Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Arbeiter! Heraus zum 1. Mai – Würde zeigen!

Der Arbeiter ist der Depp einer Wirtschaft, die ihren Gewinn aus seiner Leistung schlägt und ihm dafür möglichst wenig bezahlt. Das soll dem DGB zufolge halb so schlimm sein, ja gar nichts ausmachen, denn der Mensch ist nicht nur Kostenfaktor, sondern außerdem ein menschliches Wesen mit Würde. Dass der Kostenfaktor eine Würde hat, soll alles ungeschehen machen und heilen, was an Belastung, Existenzunsicherheit und Armut mit dieser hässlichen Rolle einhergeht.

Aus der Zeitschrift

Arbeiter! Heraus zum 1. Mai – Würde zeigen!

Man staunt über die Fähigkeit der deutschen Gewerkschaften, die Peinlichkeit ihrer Verlautbarungen immer noch einmal zu steigern. Das Motto der Mai-Kundgebungen 2005 ist in dieser Hinsicht Spitze: Du bist mehr. Mehr als eine Nummer. Mehr als ein Kostenfaktor. Du hast Würde. Zeig sie!

1.

Die frohe Botschaft, der arbeitende Mensch sei „mehr als …“, anerkennt und billigt, dass er die berühmte kleine Nummer und der fürs Kapital stets zu teure Kostenfaktor wirklich ist. Eine Nummer zu sein, müsste ihn ja nicht weiter beunruhigen – das ist er auch in der Kartei seiner Gewerkschaft –, wenn es nicht die Personalbüros kapitalistischer Unternehmen wären, wo er als Nummer geführt und wo mit ihm als Leistungserbringer und Kostenfaktor kalkuliert wird. Im Trost, dass das Dasein als Kostenfaktor nicht alles gewesen sein darf, unterstellen die Parolen-Schmiede vom Deutschen-Gewerkschafts-Bund, dass Kostenfaktor in der Gewinnrechnung anderer zu sein eine beschissene Rolle ist. Sie sagen es selbst: Der Arbeiter ist der Depp einer Wirtschaft, die ihren Gewinn aus seiner Leistung schlägt und ihm dafür möglichst wenig bezahlt.

Das alles soll dem DGB zufolge halb so schlimm sein, ja gar nichts ausmachen, denn der Mensch ist nicht nur Kostenfaktor, sondern außerdem ein menschliches Wesen mit Würde. Dass der Kostenfaktor eine Würde hat, soll alles ungeschehen machen und heilen, was an Belastung, Existenzunsicherheit und Armut mit dieser hässlichen Rolle einhergeht.

2.

Man weiß nicht so recht, ob sich das Pochen auf die Menschenwürde vorwiegend an den Staat richtet, der sie im Grundgesetz zu seinem ersten und edelsten Schutzobjekt erklärt hat. Wenn das aber ein zeitgemäßes Fordern sein soll, ist es das jämmerlichste, das sich vorstellen lässt. In den Gründungsjahren der Gewerkschaften waren die schlechten Erfahrungen, die Arbeiter mit ihrer Rolle als Kostenfaktor gemacht hatten, Grund und Antrieb für den Kampf um einen erträglichen Lohn. Man hat gegen die Interessen der Fabrikherren und gegen die Grundsätze des Staates, der die Unternehmerfreiheit schützt, auf Berücksichtigung der Existenzbedürfnisse der Lohnarbeiter bestanden und dafür die andere Seite daran erinnert, dass sie von deren Arbeit lebt, hat ihre Abhängigkeit ausgereizt, sie mit Arbeitsniederlegungen erpresst und Forderungen durchgekämpft.

Der DGB unserer Tage ist von der Ohnmacht und einseitigen Abhängigkeit der Arbeiter von der anderen Seite vollkommen überzeugt. Vom starken Arm, der alle Räder stillstehen lassen kann, wenn er nur will, ist nichts geblieben. Heute richten Gewerkschafter ihre Hoffnungen auf die Macht des Staates, erinnern ihn an sein Versprechen, die Menschenwürde schützen zu wollen. Dass die Regierung seine Hoffnungen enttäuscht und seine Anti-Hartz-Proteste abgeschmettert hat, nimmt dieser Haufen seiner SPD aber nicht übel, sondern korrigiert sich: Er will nicht schon wieder unangenehm auffallen und nicht weiter ins Abseits der Schröder-Republik geraten. Statt Staat oder Kapital mit Forderungen zu belästigen, kultiviert der DGB das Bewusstsein seiner Ohnmacht und erneuert seinen Glauben an die guten Aufgaben der Macht: Die kann, was die Gewerkschaft nicht kann, nämlich die Würde der Schwachen schützen. Die Bettelvögte vom DGB wollen ihrer Regierung noch nicht einmal direkt vorwerfen, sie würde mit Hartz IV, Niedriglohnsektor etc. die Menschenwürde verletzen; sie erlauben sich nur die ungeheuer freche Ermahnung, der Staat solle seinen guten Grundsätzen treu bleiben und die Würde des Arbeiters schützen. Dabei tut der das! Der juristischen Abstraktion „Würde“ ist leicht Genüge getan: Auch der Lohnarbeiter ist eine freie Person, deren Rechte staatlichen Schutz genießen. Auch mit ihm dürfen die wirtschaftlich Mächtigen nicht alles machen: Sie dürfen ihn nicht mehr ausbeuten, als es die liberalen Gesetze des Landes vorsehen. Aber was hilft die Vorschrift, dass Unternehmer mit ihren Arbeitskräften nicht alles machen dürfen, gegen alles das, was sie nach Recht und Gesetz mit ihnen machen dürfen!

3.

Vielleicht aber ist die Mai-Parole gar nicht so politisch gemeint. Unmittelbar richtet sie sich ja weniger an den Staat, als an die eigene Basis. Der bietet die moderne Interessenvertretung Seelenmassage für ein angeknackstes Selbstbewusstsein: Arbeiter, ihr werdet schlecht behandelt! Ihr seid die Deppen der Nation, daran ist nicht zu rütteln! Aber ihr selbst braucht eure gute Meinung über euch nicht aufzugeben, wenn sonst schon niemand Respekt vor euch hat! Auch ihr seid Menschen und habt Würde! Ausgerechnet eine Organisation, die einmal materielle Interessen voranbringen wollte, propagiert „Würde“, jene mysteriöse Restgröße, die dem Menschen angeblich bleibt, wenn ihm alles weggenommen, wenn sonst alles verloren ist. Nicht zufällig geht es um Würde nur in allerschlimmsten Umständen: in Krieg und Kriegsgefangenschaft, im Gefängnis, im Pflegeheim, bei Obdachlosen und beim Sterben. An diesem Fetisch eines unverlierbaren Eigenwerts jenseits bleibender Not, Armut, Hilflosigkeit sollen die deutschen Arbeiter in schwerer Zeit ihre Seele wärmen. Billigeren Trost hat auch der Papst nicht zu bieten.

4.

Genaugenommen freilich spendet der DGB seinen Leuten den pfäffischen Trost gar nicht, sondern tritt ihnen fordernd gegenüber. Sie sollen den ungebrochenen Glauben an ihren menschlichen Eigenwert gefälligst öffentlich bekennen: Zeigt Würde! Zeigt, dass ihr euch nicht für die Arschlöcher haltet, als die Staat und Wirtschaft euch behandeln! Wenigstens ihr selbst müsst noch daran glauben, dass ihr mehr seid als die Profitrechnungen, die mit euch angestellt werden. Bekennt euch als brave Arbeiter zu euch, zu eurer Rolle und zu eurem Glauben an den Respekt, den die Welt euch schuldet. Und bekennt euch dadurch zu eurer Gewerkschaft, die genau diese proletarische Selbstachtung politisch vertritt! Seid keine Nummern! Kommt massenhaft zu den Mai-Kundgebungen, damit wir euch zählen und damit Eindruck schinden können.