Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Flüchtlingslager in Nordafrika:
An der Abwendung der humanitären Katastrophe wird gearbeitet

Noch bevor afrikanische Flüchtlinge sich aufs Wasser und in eine ungewisse Zukunft begeben, sollen sie nach Schilys Vorstellungen auf EU-finanzierte „Empfangszentren“ (Neusprech für Lager) treffen, woselbst, nebst der einen oder anderen Rolle Stacheldraht, die „gemeinsame europäische Migrationspolitik“ auf sie wartet.

Aus der Zeitschrift

Flüchtlingslager in Nordafrika:
An der Abwendung der humanitären Katastrophe wird gearbeitet

Erst kürzlich konnte eine menschenfreundliche Öffentlichkeit sich über Tausende namenlose Toter erschüttert zeigen, die jährlich bei ihrem Versuch, als Flüchtlinge europäisches Festland zu erreichen, im Mittelmeer ertrinken. Besonders tief betroffen zeigt sich Innenminister Schily, der jeden der Untergegangenen selbstverständlich abgeschoben hätte, wäre er je auf deutschem Boden gelandet: Sollen wir die Leute weiter im Mittelmeer sterben lassen? Ist das richtig? Nein, das Massensterben darf „nicht hingenommen“ werden, die Verhältnisse auf dem Mittelmeer schreien nach Lösungen!

Eine „Lösung“, die schon einmal nicht in Frage kommt, wäre, den Flüchtlingen endlich ihren Herzenswunsch zu erfüllen und ihnen die Aufnahme in einem EU-Land zu gewähren. Eine derartige Antwort auf die „humanitäre Katastrophe“ wäre „fatal“ – zuallererst für die flüchtenden Mitmenschen selbst. Noch mehr Menschen als bisher würden sich leichtfertig auf das lebensgefährliche Wagnis einlassen, das Mittelmeer mit seeuntauglichen Booten zu überqueren. (Schily)

Wenn Flüchtlinge auf dem Meer sterben, weil wir unsere Grenzen gegen jede andere Art, nach Europa zu kommen, abgeschottet haben, ertrinken nur noch mehr von ihnen, wenn wir sie an Land ließen. Bestechend wird diese Logik unter einer Vorraussetzung: Dass wir mit dem Heer der Elendskreaturen, das, einer „Flutwelle“ gleich, Monat für Monat an europäische Küsten schwappt, nichts anfangen können und wollen, versteht sich von selbst, ebenso wie die Pflicht der Schengen-Chefs, die Flucht nach Europa mit einem gescheiten Grenzregime zu unterbinden. Schuld am maritimen Massengrab sind also die Flüchtlinge, die es trotzdem immer wieder versuchen – denn wären sie daheim geblieben, wären sie auch nicht mit ihren Schlauchbooten abgesoffen. Nachdem alle gut gemeinten bisherigen Versuche, das Unternehmen dieser hartnäckigen Migranten chancenlos zu machen, nichts gefruchtet haben und sie nach wie vor darauf bestehen, auf unseren Meeren zu verrecken, bieten sich jetzt neue Ansatzpunkte, ihnen rundum humanitär zu helfen: Wenn wir die Menschen davon abhalten wollen, sich auf Booten in Gefahr zu begeben, dann brauchen wir ein EU-Office in Afrika. (Schily)

Noch bevor Flüchtlinge sich aufs Wasser und in eine ungewisse Zukunft begeben, sollen sie nach Schilys Vorstellungen auf EU-finanzierte „Empfangszentren“ (Neusprech für Lager) treffen, wo selbst nebst der einen oder anderen Rolle Stacheldraht die „gemeinsame europäische Migrationspolitik“ auf sie wartet. In den Asyl-Außenstellen würden Auswanderungswillige in drei Gruppen eingeteilt werden – Asylbewerber mit Aussichten auf Bewilligung, Arbeitsanwärter mit Jobaussichten in Europa und „Rückreisekandidaten“, die weder Aussicht auf das eine noch das andere haben und zurück in ihre Herkunftsländer verfrachtet oder doch zumindest „heimatnah“ untergebracht werden sollen.

Die Vorteile für die Flüchtlinge liegen auf der Hand: Statt erst langwierig und umständlich eine „Höllenfahrt“ über unsichere Gewässer zu überleben, anschließend in Lampedusa einen Asylantrag abschlägig beschieden zu bekommen und in Handschellen den Rückflug nach Darfur anzutreten, könnten sie sich gleich direkt nach ihrem „Marsch durch die Wüste“ abschieben lassen – sofern sie nicht zu den glücklichen „weniger als 1 Prozent“ gehören, denen unter den aktuell gültigen Bedingungen auch heute schon der Verbleib in einem europäischen Land erlaubt wird.

Für die Hüter der Schengener Außengrenzen sind die Vorteile auch nicht von der Hand zu weisen:

  • Die Abfanglager in den „nordafrikanischen Transitländern“ würden der Gefahr entgegenwirken, dass es den „sans papiers“ mitunter doch gelingt, durch die Maschen der EU-Asylbehörden zu schlüpfen und sich in das Heer der „illegalen Einwanderer“, das in europäischen Metropolen vegetiert, einzureihen. Im Idealfall käme es zu so einem „Einsickern“ gar nicht mehr, weil der „Strom der Migranten“ schon gestoppt, konzentriert und in die Warteschlange gestellt ist, bevor eine europäische Grenze auch nur in Sichtweite kommt.
  • Die „Aufnahmezentren“ würden die kostspielige Unterbringung und Rückführung derer erübrigen, die ohnehin in ihre „Herkunftsregion zurück müssen“, und wären zudem der geeignete Ort, abgelehnte Asylanten per Fingerabdruck und Register zu erfassen, damit man sie kennt, wenn sie das nächste Mal kommen. (Schily) „Echte“ Flüchtlinge dagegen könnten Aufnahme „in der Nähe ihres Heimatlandes“ finden, was für alle Seiten ja das Beste ist und das Asylrecht Europas bewahrt, indem man die Asylanten aus Europa ausgliedert.
  • Langwierige Gerichtsverfahren über Asylanträge (bis zu 60 Prozent aller Asylbewilligungen werden nicht durch Erstentscheider, sondern durch Gerichte erteilt) könnten endlich überflüssig werden, weil für das Stellen solcher Anträge ja zuerst einmal europäischer Boden betreten werden müsste. Wenn man außerhalb der EU eine Behörde macht, müssen Asylbewerber nicht zu Gericht gehen können wie Asylbewerber etwa in Deutschland. (Schily)
  • Flüchtlinge, die im Mittelmeer aufgegriffen werden, müssten nicht mehr, wie bisher, lediglich zur Umkehr gezwungen werden, so dass sie ihr Glück erneut versuchen konnten. Mit den Lagern in Nordafrika hätten die geplanten verstärkten Patrouillenfahrten für ihre Fracht eine erstklassige Anlaufstelle.
  • Die immer wieder drängende Frage: „Wohin mit den abgelehnten Asylanten?“, die bereits EU-Territorium erreicht haben, fände endlich eine befriedigende Generallösung, ohne sich immer erst mit „Herkunftsländern“, „sicheren Drittstaaten“, gerade aktuellen „Krisenregionen“ und sonstigen Katastrophenfällen herumschlagen zu müssen.
  • Und schließlich: Nicht jeder Flüchtling ist deswegen auch gleich überflüssig. Der italienische Christdemokrat Rocco Buttiglione weiß, dass „die EU Zuwanderer, die zur Wohlfahrt beitragen, braucht“. In britischen Textilfabriken oder spanischen Treibhäusern zum Beispiel lässt sich für das billige Menschenmaterial durchaus Verwendung finden. „Asyl aus wirtschaftlichen Gründen“ hält er deshalb für kein Schimpfwort mehr – freilich nur, sofern damit die „wirtschaftlichen Gründe“ Europas gemeint sind. Die nordafrikanischen „Migrantenlager“ sind deshalb eine „gute Idee“, weil sie den europäischen Staaten die notwendige Auslese ermöglichen, welche der Flüchtlinge sie für ihre jeweiligen „besonderen Wirtschaftsbedingungen“ gerade brauchbar finden. Die Unternehmer machen die Arbeitsverträge – sie bestimmen, wer kommen darf. (Buttiglione in der FAZ)

Für die einstweilen geplanten „Pilotprojekte“ in Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen und Mauretanien hätte man also eigentlich schon fast alles ganz wunderschön beisammen: Die Aufgabenstellung für unsere künftigen Schengen-tauglichen „Drittstaaten“; die Schnellboote und Nachtsichtgeräte, die sie brauchen, damit auch garantiert kein Schwarzafrikaner, der zu ihren Küsten strebt, das Angebot ausschlagen kann, sich in Schilys „Empfangszentren“ begrüßen zu lassen. Sogar die Bundeswehr ist schon von einem (nicht zuständigen) bayrischen Innenminister ideell in Marsch gesetzt, um ihre Erfahrungen im Lagerbau nutzbringend anzuwenden.

Fehlen nur noch zwei Sachen: Den souveränen Lagerverwaltern vor Ort gebricht es einfach noch ein wenig am „humanitären Standard“. Die amtierenden Menschenfreunde sind sich da nach harter Gewissensprüfung ganz sicher, dass ihr vornehmstes Ziel darin bestehen muss, diesen „Schurkenstaaten“ von gestern die Unterschrift unter die Genfer Flüchtlingskonvention abzuringen, um sie als humanitär einwandfreie Flüchtlingsaufbewahrer zu qualifizieren. Daran wird derzeit gearbeitet.

Zweitens muss leider festgestellt werden: Die EU ist sich mal wieder nicht einig. Während Schily bereits von der „Vorform einer europäischen Asylbehörde“ schwärmt, trifft die Aussicht, sich von Deutschland die Leitlinie in der Flüchtlingsbewirtschaftung vorgeben zu lassen, bei seinen französischen und spanischen Kollegen nicht einmal annähernd auf die gleiche Begeisterung. Auch daran wird man noch arbeiten müssen.

Und so wird den Flüchtlingen auch bis auf weiteres nicht erspart bleiben, vor Europas Küsten den Test auf die Undurchlässigkeit der Schengen-Grenzen zu machen.