Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Französische Sozialpolitik:
Pauperismus in den Farben Frankreichs

Die Regierung Jospin erlässt ein neues, viel beachtetes Sozialgesetz. Damit widmet sie sich der kapitalistisch produzierten Überbevölkerung 1. als Ordnungsproblem wie jede bürgerliche Staatsmacht; darüber hinaus sollen die französischen Paupers 2. auch noch im aussichtslosen Elend instand gehalten werden, ihrem Beruf als Citoyen der Grande Nation nachzukommen.

Aus der Zeitschrift

Französische Sozialpolitik:
Pauperismus in den Farben Frankreichs

Die Regierung Jospin erläßt ein neues, in Frankreich viel beachtetes Sozialgesetz. Sie widmet sich damit einem nationalen Problem, das seiner Herkunft nach überhaupt nicht speziell französisch ist. In allen Ländern, die eine Marktwirtschaft ihr eigen nennen, gehört eine Schicht von Leuten zur Normalität, die mit dem Arbeitsplatz ihre Erwerbsquelle verlieren und deshalb aus ihren normalen Lebensumständen herausfallen. Überall nimmt sich jedoch der Staat dieser Schicht an und definiert gesetzlich ihren Status. Erwerbslos und ohne Einkommen zu sein, ist eine Sache: daß es immer eine Menge solcher Leute gibt, das erklärt die bürgerliche Staatsmacht für ein privates Schicksal, dem sie ohnmächtig gegenübersteht. Durchaus machtvoll regelt sie hingegen, wie dieses Schicksal aussieht: Was der menschliche Ausschuß des Kapitalismus dann noch wert ist, wenn er fürs Geschäft nichts mehr wert ist; wie und als was der Mensch zählt und durchs Leben kommt, wenn er mit seinem privaten Erwerbsleben am Ende ist; wem die Armen zur Last fallen und wie groß die Last sein darf, die sie darstellen – das bestimmt die politische Herrschaft. Und da gibt es durchaus nationale Unterschiede.

Die erfolgreichste kapitalistische Nation der Welt z.B. behandelt die auf dem american way of life aus der Spur Gefallenen immer schon als Versager, und zwar vor den Anforderungen oder besser: gegenüber den Chancen eines Systems, das dem amerikanischen Musterbild des freien Menschen quasi auf den Leib geschneidert ist. Die Staatsmacht begegnet ihren Paupers demgemäß mit einem schwerwiegenden Verdacht auf unamerican activities und läßt kein Mißverständnis der Art aufkommen, social care und second harvest könnten etwas anderes sein als die unterstützenden zivilen Begleitmaßnahmen zum Einsatz von Sheriff, Drogenpolizei und Nationalgarde.

Nicht so sehr viel anders das England der New Labour Party: Dort stellt die Regierung alle, die mit „Zuwendungen“ aus den im Laufe der Jahre zusammengekommenen Betreuungsprogrammen zurechtkommen müssen, unter den Generalverdacht, Parasiten an den Staatseinnahmen zu sein. Der zuständige Minister für Sozialreform geht davon aus, daß die Mittellosen bloß das Lebensziel kennen, Sozialhilfeempfänger zu werden, und rückt ihnen mit einem neuen Wohlfahrtskontrakt zu Leibe, der sich der doppelten Zielsetzung verdankt, erstens die Sozialausgaben zu reduzieren und 1,8 Millionen Erwerbsunfähige in den Mittelpunkt der Sparmöglichkeit zu rücken, zweitens mehr Alleinerziehende, Kranke und Behinderte in Kontakt mit dem Arbeitsmarkt zu bringen (SZ, 30.3.1998). So bekämpft die Regierung Blair die Folgen der Arbeitslosigkeit, indem sie ihre Ursachen den Betroffenen zur Last legt und sie dazu zwingt, mit den Folgen alleine fertig zu werden.

Anders die Regierung Jospin in Frankreich. Den Opfern ihrer Standortpolitik, die sich um die Weihnachtszeit mit ihren Protesten nachdrücklich bemerkbar gemacht haben, widmet sie sich mit ihrem Orientierungsgesetz der Vorbeugung und des Kampfes gegen Ausgrenzung, das wirklich sämtliche Erscheinungsweisen des kapitalistischen Elends von der Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit bis zur Obdachlosigkeit umfassend reglementiert. Und zwar unter dem Gesichtspunkt, den das Gesetz in seiner Überschrift umreißt: Frankreichs Paupers – politökonomisch genau dieselbe kapitalistische Überbevölkerung, wie sie in den USA und England und allen anderen kapitalistischen Ländern auch beständig produziert wird – gelten in dem Sinn als Problemfälle, daß ihnen Ausschluß und Ausgrenzung droht und dagegen Vorkehrungen getroffen werden müssen. Ein politisches Ordnungsproblem sind sie also auch für Frankreichs regierende Linke; darin unterscheidet sich deren Standpunkt nicht von dem der angelsächsischen Partner – anders bezieht sich die bürgerliche Staatsmacht auf die wüsten Konsequenzen ihrer politischen Ökonomie sowieso nicht. Anders als die Herren Englands oder Amerikas definieren die Chefs der französischen Nation den Pauperismus aber nicht in erster Linie als ‚abweichendes Verhalten‘, das man den ‚Loosern‘ und ‚Sozialschmarotzern‘ mit den Mitteln sozialpolitischer Erpressung abzugewöhnen hat, sondern als dauerhafte Begleiterscheinung des nationalen Lebens, die als solche: als sozialer Status eigener Art, vom Staat anerkannt und ins nationale Gesellschaftsleben eingeordnet werden muß, damit das massenhafte Elend sich nicht zum Problem für den Zusammenhalt der Nation auswächst. Frankreichs Gesetzgeber will nicht gescheiterten Konkurrenzlern auf die Sprünge helfen, sondern dafür sorgen, daß seine Untertanen auch noch im aussichtslosen Elend und ohne jede Hoffnung auf eine Integration ins bürgerliche Erwerbsleben ihrem höheren Beruf nachkommen, Citoyens, Bürger der Grande Nation zu sein. In dieser Absicht trifft sich die sozialistisch-kommunistisch-grüne Regierung übrigens mit dem konservativen Präsidenten Chirac, der die Heilung der sozialen Bruchstelle zu einer Priorität seiner Amtszeit erklärt hat (SZ, 5.3.1998) – es handelt sich eben nicht um eine Linksabweichung im „globalisierten“ Weltkapitalismus, sondern wirklich um eine nationale Besonderheit. Und genau so sehen die beschlossenen Maßnahmen gegen den „Ausschluß“ der „Exclus“ auch aus.

  • In Zukunft braucht es keine feste Adresse mehr, um das Wahlrecht auszuüben; auch Obdachlose genießen das Recht, ihre staatsbürgerliche Zugehörigkeit zur Nation als Wähler zum Ausdruck zu bringen; im Bedarfsfall werden eben die Nachtasyle zum Wahllokal umfunktioniert. Elend soll kein Hindernis sein, am politischen Leben teilzunehmen.
  • Allen Personen mit regelmäßigem Wohnsitz in Frankreich wird mithilfe einer flächendeckenden Krankenversicherung das Recht auf eine medizinische Grundversorgung gewährt. Damit haben sich nicht nur der Standpunkt der Volksgesundheit sowie die Krankenhäuser mit ihrer Beschwerde durchgesetzt, andauernd Zahlungsunfähige in den Notaufnahmen umsonst behandeln zu müssen: Der französische Staat leistet sich glatt den Luxus, seine Kranken nicht bloß wegen Armut sich selbst zu überlassen.
  • Neu geregelt wird die Frist, nach der Leuten ohne Geld Wasser, Strom und Gas abgestellt werden und die Zwangsräumung aus der Wohnung droht.

Und so weiter. Nicht weniger als 142 Gesetzesartikel stehen dafür ein, daß kein Moment des in der Nation üblichen Pauperismus außer Acht gelassen wird: Ein regelrechter neuer sozialer Stand wird eingerichtet – an die 10 Millionen Personen sind unter den verschiedenen Titeln von dem Gesetzeswerk betroffen –, damit die hoffnungslos gescheiterten, d.h. durch die Geschäftsmethoden des Kapitals beschäftigungslos gemachten und für seine Wachstumsbedürfnisse überflüssigen Existenzen nicht aus dem nationalen Zusammenhang herausfallen, sondern anständige Franzosen bleiben können.

Sogar für die nur allzu absehbare Zukunft des nationalen Elends wird weitsichtig Vorsorge getroffen: Das Gesetz schließt mit dem Regierungsauftrag, eine Beobachtungsstelle für die Phänomene der Armut und des Ausschlusses zu schaffen, die Zusammensetzung des Nationalen Rates für den Kampf gegen die Armut und den sozialen Ausschluß zu erweitern sowie eine interministerielle Arbeitsgruppe zur Ausarbeitung von Regierungsvorhaben in dieser Frage einzusetzen. (Le Monde, 5.3.1998) Da kann ja nichts mehr schiefgehen…