Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Chirac droht Terrorstaaten mit Atomschlägen und deutsche Politiker winken ab:
Die Force de frappe – gewogen und für zu leicht befunden
Anlässlich seiner symbolträchtigen Visite auf dem französischen Atom-U-Boot-Stützpunkt Ile Longue stößt der französische Staatspräsident atomare Drohungen in Richtung Terrorstaaten aus und schafft es damit prompt auf die Titelseiten der Weltpresse. Allenthalben ist von einem „Paukenschlag“ die Rede.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Chirac droht Terrorstaaten mit
Atomschlägen und deutsche Politiker winken ab:
Die Force de frappe – gewogen und für
zu leicht befunden
Anlässlich seiner symbolträchtigen Visite auf dem
französischen Atom-U-Boot-Stützpunkt Ile Longue stößt der
französische Staatspräsident atomare Drohungen in
Richtung Terrorstaaten aus und schafft es damit prompt
auf die Titelseiten der Weltpresse. Allenthalben ist von
einem Paukenschlag
(Welt,
21.1.06) die Rede. Demgegenüber heben sich die
Regierungen der westlichen Führungsmächte mit einer
unüberhörbaren Wortkargheit ab: Chirac löst weltweit
Schweigen aus.
(SZ,
21.1.) Auch Berlins frische Kanzlerin will partout
nichts bemerkt haben und ist um ‚Normalität‘ bemüht:
Es gibt da überhaupt nichts zu kritisieren. Chiracs
Äußerung steht in voller Kontinuität mit der
französischen Doktrin.
Spiegelleser dürfen allerdings
bei ihrem allmontäglichen Blick hinter die Kulissen der
Macht erfahren, dass von ‚Normalität‘ nur sehr
eingeschränkt gesprochen werden kann: Im Kanzleramt
traute Merkel zunächst ihren Ohren nicht. In Windeseile
musste der Originaltext der Rede besorgt werden.
(Spiegel, 4/06) Was hat die
Kanzlerin dergestalt in Wallung gebracht? Und warum diese
Contenance nach außen?
Die neue französische Nukleardoktrin
Der Grund der Aufregung: Chirac hat mit seiner
Atomschlagsdrohung gegen Terrorstaaten eben nicht an
altbekannte Eckpfeiler der französischen
Sicherheitspolitik erinnert, sondern der Welt nichts
weniger als eine neue Nukleardoktrin verkündet. Die nimmt
präventive Atomschläge gegen Feinde eigener Wahl
ausdrücklich in den Maßnahmenkatalog der französischer
Verteidigungspolitik auf: „Wer als Staatsführer
Frankreich mit terroristischen Mitteln angreift oder in
der einen oder anderen Weise den Einsatz von
Massenvernichtungswaffen erwägt (sie besitzen, heißt
ja wohl ihren Einsatz zu erwägen!), muss mit einer
entschlossenen und angemessenen Antwort rechnen. Diese
Antwort kann konventionell sein. Sie kann aber auch
anderer Art sein.“ Den Bereich der vitalen
Interessen
, die den Einsatz von Kernwaffen künftig
rechtfertigen, erweitert Chirac um die Sicherung der
strategischen Versorgung
und die Verteidigung
verbündeter Staaten
. Frankreich definiert damit den
Fall, dass es seine wirtschaftlichen und politischen
Interessen substantiell tangiert sieht, zum
Verteidigungsfall unter Einschluss des nuklearen
Ernstfalls. Ausdrücklich betont der Präsident die
absolute Souveränität Frankreichs in Sachen Atomkrieg:
Es steht dem Präsidenten der Republik zu, die Größe
und die möglichen Konsequenzen einer Bedrohung oder
unerträglichen Erpressung dieser Interessen
einzuschätzen.
Der Witz an Chiracs Drohung gegen (in der Hauptsache
nah-östliche) Störenfriede der Weltordnung, die ja schon
längst und viel massiver, als er es je könnte, von der
amerikanischen Führungsmacht des Westens bedroht
sind, ist sein Anspruch auf eine eigene, durch
Frankreichs Machtvollkommenheit verwaltete
Nukleardrohung. Chirac kratzt damit am amerikanischen
Definitionsmonopol über Gut und Böse in der Staatenwelt.
Er hält es für einen nicht mehr länger hinnehmbaren
Mangel der französischen, aber auch der europäischen
Weltordnungspolitik, dass sie ihren Forderungen
und Angeboten nicht mit einer eigenen Atomschlagsdrohung
Nachdruck verleihen kann. Also baut er sich mit seiner
Atommacht als – im Prinzip – ebenbürtiger Gegenpol zur
transatlantischen Supermacht auf, um Europa aus seiner
Abhängigkeit von der amerikanischen Übermacht zu führen
und es gleichzeitig in eine Abhängigkeit von der
französischen Atommacht zu überführen. Letzterem dient
seine ausdrücklich betonte Bereitschaft, die Force de
frappe in eine konzertierte europäische Verteidigungs-
und Sicherheitsstrategie einzugliedern
. Chirac lobt
in diesem Sinne auch demonstrativ das Bestreben der
EU, eine gemeinsame Sicherheitsstrategie zu entwickeln,
als erste Etappe
. Der Präsident bringt so die Grande
Nation – ein weiteres Mal – als europäische Führungsmacht
ins Spiel der innereuropäischen Konkurrenz, denn es
versteht sich, dass die Richtlinienkompetenz eines
weltmächtigen Euro-Imperialismus hauptseitig der Macht
zusteht, die mit ihrer militärischen Macht die
entscheidende Geschäftsgrundlage des weltweiten
Ordnungsstiftens und Interessenvertretens beisteuert.
Französisches ‚Säbelrasseln‘ konterkariert deutsche ‚Friedenspolitik‘
Chiracs Initiative ist allerdings mit der deutschen Art,
in der Weltpolitik mitzumischen, in einer gewichtigen
Hinsicht nicht kompatibel, das zeigt die einhellige
Kritik, die Politiker aller Couleur im Einklang mit dem
nationalen Nachrichten- und Meinungswesen vorbringen. Der
allgemeine Tenor: Alleingänge à la Chirac geben Europa
der Lächerlichkeit preis, sie untergraben die Autorität,
die sie erzeugen wollen.
(Spiegel, 4/06) In der Tat: Der deutschen
wie der französischen Seite geht es um die ‚Autorität‘
ihrer Weltpolitik. Dass diese erst ‚erzeugt‘ werden soll,
verweist darauf, wie sehr beide europäischen
Führungsmächte an ihrer imperialistischen Zweitrangigkeit
laborieren. Ihre weltpolitische Geltung hängt nun einmal
von einer Respekt gebietenden Kriegsdrohung ab. Mit
Chiracs brachialem Vorstoß
(Spiegel, 4/06) ist deutlich geworden,
wie verschieden die imperialistische Staatsräson
diesseits und jenseits des Rheins zur Zeit konzipiert
ist. Während Chirac der französischen und einer
französisch geführten europäischen Weltpolitik immer mehr
mit einer eigenen offensiven Nuklearstrategie Substanz
und Geltung verschaffen will, setzt man in Berlin – bis
auf weiteres – auf den Staatsterrorismus der USA, der
seine Fähigkeit zur Umkrempelung ganzer Regionen längst
unter Beweis gestellt hat. Im Schlepptau dieser über
jeden Zweifel erhabenen ‚Autorität‘ erwarten sich
deutsche Politiker den aktuell größtmöglichen Einfluss
und Ertrag. Die deutsche Mittelmacht, deren
imperialistische Ambitionen weit über ihre Fähigkeiten
hinausreichen, setzt weiter darauf, an der amerikanischen
Weltordnungspolitik zu schmarotzen: Die deutsche
Außenpolitik nimmt die von Washington auf die Agenda der
Weltpolitik gesetzten Konflikte und Krisenherde, die sie
selbst mangels militärischer Mittel weder aufmachen noch
durchführen könnte, als Gelegenheit, sich als
vermittelnde Friedensmacht einzumischen und sich so einen
Platz in den oberen Etagen der Weltpolitik zu
verschaffen. Zu diesem Zweck stellt sie sich als potenter
und verlässlicher Alliierter der amerikanisch
geführten Weltordnungspolitik auf und pflegt gleichzeitig
die Rolle einer eigenständigen Friedensmacht
einschließlich einer wohldosierten Distanz zur
amerikanischen Führungsmacht. Das Maß, in dem die
deutsche Außenpolitik mit dieser Methode weltpolitischen
Einfluss gewinnen kann, hängt freilich von ihrem
imperialistischen Gewicht bzw. von dem staatlichen Droh-
und Erpressungspotential, das sie hinter sich versammeln
kann, ab. Von daher liegt es im deutschen Interesse und
Bestreben, möglichst den ganzen Einfluss eines deutsch
geführten Europas in die Waagschale zu werfen.
Frankreichs alternativen Weg, seinen weltpolitischen
Ambitionen zu verschaffen, sein Pochen auf eine im
Verhältnis zur amerikanischen Supermacht eigenständige
Gewaltbasis für eine eigenmächtige
französisch-europäische Weltpolitik, nimmt man in Berlin
folglich als Schwächung des eigenen Kalküls wahr: Die
Position der Europäer als Verhandlungspartner Irans in
dem Konflikt hat sich weiter verschlechtert. Eine
Rückkehr Teherans zu Verhandlungen mit der EU, ein
Einlenken in der Sache gar, erscheint noch weniger
wahrscheinlich als vorher.
(SZ,
21.1.) Die Warnung von Außenminister Walter
Steinmeier an die Adresse der ‚Staatengemeinschaft‘, doch
‚vernünftig‘ zu bleiben und weiterhin den besonnenen Weg
des Friedens und der Diplomatie zu beschreiten, ist im
Klartext eine Aufforderung an Frankreich, das deutsche
Konzept eines europäischen Imperialismus nicht zu
kündigen: Ich warne vor einer Militarisierung des
Denkens und appelliere an die internationale
Staatengemeinschaft, im Atomstreit mit Iran diplomatische
Lösungen, die immer noch zur Verfügung stehen, nach
Kräften zu nutzen und auszuschöpfen.
(SZ, 23.1.) Die heuchlerische Botschaft:
‚Wir‘ haben mit Militär wenig und mit Atom gar nichts zu
tun!
Französische Atombomben sind für deutsche Ambitionen zu leichtgewichtig
Wie sehr das ‚Denken‘ deutscher Politiker tatsächlich
‚militarisiert‘ ist, zeigt allerdings der
handfeste Grund für die deutsche Reserviertheit gegenüber
den atomaren Emanzipationsbemühungen Frankreichs: die
militärische Grundlage der deutschen Friedensdiplomatie.
Die ‚friedlichen Mittel‘ für eine ‚diplomatische Lösung‘,
die kriegerische Mittel ersetzen sollen, setzen
sie tatsächlich und nicht zu knapp voraus:
Fundament der deutschen Selbstinszenierung als
‚vernünftiger‘ Friedensvermittler an allen möglichen
Konfliktherden der Welt ist der gerade von deutschen
Politikern gern als primitiv und yankeemäßig bemäkelte
‚Militarismus‘ der USA. Nur der amerikanische Präsident
befehligt eine so absolute militärische Übermacht und
zeigt eine so glaubwürdige Entschlossenheit zu ihrem
Gebrauch, dass die ins Visier genommenen ‚Terrorstaaten‘
für eine deutsche Vermittlerdiplomatie empfänglich
werden. Die Glaubwürdigkeit deutscher Friedens- und
Vermittlertätigkeit ist direkt proportional zum
militärischen Nachdruck, mit dem sich die Weltmacht in
den diversen Konfliktherden der Welt engagiert. Die Frage
nach dem schieren militärischen Potenzial der
französischen Gewaltmaschinerie ist für die
Erfolgsaussichten deutscher Vermittlerdiplomatie folglich
existenziell, wenn sie als Alternative zur amerikanischen
Macht erwogen werden sollen. Und in dieser Hinsicht hält
man von Chiracs imperialistischen
Emanzipationsbestrebungen schon gleich nichts. Die
französischen Megatonnen an Sprengkraft mögen für die
Auslöschung ganzer Landstriche geeignet sein, sie mögen
mittlerweile sogar zu atomaren ‚chirurgischen Eingriffen‘
mit immer längeren ballistischen Reichweiten fähig sein,
sie können aber auch bloß das. Die Fähigkeit,
jeden beliebigen Staat in Schutt und Asche legen zu
können, macht noch lange keine kompetente
Weltordnungsmacht. Als jederzeit und überall
einsatzbereite und auf jeder militärischen (atomaren
und konventionellen) Eskalationsstufe fraglos
überlegene militärische Grundlage für die deutsche
Weltpolitik ist die französische Kleinausgabe des
amerikanischen Vorbilds offenbar zu wenig ‚glaubwürdig‘.
Auch und gerade deswegen befürchtet man in Berlin, der
Lächerlichkeit
anheim zu fallen.
Und von alledem will Frau Merkel nichts bemerkt haben? Eben: Sie will nichts bemerkt haben. Wenn die Bundeskanzlerin als Repräsentantin der deutsch-französischen Freundschaft so demonstrativ die forschen Fortschritte der französischen Militärstrategie sowie die offensichtlichen Emanzipationsbemühungen Frankreichs gegenüber Amerika ignoriert, so ist auch das eine ebenso freundschaftliche wie unmissverständliche Form der Absage: Wer keine außenpolitische Umorientierung beim engsten Bündnispartner erkennen will, betrachtet jede Einladung, sich ihr anzuschließen, als ‚gegenstandslos‘. Dass es in der Europäischen Union schon zu Auseinandersetzungen über solch erlesene Fragen der imperialistischen Methode kommt, zeigt jenseits der aktuellen Differenzen eine Gemeinsamkeit der beiden europäischen Führungsmächte: das hohe Niveau ihrer weltpolitischen Ambitionen.