Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Skandal um die ‚moralische Großmacht‘ Günter Grass:
Der Dichter, die Waffen-SS, das lange Schweigen, das Häuten einer Zwiebel und die verlorene Ehre des Oskar Matzerath
Grass bekennt in seinem autobiografischen Buch „Beim Häuten der Zwiebel“ und in vorab gegebenen Interviews, dass er in den letzten Kriegsmonaten nicht, wie er bislang glauben ließ, als ‚glühender kleiner Nazi‘ bei der Flugabwehr, sondern bei der – „Es musste raus!“ – Waffen-SS gedient hat.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Gliederung
- Das weite Feld des Günter Grass: der nationale Wertehimmel und seine kritische Pflege
- Grass’ politische Passion: Tätige Vergangenheitsbewältigung zum Lob der Demokratie
- Die Konkurrenz moralischer Weltbilder und der Bedarf nach moralischen Autoritäten
- Der Phänotyp einer moralischen Autorität
- Der Schöngeist als moralischer Leuchtturm
Skandal um die ‚moralische Großmacht‘
Günter Grass:
Der Dichter, die Waffen-SS, das
lange Schweigen, das Häuten einer Zwiebel und die
verlorene Ehre des Oskar Matzerath
Mit dem ‚Häuten der Zwiebel‘ kündigt Günter Grass –
metaphorisch, versteht sich – an, Schicht für Schicht
seiner vielschichtigen Persönlichkeit offenzulegen. Keine
biografisch bedeutsame Begebenheit soll geschont werden.
Da stilisiert sich nicht einer, der von Anfang an den
‚geraden Weg‘ gegangen ist. Da präsentiert sich vielmehr
einer, der nach seiner ideologischen Desorientierung
durch den ‚Zusammenbruch‘ einige mühevolle Jahre der
Sinnsuche und Selbstfindung durchleben musste, um nach
und nach zu einem berühmten Künstler und vorbildlichen
Demokraten zu werden. Das betont ehrliche Bekenntnis zu
den Schattenseiten eines Lebens in schwerer Zeit soll die
Glaubwürdigkeit der Selbstauskunft erhöhen. Aber: Grass’
persönlicher Bildungsroman ist offenbar noch nicht zu
Ende. Im greisen Alter muss er nun die Erfahrung machen,
dass man es mit der Ehrlichkeit auch zu weit treiben
kann. Dann hebt sie gar nicht mehr die Glaubwürdigkeit,
sondern verdirbt sie. Was ist geschehen? Grass bekennt in
seinem autobiografischen Buch Beim Häuten der
Zwiebel
und in vorab gegebenen Interviews, dass er in
den letzten Kriegsmonaten nicht, wie er bislang glauben
ließ, als ‚glühender kleiner Nazi‘ bei der Flugabwehr,
sondern bei der – Es musste raus!
– Waffen-SS
gedient hat. Grass? Waffen-SS! Das lässt aufhorchen. Ein
Glück, dass der Elite-Nazi noch ein ‚kleiner Nazi‘ von 17
Jahren war. Das macht die Schmach verzeihlich. Eine
Jugendsünde. Warum aber das lange Versteckspiel? Hatte
die Öffentlichkeit nicht das Recht zu wissen, dass
unser großer Nationaldichter
(Die Welt, 14.8.06), der sich immerzu als
moralischer Scharfrichter der Nation
(Spiegel, 21.8.) hervorgetan hat, selbst
keine ganz weiße Weste hat? Jahrzehntelang hat Grass die
deutsche Gesinnungskultur entnazifiziert, schwang die
Moralkeule gegen jeden nationalen Verantwortungsträger,
der irgendwie ins Dritte Reich verstrickt war. Und jetzt
stellt sich auf einmal heraus, dass der Saubermann selbst
eine kleine SS-Vergangenheit unbewältigt ein halbes Leben
und eine ganze Karriere lang mitgeschleppt hat. Dieser
Widerspruch ist gut für ein Skandälchen im öffentlichen
Leben der Republik und für ein großes Trara in den
illustren Kreisen des nationalen Feuilletons. Zu
bewältigen ist die pikante Frage: Legt sich der ‚Mief der
Heuchelei‘, den Grass der Nation bei jeder Gelegenheit
vorgehalten hat, auf den Blechtrommler
?
(Spiegel, 21.8.)
Das weite Feld des Günter Grass: der nationale Wertehimmel und seine kritische Pflege
Kritisch-Sein ist Grass’ Markenzeichen: Keine
Ungerechtigkeit der Welt war vor seiner Geißelung sicher,
keine Debatte lief ohne ihn.
(Stern, 17.8.) Ideelle Amtsanmaßung ist
das bevorzugte Stilmittel seiner ‚Wortmeldungen‘:
Ganze Regierungsprogramme hat Grass in seinen
Interviews entworfen, Kataloge mit dem, was zu tun und zu
unterlassen ist … Er gerierte sich als allzuständiger
Aufsichtsratsvorsitzender der SPD. Und man kann das
getrost auf das ganze Land übertragen.
(Spiegel, 21.8.) Solche Nervensägen
werden im politkulturellen Leben einer Nation offenbar
dringend gebraucht. Wie sonst würde so einer zur
moralischen Ikone
(SZ,
19.8.) und sogar zum inkarnierten schlechten
Gewissen der Republik
(Stern,
17.8.) aufsteigen? Auch die allseitige Anteilnahme
an der gegenwärtigen dosierten Demontage der Ikone
verweist auf die bedeutende Rolle, die eine moralische
Selbst-Vergewisserung, eine Selbstbespiegelung im Licht
fraglos anzuerkennender Werte in einem modernen,
aufgeklärten Gemeinwesen spielt. Dieses weite Feld der
nationalen Moralität ist mit dem altmodischen Begriff
‚Überbau‘ immer noch am treffendsten charakterisiert:
Getrennt von allen hässlichen Gegensätzen des
marktwirtschaftlichen Alltags und den Härten des
sprichwörtlich ‚schmutzigen‘ Geschäfts der Politik pflegt
die Nation von sich das erhebende Bild einer auf edle
Werte gegründeten und edlen Werten zugetanen
Gemeinschaft. Sie will sich nicht darauf
verlassen, dass die Leute kraft des stummen Zwangs der
Verhältnisse, also bloß notgedrungen ihre Rechte
wahrnehmen und ihren Pflichten nachkommen. Kein Mitglied
dieser imaginierten Gemeinschaft soll bloß pragmatisch
als Arbeitgeber, Arbeitnehmer oder Arbeitsloser, als
Vermieter, Mieter oder Obdachloser, als Händler, Kunde
oder Ladendieb sein Leben fristen. Ein demokratisches
Gemeinwesen legt großen Wert auf den freien und
gleichzeitig unbedingten, d.h. gegenüber dem Ertrag des
Mitmachens gleichgültigen Willen seiner Insassen zu ihm.
Das erfordert eine Gesinnung, in welcher der
Mensch die Nation jenseits der Gegensätze, die sie
ausmachen und die ihm zu schaffen machen, als
seine Nation auffasst und sich als
gleichberechtigter und gleichwertiger Teil der nationalen
Gemeinschaft versteht. Gefragt ist ein Ideal von der
Nation, das nicht schnödes Geschäft als ihren obersten
Daseinszweck ausweist, sondern hohe Werte, die
jeder teilen kann, und als deren Teilhaber jeder
Ehre einlegen kann.
Ist die Klassengesellschaft erst einmal in eine nationale
Wertegemeinschaft übersetzt, kann sich jeder noch so
kleine Volkskörper in ihr beheimatet fühlen. Er braucht
‚nur‘ der alltäglichen gesellschaftlichen und politischen
Realität voller Gemeinheiten des wechselseitigen
Sich-Fertig-Machens ihre Ideale als ihr
eigentliches Wesen entgegen- und zugute zu
halten. Dieses ‚Nur‘ bedarf jedoch, soll es gelingen, der
ständigen Betreuung. Das ist das Geschäft von großen
Geistern wie Günter Grass: Ihr Metier ist Kritik von
‚Missständen‘ im Namen der besagten Werte und Ideale.
Alles, was Politiker in Gesetzesform unter die Leute
bringen, alle ‚Zumutungen‘ und ‚Wohltaten‘ befragen sie
danach, ob sie als Dienst oder Bärendienst im Hinblick
auf die Verwirklichung des nationalen Wertehimmels
anzusehen sind. Alle unschönen Erscheinungen der
Klassengesellschaft, die so gar nicht ins Bild des
Schönen, Guten und Wahren passen wollen, verharmlosen sie
damit systematisch zur bloßen Abweichung von
dem, was nach allgemeiner Übereinkunft eigentlich gilt
bzw. gelten sollte: Grass sagte, was gut und böse ist.
Und alle hörten zu. Die einen, um sich aufzuregen. Die
anderen, um Halt zu finden in einer Welt voller
Grauen.
(Stern, 17.8.)
Eine aufschlussreiche Auskunft: Gerade das Schlechte
einer ‚Welt voller Grauen‘ beflügelt das idealistische
Bedürfnis nach dem Guten und seinen menschlichen
Inkarnationen. Das ist der Sumpf für große Dichtung und
verlogene Wahrheiten.
Grass’ politische Passion: Tätige Vergangenheitsbewältigung zum Lob der Demokratie
Das Bedürfnis nach einer Idealisierung der Nation
bedeutete für den bundesrepublikanischen Rechtsnachfolger
des Dritten Reiches auch die Konstruktion und Pflege
eines affirmativen Selbstbildes der Nation gegen
ihre braune Vergangenheit. Gegen die ihr hochoffiziell
zugesprochene Alleinschuld an einem verbrecherischen
Weltkrieg und einem beispiellosen Genozid galt es, das
Bild von der deutschen Nation als einer edlen Werten
verpflichteten Gemeinschaft neu zu begründen bzw. zu
verteidigen. Dem dient die Vergangenheitsbewältigung,
seit es sie gibt. In diesem Bereich der nationalen
Selbstbespiegelung hat Grass sich jahrzehntelang als
Exponent einer offensiv-selbstkritischen Variante
hervorgetan. Die simple Dialektik seines Antifaschismus:
Die einsichtige und reuevolle Verurteilung dieses
Jahrzwölfts der Nationalgeschichte als unverzeihliche
Missetat, die das Volk als kollektives Kontinuum sich
zurechnen muss, ist schon die gründliche Besserung und
belegt unschlagbar die Bekehrung Deutschlands zu den
Idealen von Demokratie, Freiheit und Humanismus. Leute
wie Grass legen ihre ganze Ehre darein, ‚nichts zu
beschönigen‘ und sich von niemandem in der Abscheu gegen
die ‚Verbrechen Hitlers‘ übertreffen zu lassen. Wie
besessen gab er vielem von dem, was er sagte, einen Bezug
zum Dritten Reich.
(Spiegel,
21.8.) Demonstratives Schämen und öffentliche
Selbstanklage zur Überwindung der Anklage der Nation.
Grass hat diesen Standpunkt nicht nur zur schöngeistigen
Literatur geformt, sondern auch als tätige Reue
öffentlich betrieben. Zeitlebens hat er ‚gegen das
Vergessen und Verdrängen‘ angeschrieben und angestänkert,
ist mit lautstarken Anklagen dafür eingetreten, dass
‚belastete Personen‘ nicht schon wieder ‚Verantwortung
tragen‘.
– So adressiert er etwa 1965 einen seiner unzähligen
offenen Briefe an den damaligen Kanzler Ludwig Erhard. Es
geht um die anstehende Verlängerung der
Verjährungsfristen für Mord, ohne die Naziverbrecher ab
da straffrei gewesen wären, und die Erhard zunächst
ablehnte: Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, treten Sie
bitte zurück.
Und weiter: Die Bürger der
Bundesrepublik haben, solange ihr Staat besteht, noch nie
solchen Anlass gehabt, Scham zu zeigen.
– Erhards Amtsnachfolger, Kurt Georg Kiesinger,
empfiehlt er 1966, gar nicht erst als Bundeskanzler
anzutreten: Sehr geehrter Herr Kiesinger, bevor Sie
morgen zum Bundeskanzler gewählt werden, will ich einen
letzten Versuch unternehmen, Sie zur Einsicht zu bewegen
… Wie sollen wir der gefolterten und ermordeten
Widerstandskämpfer, wie sollen wir der Toten von
Auschwitz und Treblinka gedenken, wenn Sie, der Mitläufer
von damals, es wagten, heute hier die Richtlinien der
Politik zu bestimmen.
– Anlässlich des gemeinsamen Besuchs des
Bundeskanzlers Helmut Kohl und des amerikanischen
Präsidenten Ronald Reagan auf dem Soldatenfriedhof
Bitburg 1985 wirft er diesem Kanzler
Geschichtsklitterung
vor, weil der die Schuld der
dort unter anderen bestatteten – ausgerechnet! –
Waffen-SS-Leute verharmlose. Grass besteht demgegenüber
darauf, dass Unwissenheit nicht freispricht. Sie ist
selbst verschuldet, zumal die besagte Mehrheit wohl
wusste, dass es Konzentrationslager gab … Alle wussten,
konnten wissen, hätten wissen müssen.
An Leuten, die die Richtlinien der bundesrepublikanischen
Politik bestimmen, interessiert Grass hauptseitig eines:
ihre weiße Weste bezüglich des Dritten Reiches. Sein
Thema ist die demokratische Glaubwürdigkeit der
obersten Staatsdiener. An der Bundesrepublik macht ihm
dementsprechend lediglich die – surreale – Möglichkeit
Sorgen, dass sie faschistisch rückfällig werden könnte.
Ist uns die Wiederholungstat in Runenschrift
vorgeschrieben?
fragt er ominös. Und in deutschen
Waffenlieferungen an den Irak 1991 sieht er seinen
Verdacht auch schon bestätigt: Nun schließt sich der
Kreis. Nun ist diese jüngere, nachwachsende Generation
mitverantwortlich für etwas, was auf der Wannseekonferenz
1942 begann und jetzt in gewisser Weise eine Fortsetzung
findet.
Die Botschaft all dieser ‚öffentlichen
Einsprüche‘ ist immer gleich und immer gleich affirmativ:
Die Bundesrepublik ist ihrem Wesen nach ein so gutes, vom
Faschismus geläutertes Staatswesen, dass nicht einmal ihr
oberstes Führungspersonal zu ihr passt. Vor lauter
Begeisterung für die hohen Werte der Republik schämt er
sich – öffentlich, versteht sich – für ihre Kanzler.
Eine so gnadenlos gute Meinung über ‚ihren‘ Staat hat
vielen seiner Bürger ebenso aus der Seele gesprochen wie
die davon abgeleiteten Polemiken gegen unwürdige
Verantwortungsträger. Beides war aber auch Anlass für
böse Feindschaften gegenüber dem Moral-Apostel
(Spiegel, 21.8.). Und zwar
von patriotischen Leuten, die seine Art der
Vergangenheitsbewältigung als verräterische
Nestbeschmutzung empfanden und den Beweis antraten, dass
der nationale Idealismus keineswegs ein Privileg ‚der
Linken‘ ist. Die Gegner des antifaschistischen
Patriotismus bzw. der moralischen Läuterung durch
Kniefall sind nicht minder auf eine moralische
Ehrenrettung der Nation aus, können aber mit der
Dialektik von Reue und Rehabilitierung nichts anfangen.
Sie entdecken in der Verurteilung des Faschismus als
Fehltritt der Deutschen nicht das Bekenntnis zur Nation
als moralischer Veranstaltung und die Idealisierung der
demokratisch verfassten Bundesrepublik, sondern
Verrat. Diese Vergangenheitsbewältiger weisen
jede Kollektivschuld zurück. Sie bereuen nicht und sie
schämen sich für nichts. Sie trennen einfach die Nation
von der ‚Nazi-Herrschaft‘ und rechnen die Schuld ganz der
‚braunen Verbrecherbande‘ zu, die eben nicht die
Nation zu ihren kriegerischen und rassehygienischen
Großprojekten hinter sich vereinigen konnte, sondern
lediglich das Volk verführt und den ‚Namen Deutschlands‘
missbraucht hat. Was als Schuld von ‚Mitläufern‘ dann
noch übrig bleibt, rechnen sie locker gegen die Schuld,
die ohnehin jede Nation auf ihrem Konto hat, auf, und
fertig ist die historische Kontinuität einer im Kern
stets guten und ihrem guten Kern stets treu gebliebenen
Volksgemeinschaft.
Die Konkurrenz moralischer Weltbilder und der Bedarf nach moralischen Autoritäten
Der Witz an dieser Rivalität zweier Geschichtsbilder ist das, was sie eint: Beide rücken die gegenwärtige Nation ins rechte Licht. Insofern ist der Streit zwischen den beiden Moralismen zur deutschen Vergangenheit ein schönes Exempel dafür, wie die moralische Selbstbespiegelung in einer pluralistischen Demokratie läuft. Es sind die definierten Probleme und Anliegen der Nation, die den Stachel zu ihrer Idealisierung im Lichte höherer Gesichtspunkte bilden. Natürlich entstehen so verschiedenartige Ideologien zur Lage der Nation. Das tut der Sache jedoch keinen Abbruch. In der Frage, wie sich der idealistisch erzogene Bürger seine Lage bzw. die ‚seiner‘ Nation jeweils zurechtlegen will, ist eine gewisse Bandbreite des pluralistischen Meinens und Interpretierens nicht nur erlaubt, sondern sogar nützlich. Die muntere Rivalität gegensätzlicher moralischer Selbstinterpretationen und ihrer Exponenten bestimmt das geistige Leben einer Nation und überführt politische und gesellschaftliche Gegensätze systematisch in nationale Gewissensfragen.
Soll der moralische Diskurs einer bürgerlichen Öffentlichkeit ein gedeihlicher sein, muss der schöne Schein des Kapitalismus und der staatlichen Gewalt, die ihn verwaltet, verbindliche Ausdrucksformen finden. Sachbezogene Argumente kommen dafür nicht in Betracht. Es geht ja gerade darum, sich von objektiven Urteilen über das reale Gemeinwesen in Richtung erhebender Gesichtspunkte zu verabschieden, um auf diesen lichten Höhen Meinungen zu bilden und auszutauschen. Also werden Sprachregelungen eingebürgert, in denen die moralische Überhöhung von gegensätzlichen Interessen und politischen Antagonismen zu festen Formeln gerinnt. Das vermittelt dem Bürger Sinn und Orientierung und sorgt dafür, dass die moralische Meinungsvielfalt ihren Konnex zu den politisch definierten Problemen und Zielen der Nation nicht verliert. Auf diese Weise kommt es zu einem Phänomen, das nur vordergründig betrachtet widersprüchlich erscheint: Die bunte Vielfalt der Meinungen, die in allen Kommentaren und Diskussionen immerzu als ganz persönliche und ureigene vorstellig gemacht werden, reduziert sich regelmäßig auf einige wenige, allgemein bekannte Stereotypen. Dazu gehören z.B. schönfärberische Synonyme wie ‚Antiterrorkrieg‘ für die amerikanisch betriebene Neuordnung der Welt oder ‚Friedensprozess‘ für den israelischen Dauerkrieg im Nahen Osten oder auch ‚Globalisierung‘ für die unwidersprechliche Notwendigkeit einer schonungslosen Standortpolitik. Konkurrierende politische oder gesellschaftliche Interessen und Vorhaben treten immer gleich mit festen moralischen Referenzen auf. Wenn man etwa in Berlin ehrgeiziger, also gewalttätiger in weltpolitischen Ordnungsfragen mitmischen will, heißt es, man könne sich ‚der gewachsenen Verantwortung als potente Mittelmacht nicht länger entziehen‘, muss andererseits jedoch ‚wegen der deutschen Geschichte mit besonderem Bedacht‘ vorgehen. Wird das nationale Lohnniveau gesenkt, um den Geschäftsstandort aufzumöbeln, dient das der ‚Erhaltung unserer Arbeitsplätze‘; andererseits soll sich ‚Leistung weiterhin lohnen‘. Werden die Kosten für Gesundheit privatisiert oder die des Arbeitslosenheeres heruntergefahren, dient das der ‚Gerechtigkeit zwischen den Generationen‘, andererseits muss für den verdienten Arbeitsmann ‚Gesundheit bezahlbar‘ und ein ‚Alter in Würde möglich‘ bleiben. Und so weiter. Kein Interesse, das sich nicht in Form standardisierter Werte-Bezüge vorträgt – und umgekehrt darauf festgelegt ist. Das sorgt dafür, dass kein politischer Streit und noch nicht mal eine triviale Talkshow aus dem Rahmen fallen.
Solche Sprach- und Denkregelungen wollen erfunden und in Umlauf gebracht sein. Das schaffen nur Leute, die nicht bloß das Moralisieren beherrschen – das kann jeder –, sondern damit öffentlich Eindruck machen und dem Moralismus des Gemeinwesens anerkannten Ausdruck verleihen. Dafür gibt es das vielgestaltige Angebot moralischer Autoritäten. Die beglaubigen mit dem Gewicht ihrer gesellschaftlich-politischen Stellung, dem Rang ihres persönlichen Ansehens und mit dem Charme ihrer Persönlichkeit, die sich alle drei aus ihrer schieren Macht und ihrem herausragenden Erfolg in irgendeiner Sparte des öffentlichen Lebens ableiten, die Gültigkeit der Sprachregelungen. So verankern sich die ideologischen Klischees fest im Assoziationsbestand des mündigen Bürgers und sorgen für ein allzeit konstruktives, auf der Höhe ‚der Zeit‘ angesiedeltes, sprich den definierten Problemlagen und Handlungsbedürfnissen der Politik gemäßes Denken und Argumentieren. Umgekehrt dient der Kanon der in Kraft befindlichen Sprachregelungen der Selbstvergewisserung von Leuten, die sich als mündige Mitglieder einer nationalen Gemeinschaft verstehen. Denen verschafft er die Sicherheit, mit ihrer jeweiligen Fasson eines moralischen Weltbildes richtig, d.h. im Spektrum des politisch ‚vernünftigen‘ Denkens zu liegen. Wer sich auf alles einen moralischen, d.h. auf allgemeingültige Werte bezogenen Reim macht, möchte damit auch durch eine allgemeine, d.h. öffentlich anerkannte Billigung dieses Urteils bestätigt werden. Der demokratische Untertan will sich in einer moralischen Autorität wiedererkennen und sich von Zeit zu Zeit sagen können: ‚Endlich sagt es mal einer!‘
Der Phänotyp einer moralischen Autorität
Was zeichnet eine Galionsfigur der demokratischen
Meinungs- bzw. Moralwirtschaft aus? Das weiß erst einmal
jeder. Das sind Leute, die an legitime
Regierungsbevollmächtigte die ausgefallene Anrede:
Sehr geehrter Herr Bundeskanzler, treten Sie bitte
zurück
richten können, und die Post landet nicht in
der Ablage mit dem Etikett ‚Verrückte‘, sondern im
Feuilleton. Am Inhalt des Schreibens kann das schon mal
nicht liegen. Als moralische Autorität kommt nur in
Frage, wer unabhängig davon, was er zu sagen
hat, etwas zu sagen hat, weil er
gesellschaftlichen Erfolg hat und entsprechende
(Macht-)Positionen innehat. Diesen prominenten und
potenten Leuten ist der Respekt ‚normaler Menschen‘
sicher, weil die Interpretation von Macht als
Verantwortung, von Herrschaft als Fürsorgepflicht, von
Führungsposten als Last, die ihren Trägern moralische
Kompetenz abverlangt, längst zur
selbstverständlichen geistigen Grundausstattung eines
funktionierenden Volkes gehört. Der Machthaber als
Vorbild. Das ist dann die Messlatte für den ganzen
Artenreichtum moralischer Autoritäten. Politiker sollen
vertrauenswürdige, am Allgemeinwohl und seinem
Sittenkodex orientierte Führer sein. Unternehmer und ihre
Geschäftsführer haben einer sozialverantwortlichen
Aufgabe als Arbeitgeber gerecht zu werden. Von
Prominenten wird ganz allgemein der Beweis erwartet, dass
die Elite aus einwandfrei guten Gründen eine ist. All
diese Figuren stehen dafür ein, dass das bürgerliche
Leben eine einzige Ansammlung von Normen und Werten, von
Sitte und Anstand darstellt. Sie gelten als Kronzeugen
dafür, dass die hierarchische Ordnung des Ladens
letztlich in Ordnung geht.
Um in diesem Sinne wahrgenommen zu werden und solche Botschaften erfolgreich ‚rüberzubringen‘, müssen moralische Autoritäten zweierlei bewerkstelligen: Sie müssen einer angesagten Moral, einer, die ‚in die Zeit passt‘, d.h. einen politischen Bedarf deckt, und die der freie Meinungsbildner gerne bestätigt haben möchte, das Wort reden. Und sie müssen als Person diesem Schwindel Ehre machen, so dass man ihnen den gerne abnimmt. Keine ganz leichte Aufgabe: Ein Leben lang müssen die Charaktermasken der Moral sich öffentlich so in Szene setzen, dass beim Publikum ein stimmiges, also glaubwürdiges Bild von ihnen als von hohen Werten und Einsichten inspirierten Persönlichkeiten entsteht. Wer das schafft, wird für die Beglaubigung eines der konkurrierenden moralischen Selbstbilder der Gesellschaft in Anspruch genommen, wobei es keine Rolle mehr spielt, wenn er auf dem Metier, auf dem die jeweiligen höheren Gesichtspunkte angesiedelt sind, gar nicht zu Hause ist. Umgekehrt mischen sich solche Leute von sich aus furchtbar gerne in diesem Sinne ein. Politisch z.B. mit Sympathieerklärungen für einen zur Wahl stehenden Politiker – so etwa Grass für Willy Brandt und die Es-Pe-De –, dem sie mit ihrer Glaubwürdigkeit als anerkannte Moralisten politische Glaubwürdigkeit als geeignete Führerperson bestätigen und verschaffen.
Der Schöngeist als moralischer Leuchtturm
Warum macht die Öffentlichkeit ausgerechnet
Schriftsteller so gern zu moralischen Autoritäten?
(SZ, 19.8.) fragt sich eine
Kulturredaktion etwas verdutzt, nachdem Grass in Verruf
geraten ist. Dabei hat sie den Dichter nicht von ungefähr
jahrzehntelang als solche präsentiert. Für den Nimbus
hoher moralischer Kompetenz sind epische Dichtung
produzierende Schöngeister besonders qualifiziert, weil
sie ohnehin von Berufs wegen den Weltenlauf als
Realisierung oder Verfehlung von hohen Werten
hererzählen. Die Frage, inwieweit die Moral der Dichtung
den moralischen Nerv des Publikums trifft, entscheidet
dann über die Karriere des Dichters zur Witzfigur des
‚armen Poeten‘ oder zur moralischen Autorität eines
‚Großschriftstellers‘. Mit seinem antifaschistischen
Schreiben gegen das Vergessen
ist Grass da immer
richtig gelegen. Und er verstand es auch zeitlebens,
seinen veröffentlichten Lebenswandel – aus dem er die
SS-Episode wohlweislich heraushielt – in Übereinstimmung
zu seinen moralischen Maßstäben zu halten. Das
verschaffte dem Mann Glaubwürdigkeit und ließ
ihn zum großen Charakter werden: Der Cheerleader der
Gutmenschen
(Stern,
17.8.) besitzt die moralische Lufthoheit des
‚besseren Deutschland‘
(Welt,
14.8.) und vertritt bei Gelegenheit sogar den
Bundesadler als Wappentier der Republik
(Spiegel, 21.8.). Aber: Je
größer die Ehre, desto höher die Fallhöhe eines
kompromittierten Ehrenmannes. Grass’ Doppelbekenntnis, in
der Waffen-SS gedient zu haben und dies dem Publikum ein
ganzes Leben lang verschwiegen zu haben, wirkt wie eine
Art moralischer Selbstmord
. Ärger und Missgunst
machen sich breit, wenn sich herausstellt, dass der
moralische Leuchtturm, an dem sich weite
Bevölkerungskreise so gern orientiert und bestätigt
haben, womöglich auf Sand gebaut ist.
„Im Gutsein wollte Grass immer der Beste sein: bester Kriegserinnerer von allen. Nun führt er nur noch die Liste mit den breitesten Gräben zwischen Anspruch und Wirklichkeit an.“ Das legt nahe, „an der Wahrhaftigkeit, Glaubwürdigkeit und moralischen Legitimität von Redehäuptlingen wie Grass zu zweifeln, die jahrzehntelang anderen das Fehlen gerade dieser Qualitäten vorgeworfen haben.“ (Spiegel, 21.8.)
Dieser Widerspruch bringt die Konkurrenz der moralischen
Autoritäten auf Trab. Im Dutzend werden ihre
Moral-Gutachten Grass betreffend durch alle Kanäle der
Öffentlichkeit gejagt. Konservative Patrioten, die den
lästigen Besserwisser noch nie leiden konnten, sehen mit
seinem angegriffenen Status als moralische Autorität
zugleich seine Moral diskreditiert und die ihre
aufgewertet. Also bauschen sie den Skandal nach Kräften
auf. Die Kanzlerin voller Häme: Grass braucht sich
über die öffentlichen Reaktionen nicht zu wundern.
Kulturstaatsminister Bernd Neumann macht die Demontage
der moralischen Instanz offiziell: Als moralische
Instanz, als die er sich selbst immer sah, hat er Schaden
genommen.
Hitler-Historiker Joachim Fest, sonst auf
distinguiertes Auftreten bedacht, diffamiert für Bild:
Ich würde von diesem Mann nicht einmal mehr einen
Gebrauchtwagen kaufen.
(Bild,
24.8.) Und die Präsidentin des Zentralrats der
Juden, Charlotte Knobloch, vollstreckt das vernichtende
Urteil rückwirkend an Grass’ moralischem Wirken: Sein
Schweigen über die eigene SS-Vergangenheit führt seine
früheren Reden ad absurdum.
Ist der gute Leumund erst
einmal perdu, braucht man auf Gehässigkeiten betreffs der
literarischen Potenz des Verstoßenen nicht lange zu
warten: Sein jüngstes Werk – ein gestelzter
Schelmenroman
(Spiegel,
21.8.), der mit großem metaphorischen
Tamtam
(SZ, 19.8.) den
Dunst der Zwiebelsuppe
(FAZ,
21.8.) verströmt. Auch die Plädoyers der
Grass-Sympathisanten kommen ohne den leisesten Anflug
eines sachlichen Arguments aus. Auch diese prominenten
Vordenker verlassen sich in einer stupenden Gedankenleere
darauf, dass ihre Beiträge zur Meinungsbildung schlicht
deswegen etwas zählen, weil sie ihre Urheber
sind. Sie werfen einfach ihre Glaubwürdigkeit
für Grass’ Glaubwürdigkeit und die Integrität seines
Standpunkts auf die Waagschale. Vizekanzler Müntefering:
Das kann den Wert seines Gesamtwerks nicht
schmälern.
Schriftstellerkollege John Irving
verniedlicht den ganzen Eklat zu einem ‚shit storm‘:
Für mich bleibt Grass ein Held. Er ist literarisch ein
Vorbild und moralisch ein Kompass.
Auch der jüdische
Schriftsteller Ralph Giordano sieht keinen Anlass für
seinen Kollegen, sich auch noch wegen seiner eigenen
Vergangenheit zu schämen: Für mich verliert er durch
diese Öffnung nicht an moralischer Glaubwürdigkeit.
Selbst Volkes Stimme wird per Infratest zu so etwas wie
eine moralische Autorität zusammengefasst: Immerhin –
oder nach Geschmack: nur noch – 65% glauben
, dass
Grass eine Persönlichkeit ist, deren Wort in
politischen und moralischen Fragen weiterhin Gewicht
hat
(Spiegel, 21.8.).
Böse Worte, heiße Fehden. Aber sei’s drum. Ob Grass als ‚moralischer Kompass‘ oder bloß als literarisches Denkmal überlebt, ist nicht einmal für die moralische Lage der Nation wirklich wichtig. Das Angebot an solchen Figuren ist reichlich. Wichtig ist jedoch, dass mündige Bürger und aufgeklärte Demokraten geistige Orientierung an solchen Figuren suchen und deswegen an so einem Streit Interesse zeigen. Die idiotische Frage, ob ein prominenter Schriftsteller aufgrund seines ehren- oder zweifelhaften Charakters und Verhaltens weiterhin die Lizenz zur Beglaubigung moralischer Weltbilder hat oder nicht, treibt allen Ernstes die Leute um. Die rege Anteilnahme der nationalen Autoritäten und ihres Publikums an diesem Sujet zeigt, wie sehr das idealistische Denken bei aufgeklärten Demokraten durchgesetzt ist und wie sehr es in einer demokratischen Öffentlichkeit auf diese Sorte Meinungsbildung ankommt. Schließlich werden in einer Demokratie über Glaubwürdigkeitsfragen nicht nur Schriftsteller zu Säulenheiligen der Moral gekürt oder vom Sockel gestoßen. Es werden darüber auch Sachthemen abgehandelt. So ist die Demontage von Grass’ moralischer Autorität auch ein – abschließender – Beitrag zur Entsorgung der durch den Wiederaufstieg Deutschlands zu einem respektierten Pol der Weltpolitik obsolet gewordenen Attitüde des Schämens und der Selbstanklage. Der immer schon mit viel Berechnung und Heuchelei verbundene Bedarf an einem frei herumlaufenden ‚schlechten Gewissen der Nation‘ hat sich längst erübrigt. Von wahrlich entscheidender Bedeutung sind Glaubwürdigkeitsgesichtspunkte jedoch für die Regelung politischer Personalfragen. Mündige Demokraten wählen einen Politiker an die Schalthebel der Macht, wenn dieser glauben machen kann, dass er sie energisch und sachgerecht – was immer das sachlich bedeutet – handhaben wird. Wichtig ist das, weil die Zustimmung zur Ausübung der Macht ohne Reflex auf ihr inhaltliches Programm funktioniert. Das ständige Räsonieren über hohe Werte und die Glaubwürdigkeit ihrer öffentlichen Vertreter ist die Art und Weise, wie die Freiheit des Urteilens zielsicher zu einer Affirmation von Herrschaft führt.