Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Gipfeltreffen mit Boris:
Fehlgeburt einer Trojka
Die europäische Diplomatie mit Jelzin setzt dessen Fiktion von Russland als Großmacht mit ihm als mächtigem Präsidenten in Szene – für die Dauer des Staatsbesuchs.
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Gipfeltreffen mit Boris:
Fehlgeburt
einer Troika
Boris Nikolajewitsch Jelzin hat sich erholt. Er wirft die gesamte Regierung raus. Alles Versager. Schnell erledigen. Als Nächstes: Ein großer imperialer Wurf muß her. Die weltpolitische Rolle, die das große Rußland hat, muß endlich so richtig zur Geltung kommen. Rußland braucht eine Vision. Alle großen Nationen haben ihre Visionen, Boris Nikolajewitsch weiß da Bescheid. Bismarcks Ausgleichspolitik. Das römische Triumvirat. Die zaristische Großmachtpolitik, Achsenmächte, Hitler-Stalin-Pakt: Wo immer Großes zu regeln war, war Rußland dabei. Jetzt wird schon wieder Großes auf den Weg gebracht, Europa neu formiert, eine neue Weltordnung gebaut. Da muß Rußland den ihm gebührenden Platz einnehmen. Das ist die Vision von Boris Nikolajewitsch.
Er ist sich ganz sicher, daß er mit der weltweit auf
viele Freunde trifft. Das sind seine Kollegen, mit denen
er auf ganz viel diplomatischen Treffen zu tun hat. Dort
hat er mitbekommen, wie sie bei allen ihren politischen
Vorhaben immer wieder aufs neue beteuern, die Belange
Rußlands auf keinen Fall zu vergessen. Und in der Tat.
Bei ihrer Neuordnung des Ostens, beim Umgang mit dem Irak
oder den Balkanstaaten: Immer haben sie die Interessen
Rußlands höflich behandelt. Das zeugt davon, daß im
Grunde bei allen größeren weltpolitischen
Angelegenheiten, bei denen Rußland gar nicht dabei ist,
einfach nichts ohne Rußland läuft. Darauf läßt sich
aufbauen. Zumal Boris Nikolajewitsch seine allerbesten
Freunde auch persönlich kennt. Es sind die europäischen
Experten für große politische Visionen. Die bauen gerade
das Haus Europa
zusammen, vermessen die Zukunft
einer Grande Nation
und ziehen aus einer neuen
Mittellage
ihre machtpolitischen Konsequenzen. Die
sind wie er. Die können wie er in großen historischen
Dimensionen denken
. Und dabei sind sie auch noch so
erfolgreich bei der Umsetzung von allem, was ihnen da
vorschwebt. Wie begeistert müssen die von dem Umstand
sein, daß Rußland sich ihnen zur Seite stellt!
Boris Nikolajewitsch arrangiert ein Treffen. Die
allerbesten Freunde, Schak aus Paris und Gelmut aus Bonn,
werden zum Tee geladen. Die Freunde zaudern etwas, der
Ruhm der Geschichte, der ihnen entgegenwinkt, ist ihnen
nicht so ganz geheuer. Ihnen reichen ihre eigenen
Visionen eigentlich, mit ihrer Umsetzung haben sie schon
ziemlich viel zu tun. Im übrigen laufen ihre Projekte,
die sie dabei auf den Weg gebracht haben, ziemlich exakt
auf das Gegenteil dessen hinaus, wovon Boris mit seiner
Großmacht Rußland
träumt. Andererseits: Wenn ihr
guter russischer Freund, dem sie soviel Erfolg bei ihrer
Politik zu verdanken haben, zum Stelldichein zwischen
Großmachtpolitikern bittet, wollen sie ihm den kleinen
Gefallen nicht verwehren. So viel Zeit muß neben der
Erweiterung von NATO und EU, neben der Regelung wichtiger
Fragen im Kosovo und anderswo in Europa und Eurasien,
einfach sein. Also schenken sie, Realpolitiker, die sie
sind, ihrem Kumpel eine Runde Diplomatie auf höchster
Ebene – eigens zu dem Zweck, damit der sich mit seinen
Visionen einmal so richtig aussprechen kann.
So legt Boris los. Mit seiner bekannt schweren Zunge
schöpft er Einsichten aus der Historie, knüpft
geschichtliche Traditionen, wie seine Gäste selbst es
nicht besser könnten. Dann leitet er über zur so
lehrreichen wie wechselvollen Geschichte der
weltpolitischen Bündnisse, schwärmt von einer Verbindung
Europas und Eurasiens, und dann schmiedet er die drei
versammelten Großmächte im russischen Wort Troika
zusammen. Allein die sei auf dem Sprung, der
unipolaren Welt ein Ende zu bereiten
(FAZ, 23.3.98). Er kennt nämlich die
geheimen Wünsche seiner Freunde noch vom letzten
gemeinsamen Saunabesuch. Da waren sie sich über diese
unerträglichen Amerikaner ganz schnell einig, und das hat
er sich gemerkt: Nur mit ihm sei der ewigen
Vorherrschaft der unipolaren Welt ein Ende zu bereiten
und der ewigen Vorherrschaft eines Staates eine Schranke
gesetzt.
(Ebd.)
Seine Freunde lächeln ein wenig geschmerzt. Nicht
deswegen, weil die mitreisenden Spürhunde des Zeitgeistes
den Hauch des Gestrigen
(FAZ,
27.3.98) wittern und meinen, daß den Zar
Boris
das alte Großmachtdenken wieder
eingeholt
hätte (ebd.).
Die übertreiben wie immer. Schak und Gelmut bleiben
sachlich und ganz gelassen. Sie wissen, daß
Großmachtdenken keine Großmacht schafft. Sie wissen auch,
daß die russische Macht von gestern zerfallen ist und
weiter zerfällt, privatisiert, verkauft, abgerüstet oder
sonstwie zerlegt wird. Von dem Präsidenten, der da mit
ihnen eine Troika
schmieden will, wissen sie aus
sicherer Quelle, daß es überhaupt nicht sicher ist, ob
seine Macht noch über die Stadtgrenzen Moskaus
hinausreicht. Sie wissen also, daß sie nur einen
ambitionierten Aufschneider vor sich haben. Das ist
einerseits ganz gut so, andererseits aber auch ein
Problem, das diplomatisches Fingerspitzengefühl verlangt.
Verprellen darf man den Kaspar auf keinen Fall. Womöglich
hat man ihn dann nicht mehr lange als Ansprechpartner.
Wer weiß, was dann aus diesem Rußland und seinen Raketen
wird.
Also überspielen die beiden Gäste die Peinlichkeit des Antrags, mit Boris Nikolajewitsch weltmachtpolitisch gemeinsame Sache zu machen. Sie gratulieren dem Präsidenten zur gesundheitlichen Erholung. Sie hören seiner Vision zu, lachen ihn nicht aus. Im Unterschied zu ihrem Freund wissen sie, daß die Diplomatie ihre eigenen Regeln hat, und die nutzen sie weidlich. Sie schenken ihm die Gelegenheit, durch diplomatisch formvollendet inszeniertes Geplauder mit wirklich Mächtigen seine Fiktion von der russischen Großmacht und von ihm als ihrem mächtigen Präsidenten am Leben zu erhalten. Für die Dauer ihres Besuches wenigstens. Geschenke werden getauscht, man verspricht ein neues Treffen irgendwo und irgendwann. Boris Nikolajewitsch bekommt auch etwas Reelles. Drei echte Abkommen über Kultur, Abitur und eine Ausstellung, so daß er auch etwas vorzeigen kann. Damit haben die Freunde getan, was sie konnten, ihrem Freund zuhause politisch den Rücken zu stärken. Jetzt kann er damit angeben, daß Rußland prima unterwegs zur weltpolitischen Großmacht ist. Und sie haben es auch gerne, weil in eigenem Interesse getan. Sie haben den Visionen von Boris Nikolajewitsch zugehört, weil sie in Rußland sonst niemanden haben, bei dem sie die Wahrnehmung ihrer Interessen in vergleichbar guten Händen wüßten.
Die europäische Diplomatie mit Rußland ist ein Witz.
Damit der Präsident dieses Landes im Amt bleibt, damit er
wegen des Umstands, daß weder er Macht in Rußland hat
noch sein Rußland eine respektable Macht ist, nicht
vollends durchdreht und alles verkehrt macht, bietet man
ihm die Diplomatie als Bühne, sich einmal so richtig als
Präsident und ganz großer russischer Machtpolitiker
aufführen zu können. Damit dieses diplomatische Notopfer
auch wirklich keiner mißversteht, stellt Freund Gelmut
gleich danach klar, daß er sich mit Freund Boris einen
Scherz erlaubt hat und sich dieses Treffen gegen
niemanden richtet
(SZ,
27.3.98). Das ist dann endlich auch in den
hiesigen Schreibstuben angekommen. Befreites Aufatmen:
Troikas, Achsen, Illusionen
heißt die Überschrift,
unter der dann fachmännisch elaboriert wird, daß mit
dem Verbund von Universitäten Rußland mehr gewinnt als
mit der Allianz von Armeen.
(Ebd.) So geht, kaum verkündet, gleich
tags darauf die Vision von Boris Nikolajewitsch echt in
die Geschichte ein.