich keine sind, weil sich die Auszusortierenden in gewissem Sinne selber entlassen; allerdings sind diese Nicht-Entlassungen leider nur die schönste Form der Entlassungen, deren größerer Teil dann wahrscheinlich doch „betriebsbedingt“ sein muss…

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An regierungsamtlichem Zynismus bleibt der „linke“ Wirtschaftssenator also so wenig schuldig wie an regierungsamtlichem „Realismus“: Er hilft tatkräftig mit, die vermögenswirksamen Realitäten zu reproduzieren, die ihm ihrerseits für diese Politik als Leitfaden dienen; und er stellt klar, dass „Sozialismus“ für ihn und seine Partei nicht mehr und nicht weniger ist als ein gegen „Unkenntlichkeit“ und „Verwechselbarkeit“ absicherndes Etikett, das durch die Ausnahmesituation der „Wiedervereinigung“ eine unverhoffte Chance als Werbemittel bekommen hat. Doch das alles ist noch gar nicht der ganze und schon gar nicht der wahre Gregor Gysi. Der zeichnet sich dadurch aus, dass er sich dieser ganzen Mühsal nur unterzieht, weil eine höhere Pflicht ihn ruft: die Anwaltspflicht, seiner Mandantschaft, dem Ex-DDR-Volk, im neuen Deutschland ihr Recht zu verschaffen – und damit umgekehrt der Nation zu einer gescheiten Integration ihres neu hinzuerworbenen Volksteils zu verhelfen. In SEINEN eigenen Worten:

„Die Aufgabenstellung hat sich im Laufe der Zeit erweitert. Schien es zunächst so, dass in dem neuen Deutschland nur PDS-Mitglieder, ehemalige SED-Mitglieder und vor allem ehemalige Angehörige des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR unerwünscht seien, entstand nach dem 3. Oktober bei den Menschen in den neuen Bundesländern immer stärker der Eindruck, sie seien insgesamt eher geduldet als erwünscht. Ihre Immobilien schienen wichtiger zu sein als sie selbst. Aus der Aufgabe, Anwalt der PDS zu sein, entwickelte sich zunehmend die Aufgabe, auch Anwalt zumindest eines beachtlichen Teils der Ostdeutschen zu werden.“ (S.17)
„Meine ostdeutsche Herkunft und meine Art, politisch zu agieren, ermöglichten es mir, auch diesbezüglich eine Anwaltsrolle einzunehmen.“ (S.21)

So ist er, und so ist er ganz er selbst: Als Volksanwalt des Ostens eint er die Nation, und zwar in höchsteigener Person. Diese Berufung erfüllt sich in seiner Position als Mit-Regent Berlins. Denn dadurch führt er die randständigen, missachteten Ossis endlich mitten hinein ins deutsche Vaterland – einfach dadurch, dass jetzt ER als deren anerkannter, durch Wahlen beglaubigter Repräsentant aktiv tut, was denen bislang bloß von „den andern“ angetan worden ist. Gerade als Wirtschaftssenator – Wirtschaftsminister wäre natürlich noch besser, aber das Leben ist ja noch nicht vorbei – und gerade durch die kapitalistisch-klassenstaatliche Eindeutigkeit der Regierungs-Agenda, die er exekutieren hilft, heilt ER, was er schon längst als den entscheidenden Mangel an der bisherigen Annexions- und Aneignungspolitik der BRD ausgemacht und aufgedeckt hat:

„Die weitgehende Entmachtung und Entlassung der ostdeutschen Eliten und die Übernahme ihrer Positionen durch Westdeutsche haben Spätfolgen bis heute. Dadurch entstand Fremdbestimmung, und bei den Ostdeutschen entwickelte sich das Gefühl, für bestimmte Aufgaben in der gesamtdeutschen Gesellschaft als ungeeignet angesehen zu werden… Nur ostdeutsche Eliten hätten die ostdeutsche Bevölkerung von der Notwendigkeit der Umstrukturierungen einigermaßen überzeugen können. Nur sie wären auch in der Lage gewesen, durch Selbstwandel eine schrittweise Veränderung des geltenden Wertesystems zu bewirken. Durch die Etablierung der westdeutschen Eliten im Osten galten die gesamten Umstrukturierungen, galt jede Schließung eines Unternehmens, jeder Arbeitsplatzverlust als fremdbestimmt, war also der Bevölkerung nur sehr begrenzt zu vermitteln.“ (S.135)

Das ist es also: Nicht der Kapitalismus ist schlimm, sondern dass er den Betroffenen nicht von Leuten aufgehalst worden ist, die denen aus landsmannschaftlichen Gründen wie ihresgleichen vorkommen. Damit ist jetzt Schluss. In seiner, Gregor Gysis, Person besteht jetzt endlich die Chance, den Zonis ihr deutsch-kapitalistisches „Schicksal“ als ihre ureigene Sache begreiflich zu machen und sie so gleich doppelt zu versöhnen: mit der kapitalistischen Benutzung oder auch vor allem Nicht-Benutzung ihrer Arbeitskraft und ihrem entsprechenden materiellen wie moralischen Lebensstandard und mit der nationalen Staatsmacht, die darüber Regie führt; und das, nochmals, schlicht dadurch, dass endlich ein elitärer Sack aus Ostdeutschland, der sich von den Westparteien nicht hat schlucken lassen, bei der Regie assistiert. Wenn überhaupt noch irgendetwas auf der Welt, dann lässt das die beleidigten Landsleute aus der Ex-DDR schließlich doch begreifen und anerkennen, dass ein Kapitalismus ohne Wenn und Aber ihre neue Heimat ist und diese neue Heimat auf den Namen Deutschland hört, ohne irgendwelche Zusätze – „Sozialismus“ ist nichts weiter als der von der PDS gepflegte Name, ER, Gysi, der leibhaftige Repräsentant, ja der personifizierte Vollzug ihrer Ankunft in dieser neuen Heimat.

Daran kann die Nation im Allgemeinen und ihr altgedientes West-Volk im Besonderen letztlich auch nur ihr Wohlgefallen haben. Denn wenn sie sich nicht böswillig der besseren Einsicht verweigern, dann haben sie im Berliner Wirtschaftssenator eben den lebenden und leibhaftigen Beweis vor Augen, dass die noch nicht vollständig vom alten bundesrepublikanischen Parteienspektrum aufgesogene ostdeutsche Polit-Elite samt der Minderheit im Volk, die sich immer noch lieber durch solche als durch Wessi-Typen repräsentiert sehen möchte, gar nicht bloß aus dummen Stasi-Knechten mit dunkelroter Gesinnung besteht, sondern, wenn man sie nur lässt, kapitalistische Notwendigkeiten genau so gut versteht, billigt und durchsetzt, von Anti-Kapitalismus genauso wenig angekränkelt ist, die demokratischen Sitten genauso gut beherrscht und sich an Zuneigung zum gesamtdeutschen Vaterland genauso wenig übertreffen lässt wie die altgedienten Westler. Die müssen bloß einsehen, was ein Gysi sie lehrt:

„… mein Weg hin zum und im vereinigten Deutschland war nicht nur in dem Sinne einmalig, wie jedes Leben einmalig ist, sondern meine Situation spiegelt in besonderer Weise die Kompliziertheit des Vereinigungsprozesses wider.“ (S.9)

Und nicht nur das. Der Mann spiegelt nicht bloß wider, und schon gar nicht bloß die Kompliziertheit: ER ist, in aller Bescheidenheit sei’s gesagt, gelebte Wiedervereinigung in Person. Und schön langsam kommt die Republik ja auch auf den Geschmack und merkt, was sie an IHM hat:

„Andererseits denke ich, dass ich insgesamt meinen politischen Überzeugungen, meinem Stil, meiner Kultur, meiner Art von Humor treu geblieben bin und dass vielleicht in dieser Treue eher als in irgendeiner Form von Anpassung die gewachsene Akzeptanz begründet liegt. Das hieße dann, dass sich auch Teile der Gesellschaft verändert hätten. Während sie jemanden wie mich zunächst nur als störend, überflüssig, als aus einer fremden Welt und einer gestrigen Zeit stammend angesehen hatten, betrachten sie mich heute eher als eine Bereicherung für sich und andere. Damit habe ich als einzelne Person schon eine Menge an Veränderung erreicht.“ (S.380)

Und das war schon vor seiner Vereidigung als Berliner Senator für Wirtschaft, Soziales und Frauen der Fall. Heute ist er bereits dabei, Berlin aus Filz und Provinzialität zu befreien und die Stadt zu vereinen – Herkules-Aufgaben, um die er sich bei der Wahl beworben hatte, weil seiner Einschätzung nach (laut n-tv-Interview vom 9.1.02 und Tagesschau-Interview vom 6.12.01) keiner seiner Mitkandidaten dazu fähig war. Und morgen? Gregor Gysi als Vizekanzler unter Guido Westerwelle – dann, endlich, wären Freiheit und „Sozialismus“ ultimativ versöhnt, und sie wäre vollendet, die „innere Einheit Deutschlands“.

[1] Dasselbe noch Mal, einfach schamlos, im Originalton Gysi: Bliebe die PDS einfach bei ihrem bisherigen Profil stehen, wehrte sie sich erfolgreich dagegen, linke sozialdemokratische Positionen mit zu vertreten, dann entstünde zwischen ihr und der in die Mitte wandernden SPD eine immer größere Lücke, bis eine gesellschaftliche Bewegung dazwischen Platz fände, die durchaus fünf Prozent und mehr der Bürgerinnen und Bürger erreichen könnte. Schöbe sich aber zwischen die PDS und die SPD eine weitere Partei, würde die PDS automatisch so an den Rand gedrängt werden, dass ihre Existenz gefährdet wäre. Wenn sie andererseits ihr Profil so entwickelte, dass es immer bis an den Rand der SPD, sogar etwas darüber hinaus reichte, liefe sie Gefahr, sich von der jeweiligen Entwicklung der SPD abhängig zu machen und ihr Profil ebenfalls zur Mitte hin zu verschieben. Eine Partei muss in der Lage sein, beide Gefahren bewusst zur Kenntnis zu nehmen und auf dieser Grundlage eine politische Entscheidung zu treffen… Die PDS müsste in einem höchst bewussten politischen Vorgang beides versuchen, nämlich die Lücke zwischen sich und der SPD nie zu groß werden zu lassen, dabei auch Änderungen des eigenen Profils hinzunehmen und dennoch Unkenntlichkeit zu vermeiden. (ebd., S.310)