Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Dicke Luft zwischen Kohl und Weizsäcker
Die Macht, ihr (Ex-)Geist und das Problem der Parteibeiträge
Die öffentlich konstatierte Erfolglosigkeit der Regierung Kohl drängt den Ex-Bundespräsidenten zur Ehrenrettung der demokratischen Machtausübung. Mit dem Vorwurf der Machtversessenheit greift er die Glaubwürdigkeit des amtierenden Kanzlers an.
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Dicke Luft zwischen Kohl und
Weizsäcker
Die Macht, ihr (Ex-)Geist und das
Problem der Parteibeiträge
Auch drei Jahre nach Ende seiner Amtszeit kann Weizsäcker
das nicht lassen, worin er nach Überzeugung aller
Beobachter und Liebhaber des politischen Getriebes in der
bundesdeutschen Präsidenten-Galerie Maßstäbe gesetzt
haben soll: ER spricht zum Volke.
Sicher, diesmal ist es keine seiner legendären „großen
Reden“ – die werden jetzt von seinem Nachfolger auf
dessen mehr volkstümlich-niederbayrische Tour zelebriert.
Ein eher profanes Spiegel-Interview muß herhalten, um die
abgewogenen Weizsäcker’schen Erkenntnisse zur Lage der
Nation in Umlauf zu bringen. Aber trotzdem: Schön hat er
da wieder geredet – so gedrechselt und doch so klar, so
kritisch und dabei doch so vornehm zurückhaltend. Er
nennt keine Namen, sondern räsoniert über Verfehlungen,
die sich das politische System in der
Regierungsverantwortung
hat zuschulden kommen lassen…
Wir nehmen also zur Kenntnis: Das System Weizsäcker
blickt auf „das System Kohl“ – und hat daran kein
Wohlgefallen. Und warum? Übermäßig viel Neues ist dem
Mann in seinem mittlerweile drei Jahre dauernden
wohlverdienten Ruhestand nicht eingefallen. Sein altes
Lieblingsthema tritt er breit: die
Machtversessenheit
und gleichzeitige
Machtvergessenheit
der Regierenden. Die sollen
nämlich vor lauter Versessenheit darauf, die nationale
Verantwortung in die Finger zu kriegen und zu behalten,
die wahre Verantwortung vor der Nation vergessen. Statt
sich im Dienste an der Nation abzuarbeiten, denkt diese
Politikerkaste nur daran, wie sie in Amt und Würden
bleibt, und hat dafür
„die von der Demokratie angebotenen Mittel zur Erringung und Bewahrung der Macht auf eine bisher nie gekannte Höhe der Perfektion getrieben“.
Weizsäckers Anklage lautet auf Korruption der Staatsmacht
durch die demokratischen Techniken ihrer Ergreifung und
Sicherung – ein Vorwurf gegen die üblichen Techniken des
demokratischen Machtkampfs, den der Alt-Bundespräsident
nicht erst selber zu erfinden brauchte; schon der letzte
großdeutsche Reichskanzler konnte die nationale
Machtvergessenheit machtversessener Parlamentarier nicht
genug geißeln. Da Weizsäcker aber als hundertprozentiger
Demokrat immerhin schon seit mehr als 52 Jahren keinerlei
Sympathien für eine faschistische Partei zeigt und erst
recht nicht vorhat, heute eine faschistische Bewegung
gegen das System in der Regierungsverantwortung
ins Leben zu rufen, möchte man ihn doch schon ganz gerne
fragen: Was sollten die gewählten Demokraten seiner
Meinung nach eigentlich sonst tun, als sich nach Kräften
darum zu bemühen, weiter die Regierungsverantwortung in
ihren bewährten Händen zu behalten? Schließlich kennt der
Mann dieses „System“ doch aus jahrzehntelanger Erfahrung
und Mitwirkung in- und auswendig und ist selber mit all
seinen Ämtern ein Beispiel dafür, daß die demokratische
Kompetenz zur Staatsführung mit dem Erfolg in der
Konkurrenz um die Macht in jeder Hinsicht zusammenfällt!
Doch Erinnerungen an seine aktive Zeit als
Bundestagsabgeordneter oder Regierender Bürgermeister von
Berlin liegen dem Ex-Bundespräsidenten fern, wenn er sich
als nationaler Mahner in der Öffentlichkeit zu Wort
meldet. Wenn Weizsäcker höhere Werte
– welche auch
immer – in den Niederungen des politischen
Alltagsgeschäfts
vermißt und einklagt, dann möchte er
nur an ein Amt seiner langen politischen
Laufbahn anknüpfen, von dessen staatstragender Funktion
er offensichtlich bis heute noch völlig besoffen ist. Als
Bundespräsident bestand sein Job in nichts anderem, als
neben – oder besser gesagt: über – allen Gegensätzen, die
die Politik schafft und verwaltet, und abgehoben von der
Intrigenwirtschaft, die zum demokratischen
Herrschaftsbetrieb notwendigerweise dazugehört, das Ethos
der Politik, die Verantwortung für das große Ganze, zu
personifizieren. Gewiß, die Deutung der eigenen
Machtkonkurrenz und Gewaltausübung als Dienst an einem
höheren Gemeinschaftsgut und die Herrichtung des eigenen
Charakters zum Beleg, wie ernst man es mit seinen guten
Absichten meint: soviel Heuchelei gehört zum Job des
demokratischen Politikers allemal dazu. Doch weil diese
allgemeine politische Tugendhaftigkeit im Wahlkampf dann
doch ganz offiziell in Zweifel gezogen werden darf und
sich als berechnendes Manöver zu erkennen gibt, und weil
die wirklichen Regierungstaten Inhalte haben, die in den
dazu verkündeten guten Absichten immer nicht recht
aufgehen wollen, leistet sich unsere Demokratie einen
allerhöchsten Staatsposten eigens für die Repräsentation
des schönen Scheins, daß in allerletzter Instanz
betrachtet Politik eben doch eine weit edlere Sache ist
als ein von Heuchelei und Perfidie begleitetes Geholze um
die Macht und ein Herumkommandieren der Massen nach
Maßgabe kapitalistischer und imperialistischer
Konkurrenzinteressen. Um das glaubwürdig rüberzubringen:
Dafür wird ein verdienter Staatsmann von jeder anderen
Aufgabe freigestellt und vom zuständigen
Finanzministerium mit einem eigenen Präsidialhaushalt
ausgestattet. Und diesen Job hat Weizsäcker so perfekt
auf sich zugeschnitten und nach allgemeinem Urteil so
mustergültig erledigt, daß er ihn gleich für zwei
Amtsperioden behalten durfte. Institutionell getrennt von
jedem wirklichen Einfluß auf die gerade aktuellen
„Sachnotwendigkeiten“ der Bonner Politik, hat er über
alles und jedes seinen Senf ausgegossen, mal mehr auf die
verständnisvoll harmonisierende, mal mehr auf die
abgewogen liberal-kritische Tour den „vordergründigen“
Gegensatz und „hintergründigen“ Zusammenhang von Macht
und Geist kultiviert. Besonnen hat er das Volk dazu
angeleitet, im Politiker den Beauftragten der ganzen
Volksgemeinschaft zu fordern und zu ehren – und die
Staatsmänner gemahnt, dem Personenkult auch gerecht zu
werden, den sie von Amts wegen genießen.
Der Kanzler, der sich Weizsäcker als Staatsoberhaupt ausgesucht hatte – nach langer, reiflicher Überlegung und erst im zweiten Anlauf, wie die einschlägige Hofberichterstattung vermeldet –, hatte mit dieser Wahl also mal wieder ein glückliches Händchen in Personalfragen bewiesen. Einer, der so schön redet – wenn’s drauf ankam, sogar in Oxford-English – und so schöne Haare hat, der mußte einfach Ehre einlegen für die deutsche Nation. Und so haben sie dann zusammen 10 Jahre lang den Laden geschmissen: der eine die Richtlinien der Politik bestimmt, der andere ihren höheren Auftrag fingiert. Schon während dieser Zeit hat Weizsäcker, wie gesagt, die eine oder andere ausgewogen kritische Mahnung sowohl an das Volk als auch an „die Eliten“ erklingen lassen – das gehörte zu seinem Berufsbild, so wie er es verstand und ausfüllte.
Doch warum kann er damit nicht einmal aufhören? Warum muß er dem Volk, dem er mit mindestens 10 Jahren seiner besten Lebenszeit wahrlich genug gedient hat, zwischen zwei Karwendel-Wanderungen eine Kanzler-Schelte servieren, und das auch noch so eindeutig garstig gegen seinen Mentor und Macher Kohl wie nie während seiner Amtszeit?
Offenbar hat der würdevolle Staatspensionist ein
allgemeines Bedürfnis nach sich entdeckt, seit sich in
unserer freien pluralistischen Öffentlichkeit die
Auffassung ausgebreitet hat, daß „Kohl seinen
Machtinstinkt verloren“ hätte und deshalb das System
Kohl
irgendwie am Wanken wäre. Eine gewisse
Erfolglosigkeit der Politik, gemessen an den Maßstäben
und Sprachregelungen, die sie selber vorgegeben hat, wird
registriert, so daß mittlerweile jeder Abiturient
hundertprozentig sicher ist, daß dieses Land unter einem
„Reformstau“ ächzt, ohne auch nur den Schimmer einer
Ahnung haben zu müssen, welcher Paragraph des Steuer-
oder sonst eines Rechts den Aufschwung Deutschland
derzeit gerade knebelt. Auf diese Stimmung im Lande
steigt Weizsäcker ein. Als von seiner Verantwortung für
Deutschland durchdrungener Mensch kann er nicht einfach
den Mund halten und seinen Ruhestand genießen. Zwar ist
er de facto kein Staatsmann mehr; aber seine verflossene
Funktion für das Gemeinwesen ist ihm dermaßen zur zweiten
Natur geworden, daß zumindest er sie gar nicht mehr von
seiner sonstigen werten Persönlichkeit unterscheiden
kann. Er bleibt, was er war, nämlich die personifizierte
Glaubwürdigkeit der ideologischen Lebenslüge der
Demokratie, in ihr wäre die Macht nur dazu da, um einem
freiheitlichen Gemeinschaftsleben zu dienen. Also legt er
seinen mahnenden Zeigefinger auf jenes „Defizit“, das
mittlerweile alle Welt am Herrschaftssystem des ewigen
Kohl entdeckt haben will, und erteilt – nicht ohne
persönliche Gehässigkeit – seinem alten Partei-Kumpan von
den lichten Höhen seiner immer noch wirksamen moralischen
Autorität als Ex-Staatsoberhaupt verbal einen Rüffel.
Der Kanzler hört die Botschaft und ist beleidigt. Denn diese Zurechtweisung zielt auf das alles entscheidende Werbemittel des amtierenden Machthabers der Nation: auf seine Glaubwürdigkeit als Sachwalter einer höchsten Verantwortung; auf den dicken Mann als Figur, die ganz zu Recht als souveräner „Buddha“ im Zentrum der Macht und im Mittelpunkt stehender Ovationen sitzt. Und sie trifft etwas an dem demokratischen Kunstwerk aus Heuchelei und Erfolg, aus dem sich die politische Beliebtheit des Kanzlers zusammensetzt. Kritisch gegen jeden Zweifel an der Güte demokratischer Macht, also fundamental antikritisch, schadet Weizsäckers Rüge deren amtierendem Inhaber.
Also schlägt Kohl zurück; und zwar auf genau der Ebene
der Beleidigung der politischen Persönlichkeit, auf der
er seinen „Kanzlerbonus“ angekratzt findet. Er läßt
verkünden, der Weizsäcker habe überhaupt nichts zu sagen,
schon gleich nicht, weil der Mann seit Jahren seine
Parteimitgliedsbeiträge schuldig sei, und im übrigen sei
er deshalb aus der CDU ausgeschlossen worden. Die
‚gewöhnlich gut unterrichteten Kreise‘ der demokratischen
Öffentlichkeit wissen noch zu vermelden, auch von
„Undankbarkeit“ sei die Rede gewesen im Kanzleramt;
Undankbarkeit eines Mannes, der schließlich sein
herausragendes nationales Amt und damit seine nationale
moralische Autorität einzig und allein der CDU und der
Personalpolitik ihres Vorsitzenden zu verdanken habe…
Eine Antwort des Systems Kohl
, die in ihrer
geradlinigen Primitivität der Sache durchaus angemessen
ist: Da nutzt ein elder statesman seinen auch nach Ablauf
seiner Amtszeit noch nicht verblaßten Nimbus aus, um
große Töne gegen die real existierende Staatsmacht und
deren Herrschaftstechniken und Intrigen zu spucken – und
dabei verdankt der Mann seinen ganzen Nimbus doch bloß
der Tatsache, daß er mit Hilfe aller Machenschaften und
Intrigen, über die der demokratische Machtapparat
verfügt, als Schönschwätzer an die Staatsspitze gehievt
wurde; ist doch selber Produkt des Verfahrens, das er
jetzt so großkotzig der öffentlichen Verachtung
anheimgibt!
Immerhin ist das doch einmal eine Klarstellung darüber,
wie die Demokratie sich die illustren Persönlichkeiten
schafft, die sie für das Gelingen ihrer Herrschaft für
nötig erachtet. Ernstgenommen wird diese Klarstellung
allerdings wieder mal von niemandem. Im Gegenteil, alle
maßgeblichen Stimmen, die sich – innerhalb und außerhalb
der CDU – zu Wort melden, bemühen sich darum, genau die
demokratische Rollenverteilung zwischen Kanzler und
Schöngeist zu pflegen, der sich der ganze Zirkus bloß
verdankt: ein wenig unangemessen
bis primitiv
und stillos
sei der Kanzler hier zu Werke gegangen,
wo hingegen doch gerade der weltweit geachtete
Alt-Bundespräsident …
Am Ende hat dann sogar das
System Kohl
selbst ein Einsehen und findet sich
damit ab, daß es seinen Ex-Geist so einfach per
Parteiausschluß nicht los wird. So bleibt Richard von
Weizsäcker uns als CDU-Mitglied auf Lebenszeit bei
ruhender Mitgliedschaft
erhalten.
Und damit ist letztlich doch allen gedient: Weizsäcker ist einerseits drinnen in der CDU, andererseits draußen, kann also weiter ganz überparteilich Ersatzpräsident spielen und dabei doch zugleich auf die große Regierungspartei als Resonanzboden für seine Interventionen rechnen. Der Kanzler hat mit Sicherheit nach wie vor keine Ahnung, inwiefern ein moralischer Besserwisser im Staatsdienst zur Apologie seiner realen Kanzlermacht beiträgt; dafür weiß er einmal mehr, warum er seinen Parteifreund Weizsäcker noch nie hat leiden können, und wird sich als begnadeter Personalchef die Leute in der CDU genau gemerkt haben, die sich offen zu Weizsäcker bekannt haben. Diese wiederum – die unbeugsamen „Liberalen“ im Kanzlerwahlverein CDU – haben ihre Genugtuung, auch mal wieder zur Kenntnis genommen zu werden. Und die Opposition kann sich auf ein Kohl-Geschöpf als Kronzeugen ihrer Kohl-Schelte berufen…