Das Elend des Pazifismus
Die konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen

Ehemalige deutsche Pazifisten propagieren heute deutsche Gewalt gegen Jugoslawien. Der Wert Gewaltfreiheit ist ersetzt durch den Glauben an die gute Gewalt Deutschlands, die Parteilichkeit für die eigene Nation ist stillschweigender Ausgangspunkt. Der Blick zurück zeigt: auch frühere Friedensbewegte waren keine bedingungslosen Anhänger ihrer Werte.

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Das Elend des Pazifismus
Die konsequente Karriere von Kriegsgegnern zu gewissenhaften Militaristen

Wenn heutzutage die Politik einem Volk oder Landstrich den Frieden zu bringen verspricht, weiß der kundige Zeitgenosse, daß Bomben fallen. Kein westlicher Krieg, der nicht Friedensprozeß hieße, und andere Vokabeln als „friedenserhaltend“ oder „friedensschaffend“ sind für die Anwendung militärischer Gewalt einfach nicht mehr vorgesehen. In dem Maße, wie die kapitalistischen Nationen den Krieg als Mittel ihrer Tagespolitik einführen und pflegen, verschwindet er aus dem Sprachgebrauch. Das hat seinen Grund.

Zum einen ist dieser gezielten Sprachverwirrung natürlich der Wille zur Beschönigung zu entnehmen, der den Prozeß des militärischen Zuschlagens in Nahost oder auf dem Balkan bei Bedarf linguistisch mit dem Präfix „Frieden“ nachrüstet. Das erleichtert es jedem guten Patrioten, den militärischen Auswärtsspielen seiner Nation anteilnahmsvoll im Geiste beizuwohnen, und erklärt jede Kritik von vornherein für aussichtslos. Wer wollte schon etwas gegen die Herstellung von Frieden einwenden? Zum anderen offenbart dieses sprachliche Paradoxon die gehobene Anspruchshaltung kapitalistischer Staaten, die dem Frieden entgegen seinem Ruf ein weniger gutes Zeugnis ausstellt: Ein Zustand auf dem Globus, in welchem sie nicht mit überlegener Gewalt die Gültigkeit ihrer Interessen gegenüber anderen verankert sehen, verdient einfach nicht den Namen Frieden. Der gilt in solchen Fällen daher als gefährdet bis gar nicht existent, muß folgerichtig erst produziert werden, notfalls mit Krieg. Erst dann herrscht wieder Frieden, weil und solange sich die Interessen der Stärkeren über die der Schwächeren ungehindert hinwegsetzen. Kein Wunder, daß in dieser imperialistischen Logik alle möglichen Gewalteinsätze der maßgeblichen Mächte als Friedensaktionen bezeichnet werden: Wenn die losziehen, dann handelt es sich um friedenserhaltende, -sichernde, -schaffende oder -erzwingende Einsätze. Als Krieg gilt daher umgekehrt nur die Gewalt, die mit derartigen Friedenstaten niedergekämpft wird und genau dadurch als rechtswidrig gebrandmarkt ist, daß sie mit friedensschaffender Gewalt überzogen wird..

Pazifisten war einmal der Unterschied von Krieg und Frieden geläufig. Sie hatten sich mit ihrer Namengebung sogar eindeutig festgelegt, und zwar für Frieden, gegen Krieg. Bemerkenswert ist daran nicht nur die Absage an das Militär als Instrument der Politik. Ihr entspricht nämlich umgekehrt auch eine sehr weitreichende Zusage: Einer Politik, die auf Krieg verzichtet, erteilt der Pazifist mit dem Ehrentitel Frieden seine uneingeschränkte Zustimmung. Das ist nicht ohne Folgen geblieben.

Was die Absage betrifft, sind Pazifisten merkwürdigerweise die letzten, von denen ein Einwand gegen die Kriege zu hören wäre, die heute von der NATO geführt und durch die Bundeswehr unterstützt werden. Schon gar nicht nehmen sie an der verlogenen Logik Anstoß, jeden westlichen Militäreinsatz als genuinen Beitrag zum Frieden zu begrüßen. Im Gegenteil: Mit Blick auf den Balkan und seine „vergewaltigten Frauen“ und „unschuldigen Opfer“ verlangen ihre Wortführer am lautesten nach militärischem Durchgreifen, natürlich im Namen des Friedens und der Menschen. Auf öffentlichen Kongressen nimmt der Pazifismus Abschied von sich selbst und entdeckt den Krieg als Mittel eines verantwortungsbewußten Humanismus: Wer nicht für den NATO-Einsatz gegen die bosnischen Serben plädiert, ist schuldig am Tod „Unschuldiger“. Die letzten Kritiker dieses neuen „Bellizismus“ aus pazifistischer Gesinnung sind auf dem bestem Wege, das andere Lager in Kürze zu erreichen.

Mord und Totschlag auf dem Balkan: Was tun?

Ausgelöst wurde dieser Sinneswandel durch eine Frage, die sich die bekennenden Pazifisten angesichts des Balkankrieges vorgelegt haben oder vorlegen ließen: Was können wir angesichts des Gemetzels im ehemaligen Jugoslawien tun?

Wenn man einmal von der Absicht prominenter Fragesteller absieht, die von ihrem Publikum keine Antwort, sondern ein eindeutiges Plädoyer für militärisches Zuschlagen von NATO und Bundeswehr erwarten, wenn man sich mit „wir“ nicht gleich in ein Boot mit den militärischen Befehlshabern der Nation ziehen läßt, wenn man diese Frage also einmal so wörtlich nimmt, wie es leider niemand tut, läßt sich darauf durchaus eine unvoreingenommene Auskunft geben. In Titos Nachlaß massakrieren sich verfeindete Nationalitäten. Den diversen Völkern im ehemaligen Jugoslawien ist die Frage gleichgültig, was sie von ihrer alten wie neuen Herrschaft zu erwarten haben und wie gut oder schlecht sie dabei leben. Daß eine eigene Obrigkeit über sie herrscht, fordern sie als ihr Recht. Um ihrem Recht Geltung und dem neuen Staat Raum zu verschaffen, geben sie ihr Leben hin im Kampf gegen fremde Volksgenossen, die nicht dazu gehören. Dieser nationalistische Wahn treibt die Völker zu ihrer Feindschaft an. Was demnach nicht in Frage kommt, ist die Unterscheidung in gute, weil um die ihnen von den maßgeblichen Mächten zugestandenen Grenzen kämpfende, und böse, weil über das ihnen zugebilligte Maß ausgreifende, daher zu bekämpfende Nationalisten. Ebenso verbietet sich die Parteinahme für einen Nationalismus, nur weil er unterdrückt ist, und die Predigt von Völkerfreundschaft; denn damit spricht man die Leute genau in der Haltung an, aus der sie ihre Feindschaft beziehen, und appelliert an sie als ausgrenzende Nationalisten, sie sollten sich beim Ausgrenzen mäßigen, statt den Grund für die Feindseligkeiten anzugreifen. Selbstverständlich würde dabei weit mehr in Frage gestellt als die aktuelle Auseinandersetzung zwischen Moslems, Kroaten und Serben. Denn was für die Ethnien des Balkans stimmt, gilt auch für die Völker der zivilisierten Aufsichtsmächte: Wenn Menschen ihre vornehmste Eigenschaft in ihrer Zugehörigkeit zu einem Staatsvolk sehen, sei es kroatisch oder deutsch, ist es nicht mehr weit bis zum Pogrom.

Überlegungen dieser Art werden hierzulande nicht angestellt. Schlußfolgerungen über den Zusammenhang von Patriotismus und Totschlag, die man durchaus ziehen könnte, haben hier nicht einmal eine theoretische Chance. Denen, die „nicht länger zuschauen können“, gilt so etwas als „unrealistisch“, weil es an der Realität vorbeigeht, welche die ganze Fragestellung als die maßgebliche und einzig zuständige im Blick hat – und weil Pazifisten selber Nationalisten sind, die sich den „–ismus“ verboten haben, daher viel Verständnis für auswärtige Nationalisten haben, die bei ihrem Kampf um ihre „nationale Identität“ nur noch nicht so geläutert wie sie selbst sind.

Der scheinbar arglose Auftakt, was „wir“ wohl angesichts der Kriegsgreuel unternehmen könnten, birgt nämlich eine nicht unbedeutende semantische Verschiebung, derentwegen alle bisher vorgestellten Antworten den Sinn der Fragestellung verfehlen. Über das Personalpronomen setzt sich das private Subjekt mit dem Staat in eins. Er hat die Macht und den Einfluß, die dem Privatsubjekt fehlen und die es sich gerne anmaßen möchte, um die Affären „vor unserer Haustür“ nach seinen moralischen Vorstellungen zu bereinigen. Ob vor knapp fünfzig Jahren je die Bundeswehr oder das Auswärtige Amt ins Leben gerufen wurden, um 1996 auf Ersuchen von pazifistisch gesonnenen Humanisten Erste Hilfe an „menschlichen Schicksalen“ zu leisten, fragen sich diese Leute erst gar nicht. Sie unterstellen es einfach, weil sie auf die staatlichen Gewaltinstrumente schielen. Freilich zieht diese Indienstnahme auch einen Bedarf an Umstellung nach sich. Nicht bei den Militärs, sondern bei den Pazifisten. Denn bis gestern noch waren ja sie es, die militärische Außeneinsätze wegen ihrer unübersehbaren Gewalt gegen Menschen für das Gegenteil von Humanismus gehalten hatten. An der Tatsache, wie schnell und leicht sie ihren Wert Gewaltfreiheit zu den Akten legen, ersieht man, wie wenig er wert ist.

Der kurze Weg vom Friedensfreund zum „Bellizisten“

Unter großem öffentlichen Getöse haben sich Anhänger der pazifistischen Idee einen Widerspruch vorrechnen lassen, der ihnen schwer zu schaffen macht: Wer jetzt noch der Position der Gewaltfreiheit anhängt, macht sich schuldig, weil er Gewalt hinnimmt – nämlich die der Serben gegen Moslems und Kroaten in ihren Schutzzonen.[1] Natürlich ist die Absicht klar: Der grüne Außenminister in spe plädiert so für militärisches Zuschlagen gegen die Serben. Er selber wird wohl ebenso wenig wie seine Fraktionskollegen seine parteipolitischen Karriereabsichten aus Gewissensqualen und moralischen Widersprüchen deduzieren. Den Widerspruch, den er und seine Getreuen bewältigen wollen, ist berechnender Natur: Wie kann die grüne Partei ihre Politikfähigkeit durch ein Ja für das Wirken deutscher Gewalt nach außen komplettieren, ohne das wählerwirksame Prädikat „ethisch wertvoll“ einzubüßen? Diesem Bedürfnis, wählerwirksam zu sein, aber noch nicht gebührend berücksichtigt zu sein, kamen die lauthals beklagten Leiden auf dem Balkan gerade recht.

Die Debatte aber wirkt über den Kreis der Prominenz weit hinaus. Friedensfreunde sehen sich zu einem Gesinnungs-TÜV einbestellt, den sie über sich ergehen lassen oder gleich selber durchführen. Wie also steht es um den Wahrheitsgehalt der Beweisführung, Gewaltfreie machten sich schuldig, weil sie Gewalt hinnehmen?

Der Wert „Gewaltfreiheit“: nichts wert!

Als Privatier steht den Angesprochenen die Alternative gar nicht zur Verfügung, in der sie sich angeblich falsch entschieden haben. Der Privatmann ist bekanntlich durch ein staatliches Gewaltmonopol mit einem Toleranzgebot zur Ohnmacht verpflichtet. Und Schuld, im juristischen wie moralischen Sinne, hätte nur jemand auf sich laden können, dem die Alternative offensteht – einmal ganz davon abgesehen, daß die in einem puren Vergleich mit Gesetzen oder Geboten gewonnene Verurteilung von Leuten mit einer vernünftigen Beurteilung ihres Handelns nichts gemein hat. Daß dennoch mit der Alternative „Gewaltfreiheit oder Gewalt“ so argumentiert wird, als stünde sie dem Privaten offen, rührt daher, daß er geistig in den Stand eines Befehlshabers oder Staatsmannes versetzt wird oder zumindest als deren einflußreicher und kompetenter Ratgeber fungiert. Leute, die das militärische Handwerk des Tötens einmal rundweg abgelehnt hatten, schlüpfen willig in die Rolle eines Feldherrn, der über Leben und Tod entscheidet. Und da soll der gute Pazifist an einem Widerspruch verzagen, den er sich seiner Werte wegen einhandelt: Wer für Gewaltfreiheit ist und deswegen das militärische Eingreifen unterläßt, nimmt Gewalt hin – die der anderen. Nur folgt daraus gar nicht die gewünschte Konsequenz, der Friedensfreund hätte zur Vermeidung seines Wertewiderspruchs auf Eingreifen zu setzen. Denn Gewalt läge damit ja schon wieder vor, bei einem selbst nämlich. Vermieden wäre sie damit also gerade nicht. Wenn aber beide Alternativen, das tatenlose Zusehen wie das machtvolle Zuschlagen, Gewalt mit sich führen, dann ist innerhalb der moralischen Logik eine Entscheidung für den einen oder anderen Weg unmöglich.

Die Berufung auf den allgemein geteilten Abscheu vor Gewalt gibt eben den Pazifisten ebenso recht wie ihren Gegnern. Die Moral der einen steht derjenigen der anderen in nichts nach. Der höchste Wert gibt überhaupt keine Entscheidungsgrundlage ab. Die Entscheidung, wofür man eintritt, ist dann aber nicht moralischer Art, sondern rührt frei nach Kant aus vormoralischen Festlegungen her. „Nationalismus ohne Moral ist leer; Moral ohne Nationalismus blind.“

Das gestehen die Fortsetzungen ein, mit denen Pazifisten sich in unzähligen Talkshows drangsalieren oder drangsalieren lassen: Ist nicht das bloße Zusehen deswegen schlimmer, weil man so größere Gewalt hinnimmt als man selber anwenden würde? Seit dem Irak-Krieg lassen sich Moralisten daher auf das interessante Argument ein, daß die Kriegsopfer selbst den Einstieg in einen Krieg und dessen Brutalisierung rechtfertigen: Hätte nicht der schnelle Entschluß zu einer Atombombe mit 200000 Toten geschätzte eine Million Opfer erspart, die in einem zählebigen Krieg anfielen? Die „größere“ Gewalt mit ihrer beeindruckenden Zahl von einer Million Opfer steht allerdings im Irrealis, während die kleinere anzuwendende den Makel hat, daß sie sichere Sache ist. Was wiegt mehr: Das wirkliche Anrichten kleiner Opfer, oder die bloß mögliche Vermeidung großer Opfer? Das sind so Fragen, die philosophisch und moralisch gebildete Individuen sich genüßlich zur Abwägung vorlegen, statt sie von sich zu weisen. Bloß gilt auch hier: Entscheidungsnotstand.

Der Wille zur Entscheidung führt sie dennoch herbei. Den gordischen Knoten hat Fischer bei seinen pazifistischen Zuhörern mit folgendem Satz durchschlagen:

„Was wird aus unserem Prinzip der Gewaltfreiheit, wenn es sich vor der menschenverachtenden Gewalt beugt?“

Damit kommt der Mann auf den Punkt. Wer zwischen „Gewalt“ bei den einen und „menschenverachtender Gewalt“ bei den anderen unterscheidet, der verläßt das Kriterium, mit dem angeblich die Entscheidung herbeigeführt werden sollte: Gewaltfreiheit gut, Gewalt böse. Beide Parteien, Serben wie NATO setzen eingestandenermaßen Gewalt ein, aber nur die eine Seite zieht sich den Vorwurf „menschenverachtend“ zu. Aus dem bloßen Umstand der Gewaltanwendung stammt dieses Etikett also nicht. Es verdankt sich ganz einer vorab entschiedenen Parteilichkeit, die jenseits aller moralischen Erwägungen zustande kam. Und siehe da: Die „Guten“, das sind „wir“, Deutschland und seine NATO-Freunde. Die „Bösen“, der Schluß fällt nun ganz leicht, das sind die Angefeindeten, also die Serben. Seine Parteilichkeit hat der geläuterte Pazifist nicht aus seiner Moral erschlossen, sondern im Vorfeld beschlossen. Nicht in seiner Eigenschaft als Moralist, sondern als Nationalist. Daß er bei seiner Parteilichkeit für Deutschland und seine Wehrmacht landet, ist nicht verwunderlich, weil er davon ausgeht. Ab sofort sind also Bundeswehr und Krieg ins Arsenal des praktizierenden Humanismus aufgenommen.

Die letzten Kritiker des Krieges: Vorher alle anderen Erpressungsmittel ausschöpfen!

Dagegen sind aufschlußreiche Einwände laut geworden. Ein Wirtschaftsboykott gegen die Beteiligten, der seinen Namen wirklich verdient, würde die Streithähne schon gefügig machen, empfehlen die einen. Hätte Deutschland seinen politischen Einfluß auf Kroatien geltend gemacht und den Serben rechtzeitig den Benzinhahn zugedreht, müßten gar keine Soldaten entsandt werden, meinen andere. Denselben Effekt, für den die Bellizisten auf Krieg setzen, wollen diese guten Leute also auf andere Art und Weise erreichen. Die Mittel dazu hat Deutschland. Es muß nur die Erfolge seines Imperialismus ökonomisch und diplomatisch als Waffe einsetzen und abhängige Nationen und Völker von Gütern und Geldern abschneiden, um sie auf Kurs zu bringen. Und niemand findet es anstößig, daß die friedfertige Alternative zum Bellizismus in einer Erpressung besteht, die sich auf die überlegene Macht der eigenen Nation beruft und stützt und ihrer Wirkung nach einem Kriegsergebnis ebenbürtig sein soll![2] „Das geht!“ rufen die Urheber dieses Arguments ihrem ungläubig staunenden Publikum zu, als sei ein anderer Einwand als mangelnde Erfolgsaussicht gegen dieses Plädoyer ohnehin unvorstellbar. Hat man nicht gestern als „Linker“ beklagt, daß die „strukturelle Gewalt“ des Westens es fertig bringt, Millionen von Menschen in der 3. Welt am langen Arm verhungern zu lassen? Aus dieser beeindruckenden Opferbilanz gehören Lehren gezogen. Nicht die, welche Ziele dem Westen so viele Leichen wert sind. Sondern die andere: Wie prächtig und wuchtig doch seine Instrumente sind, mit denen er den Globus unter seine Aufsicht zwingt. Die will der antibellizistische Pazifist zum Einsatz gebracht wissen.

Damit ist auch klar, woher dieser Pazifismus seine Wurzeln bezieht: Er sehnt sich zurück nach den Zuständen, in denen Deutschland Sicherheitspolitik betreiben konnte, ohne je in Kriege eintreten zu müssen (die ihm als Weltkriegsverlierer und Frontstaat an der Systemgrenze verboten waren). Daher war es bei der Einflußnahme innerhalb der kapitalistisch geordneten Welt auf seine ökonomischen Mittel beschränkt, da die fälligen Gewaltfragen durch die USA zum Nutzen aller NATO-Staaten geklärt wurden. Zugleich wissen die Liebhaber von Umständen, in denen Deutschland ohne Krieg auskam, daß dieses Ideal nicht mehr paßt: Wer von friedlicher Embargopolitik das verlangt, was man nur durch einen Krieg sicherstellen kann, der stellt nicht den Krieg, sondern nur den vorschnellen Entschluß zu ihm an den Pranger. Und mit dem Maß, das an den Erfolg der friedfertigen Alternative angelegt wird, steht fest, daß auch die letzten Mohikaner der pazifistischen Idee einen Grund kennen, der die härtere Gangart der Militärs auch für sie unabweisbar macht: Wenn alle Erpressungen erwiesenermaßen nicht fruchten, dann, ja dann bleibt keine andere Wahl als Krieg.[3]

Das abgelegte Ideal (Krieg kein Mittel der Politik!) wird als Luxus von einst bekannt. Das waren die Zeiten, in denen man sich noch nicht in die Politik eingemischt hatte, als man ihr moralisch distanziert gegenüberstand. Schmarotzertum an den Verhältnissen, in denen Deutschland Sicherheitspolitik treiben konnte, ohne in einen Krieg einzutreten. Dieses Ideal paßt jetzt nicht mehr: Was waren sie denn früher? Sie sind weder in die Politik eingetreten, noch haben sie sie kritisiert. Damit auch Komplimente an die Umstände, in denen Deutschland ohne Kriege auskam.

Die nationalistischen Prämissen der Moral

Die Debatte ist so unehrlich wie ihre Auflösung. An der Frage der Gewalt will der Pazifist seine Parteinahme entscheiden, kann es aber nicht. Denn in Kriegen setzen nun einmal beide Konfliktparteien militärische Gewalt ein. Die Sicherheit, mit der das aufgewühlte Gewissen sich dennoch festlegt, entstammt einer politischen Vorentscheidung. Als guter Deutscher verwechselt er selbstverständlich Deutschland mit einem Erste-Hilfe-Kasten und hält Serbien für den „Aggressor“. Vieles spricht dafür, daß der gute Serbe die Sache genau umgekehrt sieht.

So geht die Weltsicht geläuterter Pazifisten nahtlos in die des Kanzleramtes und der Hardthöhe über – und bleibt doch grundsätzlich davon unterschieden. Die Entscheidung für eine politische Partei im Balkankrieg, die aus der Moral nicht zu begründen ist, soll nämlich partout mit der Moral vollzogen werden. Und das hat Folgen. Die maßgeblichen Zwecke der Nation, die sich auch auf dem Balkan um die Erweiterung ihrer politischen und ökonomischen Macht gegenüber konkurrierenden Aufsichtsmächten drehen, interessieren diese Sicht der Dinge einfach nicht. Nicht der wirklichen nationalen Zwecke, sondern der Ethik wegen plädiert man nun für Deutschland und sein militärisches Engagement. „Frieden“, „Menschenleben“, „Völkerrecht“ – so lauten die Titel,[4] mit denen der zum Bellizisten gewendete Pazifist die Bundeswehr nach Ex-Jugoslawien abkommandiert. So schließt sich der Pazifist dem nationalen Konsens an. Was Nationalisten als Recht der Nation auf Kontrolle des südosteuropäischen Hinterhofs Deutschlands anmelden, formuliert der Moralist als Pflicht zu humanitärer Hilfe mit der Waffe.

Dabei irritiert es niemanden, daß so ein hehres Prinzip wie „Menschenleben“ nie den Leitfaden eines Militäreinsatzes abgeben könnte,. Im Krieg treten sich Menschen als bewaffnete Soldaten einer Kriegspartei gegenüber, die ihren Gegner mit Waffengewalt zu überwinden sucht. Das kostet Menschenleben, statt welche zu schützen. Oder zählen die der Feinde nicht dazu? Die Realität des Krieges blamiert also den moralischen Titel, mit dem sie akzeptiert werden soll. Deshalb wird sie so konstruiert, daß die nationalistische Parteinahme mit ausschließlich moralisch hochwertigen Gründen dennoch gelingt. Menschenleben sind nun doch nicht gleich Menschenleben. Auf dem Balkan sichtet man statt dessen „Täter“ und „Opfer“, „Schurken“, denen man an den Kragen will, und „Unschuldige“, denen man beispringen möchte. Als gäbe es diesen Unterschied überhaupt in einer Lage, in der die verfeindeten Militärmächte im ehemaligen Jugoslawien ihr Volk mobilisieren und gegen das ihres jeweiligen Gegners einsetzen. Täter und Opfer finden sich da auf ein und derselben Seite. Soldaten, die schießen, werden eben auch getroffen, und der Kriegsverlauf, der heute die Serben, morgen die Kroaten in die Vorhand bringt, kann schon bald die Täter von gestern zu Opfern machen. Und „Unschuld“ ist angesichts eines Krieges verhetzter Völker nur ein Synonym dafür, daß manch ein kroatischer oder moslemischer Nationalist, der es den Serben gern einmal gezeigt hätte, zu alt, zu schwach oder zu feminin dazu ist und deswegen an der Mitwirkung beim nationalistischen Hauen und Stechen gehindert war.

Seine Abneigung gegen Krieg und Gewalt hat sich der Pazifist also abgewöhnt. Er ist jetzt für Deutschland auch in seiner ganzen militärischen Pracht und Herrlichkeit – aber nicht wegen Deutschland, sondern aus moralischer Überzeugung. Und die besteht in drei grundsätzlichen Fehlern, die er mit allen gewöhnlichen Nationalisten teilt. Erstens bildet er sich ein, der Staat handele im Auftrag seiner Bürger, und zweitens stets für sittliche Ziele, denen kein Mensch den Zuspruch verweigern kann. Drittens verweist er auf die Gewaltinstrumente, über die der Staat glücklicherweise verfügt, um „unsere gute Ordnung“ durchzusetzen. Was ihn gestern noch aufregte – die Waffen, die ihm gestern noch auf verwerfliche Absichten der „Herrschenden“ hindeuteten, begrüßt er jetzt dankbar als bereitstehende Mittel. Die einzige Differenz, die er jemals zum gewöhnlichen Mitbürger gepflegt hat, seinen moralischen Einspruch gegen das staatliche Mittel des Krieges, ist getilgt. Die des Friedensideals ist allerdings die Konsequenz des Pazifismus[5]: Die Moral ist nicht dazu geschaffen, die Wirklichkeit zu bestimmen, sondern sie zu akzeptieren. Also ändert sich mit dem neuen Deutschland und seiner „gewachsenen Verantwortung“ auch seine Moral.

Der Begriff des Pazifismus und seine trostlosen Konjunkturen

Die Entdeckung, die den Auftakt des Pazifismus markiert, fällt nicht weiter schwer. Staaten führen bisweilen Krieg. Daß Pflugscharen zu Schwertern umgeschmiedet werden, hat noch keiner fordern müssen. So etwas versteht sich von selbst. Kapitalistische Nationen verfügen über eine arbeitsplatzträchtige Rüstungsindustrie und ein stehendes Heer, weil sie sich bereits in Friedenszeiten auf den Ernstfall einstellen. Sie wissen, warum. Den Vorwurf des Kriegstreibers muß sich dabei keine Regierung gefallen lassen. Welcher Staatsmann setzt seine nationalen Interessen denn nicht lieber ohne den letzten Widerstand der Geschädigten durch? Wirtschaftliche Erpressung und diplomatische Drohung tun da ihr Werk. Wenn es aber anders nicht geht, dann muß er eben sein: der Krieg, die ultima ratio der nationalen Vernunft.

Die Tatsache des Krieges entdeckt der Pazifist, die Frage nach dem Grund des Krieges ist für ihn irrelevant. Er verurteilt den Krieg, nicht aber die Politik, die die Kriegsgründe schafft und für die Durchsetzung ihrer Vorhaben bisweilen zu dieser letzten Konsequenz schreitet. Dabei ließe sich dem politischen Getriebe in der Zeit zwischen den Kriegen durchaus einiges über deren Gründe entnehmen. Da konkurrieren nationale Standorte um Geld und Geschäft. Daß die Erfolge des Siegers notwendig zu Niederlagen bei unterlegenen Nationen führen, weiß keiner besser als sie. Wer deutsches Geschäft fördert, indem er es „den Japanern zeigt“, der gibt damit bekannt, daß jeder schwarz-rot-goldene Verkaufserfolg zu Lasten der „Schlitzaugen“ geht und gehen soll. Wer die starke D-Mark will, der will auch die schwachen Währungen, gegenüber denen die deutsche Mark stark ist. Aus jedem ökonomischen Erfolg erwächst politische Schlagkraft, die umgekehrt für die Mehrung geschäftlicher Erfolge die Weichen gegen Schwächere zu eigenen Gunsten zu stellen vermag. Kein Wunder, daß selbst die europäischen Partner der Ankerwährung angesichts der Wiedervereinigung lauthals vor einem neuen Pangermanismus gewarnt haben. Verhindern konnten sie damit nicht, was sie nur zu gern hintertrieben hätten: Dem deutschen Imperialismus sind mit der Annexion der ehemaligen DDR in Sachen Volk und Raum neue Mittel zugewachsen. Das läßt Deutschland seitdem seine Partner als seine „gewachsene Verantwortung“ spüren.

Auch darin also hat die Politik ihre Instrumente: Kapital, Handelsbilanz, Währung, diplomatische Erpressung – und natürlich in letzter Instanz Krieg. Dieses Arsenal besichtigt der Pazifist auf denkbar merkwürdige Weise. Im Krieg sieht er ein Mittel, das er zwar nicht beurteilt, aber bewertet: Er lehnt es als „unmenschlich“ ab. Alle anderen Hebel, die Politik einsetzt, alle anderen Wege, die Staaten beschreiten, interessieren ihn nicht hinsichtlich der Ziele und Leistungen. Die würdigt der Pazifist in einem Umkehrschluß ebenso abstrakt wie negativ: Sie sind nicht Krieg, also gut. Frieden ist kein wirkliches Komplement zu einem politischen Mittel namens Krieg. Frieden ist ein Kompliment an Politik schlechthin – weil und solange sie auf Krieg verzichtet.

Der Kriegsdienstverweigerer

Insofern ist es nicht verwunderlich, daß der Pazifist angesichts des Krieges einer erkenntnisleitenden Frage folgt, die sich gar nicht an die Politik, sondern zuallererst an ihn selbst richtet: Wie stehe ich zur Gewalt? Das ist die Optik, die nicht an einem Urteil über Politik, sondern an einer Einstellung des Subjekts interessiert ist, das einer Politik beiwohnt, über die es eigentlich nichts Schlechtes zu berichten gibt. Während andere ihren Wehrdienst leisten, verweigert er ihn mit dem Argument: „Ich kann kein Gewehr in die Hand nehmen.“ Das ist die Elementarform des Pazifismus.

Zum ersten lebt dieser Einspruch ganz von einer moralischen Haltung, die in einem Rechtsstaat den Bürgern aufgetragen ist: Das Gewaltmonopol verlangt seinen Untergebenen ausdrücklich den Verzicht auf jede Gewaltanwendung ab. Zuwiderhandlungen werden bestraft. Was aber der bürgerliche Staat im Inneren verbietet, das gebietet er, sobald der brave Mann sich in einer Uniform wiederfindet und gegen fremde Völker antreten muß. Neue Kleider, andere Sitten. Auf ausdrücklichen Befehl von oben hat er sich nun in einem Handwerk zu bewähren, auf das in Friedenszeiten hohe Gefängnisstrafen stehen: Schußwaffengebrauch mit Tötungsabsicht. Pazifistisch gesonnene Menschen haben mit diesem Widerspruch ihre eigenen Schwierigkeiten: Sie schlagen sich auf die Seite des Gebotes zur Gewaltfreiheit und Toleranz, das im Inneren wirklich gilt, und erstrecken es auf eine Sphäre, die nach dem Willen des Staates davon ausdrücklich ausgenommen ist, das Militär. Der Vorbehalt, den der Pazifist gegen gewisse militärische Gepflogenheiten zivilisierter Demokratien anmeldet, lebt also ein gehöriges Stück von der guten Meinung über ihr inneres Wesen. Die Sache mit der Gewaltfreiheit und Toleranz hält er für eine so bahnbrechende zivilisatorische Errungenschaft, daß er dem Rechtsstaat dafür nur danken kann. Daß dieses Gebot an die Adresse der Normalverbraucher nur die Kehrseite davon ist, daß damit die regierenden Verwalter des staatlichen Gewaltmonopols ohne jeden Einspruch von unten ihre Vorhaben durchsetzen, irritiert ihn selbst dann nicht, wenn die Opfer guten Regierens unübersehbar sind.

Deswegen ist es – zweitens – auch gar nicht verwunderlich, daß Pazifisten ihren Vorbehalt nicht als Einwand gegen die Politik und ihren Militarismus, sondern als Urteil über sich vortragen. Wer darauf pocht, er könne kein Gewehr in die Hand nehmen, der will nicht der Politik ins Handwerk pfuschen, sondern reklamiert für seine Person eine Ausnahme von der von ihm als allgemein gültig anerkannten Pflicht zum Waffendienst.

So und nur so ist der Pazifismus im Staat geduldet. Als Absage an die Gründe des Militarismus, den Staat und seine Zwecke, würde er keine Anerkennung verdienen, als Rückzug aus verlangten Diensten an Politik und Wehrmacht ebensowenig. Daher darf jeder etwaige Gewissensqualen in einem Antrag auf Verweigerung formulieren. In welchem Umfang der Staat die Gewissensentscheidung respektiert, wie scharf er den Antragstellern auf den Zahn fühlt, macht er jedoch von seinem aktuellen Rekrutenbedarf abhängig. Daß das Anhörungsverfahren seit einiger Zeit ausgesetzt ist, muß daher ebenso wenig verwundern wie die Tatsache, daß seine Neueinführung angesichts steigender Verweigerungsanträge wieder in der politischen Diskussion ist. Und um klarzustellen, daß er den Zivildienst keineswegs als einen dem Wehrdienst gleichwertigen alternativen Friedensdienst anerkennt, erlegt der Staat den anerkannten Verweigerern einen Ersatzdienst auf, der zur Abschreckung länger als der Wehrdienst dauert. Dieses Verfahren bringt einen doppelten Ertrag: Erstens stimmen die Mannschaftsstärken in den Kasernen, zweitens läßt sich der Rechtsstaat die genehmigten Ausnahmefälle, die er nicht benötigt, als Beweis tätiger Nächstenliebe und Toleranz gutschreiben.

Die Inquisition, mit der diesen Nächsten traditionellerweise in Anhörungsverfahren zu Leibe gerückt worden ist, beweist, daß der Staat nicht einmal den geistigen Rückzug aus seinem Dienst anzuerkennen gewillt ist. Beim Gewissens-TÜV fällt durch, wer es mit einer Kritik der Bundeswehr und der Politik probiert, die die oberste Befehlsgewalt ausübt. Da versteht der Staat keinen Spaß. Einer solchen Haltung versagt er jegliche Anerkennung. Sie steht unter dem Verdacht der Wehrkraftzersetzung und wird in den Kasernen wie außerhalb entsprechend behandelt. Eine besonders gefährliche Spezies Wehrkraftzersetzer bekämpft der Rechtsstaat in den Totalverweigerern, die im Zivildienst immer noch den (ersatzweisen) Wehrdienst sehen und ihn deshalb verweigern. Ihnen kommt er mit dem Strafrecht, das für Totalverweigerung den Rechtsgrundsatz „non bis in idem“ außer Kraft setzt und die nach einer verbüßten Strafe fortgesetzte Totalverweigerung als neue Tat(en) verschärft ahndet, um den Respekt vor dem staatlichen Recht auf Indienstnahme seiner männlichen Jugend für seine Gewalt nach außen zu erzwingen.

Mit der prinzipiell geforderten Akzeptanz dieses staatlichen Rechts und mit dem Zwang zur Deklaration der Verweigerung als eigentlich grundloser Ausnahme hat sich der Prüfling als loyaler Sonderling zu offenbaren, den man vorsorglich unter Aufsicht nimmt und in entsprechende Karteien einsortiert. Im Gegenzug beweisen solche Menschen dann in der Mehrzahl der Fälle tatsächlich, daß der Staat sich bezüglich ihrer Gemütsverfassung nicht verrechnet hat. Den Vorwurf „Drückeberger“ will keiner auf sich sitzen lassen. Sie proklamieren ihren Zivildienst als den besseren Friedensdienst und wollen ihn als eigene Bereitschaft zu „sozialen Diensten“ gewürdigt wissen, die sie nicht nur als erzwungenen Ersatz für den Wehrdienst ableisten, so daß jeder sehen kann, daß Kriegsdienstverweigerer keinen Dienst verweigern – bis auf den einen eben, wenn man sie läßt.

Als diese private Haltung ist der Pazifismus ebenso geduldet wie folgenlos. Nichts im nationalen Leben bringt er durcheinander, alles geht seinen gewohnten Gang. Und da dem Pazifismus das Erpressungsverhältnis zwischen Staaten recht gelungen vorkommt, solange die Schwachen sich den Überlegenen beugen, also Friede herrscht, führt er in Friedenszeiten eher ein Schattendasein. Krieg ist ja gerade nicht, und nur an dem hätte er etwas auszusetzen. Seine Hochzeit hat er, wenn überhaupt, kurz vor und nach Kriegen. Wenn die Nation es wieder einmal dahin gebracht hat, mit ihren weltweiten wirtschaftlichen und politischen Ansprüchen die Lage so zu verschärfen, daß sich massiver Einspruch anderer Staaten regt, dann ist eine Entscheidung fällig, die je nach Kaliber des Gegners für die Nation von existentieller Bedeutung sein kann: Krieg oder Frieden? Was tun, wenn die Völker des Balkans den Ordnungsanspruch prominenter westlicher Aufsichtsmächte, darunter Deutschland, einfach nicht respektieren? Ist es hinnehmbar, wenn sie den Frieden, den die Großen dieser Welt als die ihnen genehme territoriale Aufteilung auf den Balkan exportieren wollen, ausschlagen und mit ihrer eigenen militärischen Macht um Volk und Raum kämpfen? Das sind so Fragen, die auch den Pazifisten herausfordern. Zwar hat sich sein privates Ego für Abstinenz in Gewaltdingen entschieden. Aber als loyaler Staatsbürger, der seinem Staat und der Politik nichts vorzuwerfen hat, weil er sie für eine gute Sache hält, verfügt er auch über einen Grund zum Rollenwechsel: Nicht als Privatmann, der Gewalt nicht mag, sondern als Deutscher, der seinen Staat schätzt, nimmt er sich willig der Sorgen und Nöte an, die Deutschland damit hat, daß die anderen nicht auf es hören wollen. Kann es für einen guten Deutschen, der auf seine Nation und ihr Engagement für Frieden und Ordnung in der Welt große Stücke hält, akzeptabel sein, daß andere diese guten Absichten hintertreiben? Eindeutig nein. Seine private Haltung, von Gewalt abzusehen, ist als Leitfaden der Nation unhaltbar: Die gute Sache käme unter die Räder der von ihr Angefeindeten, die sich wehren. Aus der Tatsache des Krieges leitet er den Bedarf nach ihm ab – gegen die, die ihn mit unlauteren Absichten führen. Also kritisiert der Nationalist im Pazifisten sein alter ego, das moralische Individuum, als hätte Kant mit seinem kategorischen Imperativ Pate gestanden, nach dem nur solche Handlungen des einzelnen sittlich wertvoll genannt werden dürfen, die zugleich allgemeine, sprich: solche der Nation sein können. Unbewaffnet jedenfalls ist sie zahnlos – und damit das Gute, das sie anderen aufzwingt.

Friedensbewegungen – und was sie einmal bewegte

Daß Pazifisten es vor gut zehn Jahren auch einmal zu einer echten Friedensbewegung gebracht haben, die gegen die Nachrüstung Protest einlegte, ist keine Widerlegung, sondern eine Bekräftigung des Gesagten. Angesichts der „Weltkriegsgefahr“ mochten es viele nicht bei ihrer privaten Abneigung gegen Gewalt belassen. Als besorgte Staatsbürger haben sie sich in den Ost-West-Gegensatz geistig eingeschaltet. Die nationale Anfeindung, der man sich heute gegen den „serbischen Aggressor“ anschließt, haben sie auch damals nicht zurückgewiesen, sondern unterschrieben. Daß Deutschland und seine Alliierten für Freiheit und Demokratie, also das Gute stehen, war ihnen ebenso geläufig wie die Hetze gegen das „Unrechtsregime“ hinter dem „Eisernen Vorhang“. Erschrocken waren sie nur über eines: Dieselben, die ihnen 40 Jahre lang wegen eines atomaren Patts die „Sinnlosigkeit des Krieges“ nahegebracht hatten, rüsteten mit ihrer Pershing-Nachrüstung und SDI-Initiative auf eine militärische Entscheidung des Systemgegensatzes hin. „Das kann nicht gut gehen!“ – so banal verkehrt war der Einwand gegen das Projekt, der in Pershing-Raketen „Magneten“ sah, die notwendig einen sowjetischen Gegenschlag auf sich ziehen, der Deutschland in einem „Euroshima“ vernichten würde. Nicht der Zurüstung auf Krieg galt diese Kritik, sondern der befürchteten Wirkung des nationalen Untergangs. Der Preis kam den Liebhabern einer friedlichen Bundesrepublik entschieden zu hoch vor, daß die Überwindung des Bösen den Untergang des Guten heraufbeschwört.

Die Feindschaftserklärung der Nation war also gebilligt, ihre Vollstreckung dagegen nicht. Die politischen Gegner des Pazifismus haben seinen Zwiespalt gespürt und sich nach Kräften bemüht, ihn zur Diskreditierung jeder Kritik an der militärischen Aufrüstung auszuschlachten. Leute, die sich gegen Pershing-Raketen auf die Bergpredigt beriefen, mußten sich vom damaligen Kanzler Schmidt vorrechnen lassen, daß sie bestenfalls eine „Gesinnungsethik“ vertreten, statt sich zur weit höher stehenden „Verantwortungsethik“ des Kanzleramtes zu bekennen, die die Sowjetunion nicht mit Abrüstungsbereitschaft, sondern mit zusätzlichen Atomraketen beeindrucken wollte. „Du sollst nicht töten!“ – das ist für die private Gesinnung das passende Gebot. Für die Nation und ihre Wehrmacht verbietet sich dergleichen. Wer den gesamten Ostblock als „Unrechtsregime“ verurteilte und damit als lebensunwertes Mitglied der Staatenwelt angriff, der setzte das eigene Volk natürlich einer militärischen Gegendrohung aus, über die er sich mit wachsender Rüstung hinwegzusetzen suchte. Für moralisch gebildete Menschen, die nachts Orgel spielen und Kant lesen, war es eine ganz leichte Übung, Ursache und Wirkung auf den Kopf zu stellen. Der antisowjetische Imperialismus wurde in eine besonders edle Form der Ethik umgelogen, die Verantwortung gegenüber den Menschenleben des eigenen Volkes bewies, obwohl er Deutschland – nicht erst – mit seiner aggressiven „Nachrüstung“ überhaupt erst in Gefahr gebracht hatte. Gemünzt war dieser Einfall auf die pazifistische Moral und ihre Empfänglichkeit für den Wert „Leben“: Entweder, sie bekennt sich zum „Schutz des Volkes“ als höchstem Wert und plädiert auf Nachrüstung, oder sie muß sich als moralische Gesinnung des bloß einzelnen ihre ethische Minderwertigkeit zu Herzen nehmen und die Schnauze halten – praktisch sowieso, aber auch theoretisch.

Diese Steilvorlage des großen Ethikers Helmut Schmidt hat der damalige CDU-Generalsekretär Geißler auf seine Weise verwertet. Wenn man den Pazifismus schon fertig macht, dann aber richtig. Er ist doch nicht nur verantwortungslos, wenn es um die höchsten Werte wie Krieg und Frieden geht. Es steht schlimmer. Er ist bei Lichte betrachtet verantwortlich, und zwar für den Krieg und seine unmenschlichen Folgen – eben weil er ihn nicht führen will. Wer gegen den Krieg ist, fördert ihn! Einem geschulten Jesuiten und christlich-demokratischen Parteiführer gelingt der Beweis dieser Absurdität mit Hilfe einer historischen Anleihe problemlos. Das unermeßliche Leid und der 2. Weltkrieg wäre der Menschheit erspart geblieben, hätten die damaligen Pazifisten den unvermeidlichen Waffengang gegen Hitler durch ihre weltfremde Kritik nicht so lange hinausgezögert. Statt frühzeitig mit einem gewaltigen Blitzkrieg das Böse im Keim zu ersticken, mußten die Guten dieser Welt später dann einen langatmigen und opferreichen Krieg gegen das erstarkte Nazideutschland führen. – So haben einmal die Feinde des Pazifismus argumentiert. Heute wendet der Pazifismus angesichts des Balkankrieges diese Anfeindungen gegen sich selbst, um abzudanken.

Es ist schon beachtlich, wie ein CDU-Generalsekretär, der es besser weiß, Moral und Wirklichkeit verwechselt, weil er darauf setzt, daß dergleichen bei Pazifisten verfängt.

Zunächst einmal ist es für ihn selbstverständlich, daß sich die deutschen Soldaten für Hitlers Krieg hergegeben haben und ihre damalige Pflicht fürs (nachträglich gesehen leider falsch geführte) Vaterland getan haben. Daß etwa sie ihren Dienst hätten aufkündigen müssen, um Hitler seinen Krieg zu verunmöglichen, so etwas kommt einem deutschen Politiker, der sein Volk benutzen will und daher auf dessen widerspruchslosen Gehorsam baut, auch eine Generation nach Hitlers Ende nicht in den Sinn. Statt dieses für einen Politiker unmöglichen Gedankens äußert er lieber den für einen deutschen Politiker auch ziemlich befremdlichen Einfall, die damaligen Feinde hätten Deutschland rechtzeitig niedermachen sollen. Nur weil er als Nachkriegspolitiker Hitler-Deutschlands totale Niederlage und seine „Buße“ als Verlierernation kennt, ist es ihm, um den Pazifisten unrecht zu geben, nachträglich ein leichtes, für ein früheres Losschlagen der späteren Sieger zu plädieren; war doch – wie deren Sieg lehrt – Hitlers Krieg ohnehin ein für Deutschland schädlicher Irrweg.

Darüber hinaus ist an dieser Geschichte einfach alles verlogen. Zuallererst seine eigene moralische Verve. Typen seines Schlages haben einem Hitler den Mißbrauch eines verführten Volkes in einem sinnlosen Krieg vorgehalten. Das ist konsequent, weil der Mann nichts gegen den Gebrauch eines Volkes und dabei anfallende Opfer einzuwenden hat, sofern sich deren Sinn im Erfolg der Nation erweist. Hitler aber hat den Krieg verloren, der sich darum den Vorwurf sinnlos zuzieht. Gekonnt auch die Lügen, die der CDU-Mann aus der Geschichte lernt, wenn er Pazifisten ans Leder will. Welche alliierte Macht hat ihren Kriegseintritt je von Meinungsumfragen auch noch unter Kriegsgegnern abhängig gemacht? Und was die Abwendung von „menschlichem Leid“ angeht, so etwas kann das Ziel des Krieges gar nicht sein, der die „Opfer“, zu deren Befreiung er angeblich angetreten ist, als Soldaten der feindlichen Macht niedermacht. Welche Nation schließlich verfolgt überhaupt das Ziel, Menschen Leid zu ersparen? Die einzigen, die überhaupt imstande sind, in großem Maßstab Ungemach über die Menschheit zu bringen, sind doch die Nationen selbst. Da rekrutieren sich die Täter ausschließlich aus dem Kreis der angepriesenen Helfer in der Not. Nicht, weil Nationen gegen den Humanismus die Antithese des Inhumanen vertreten würden, sondern weil ihre Zwecke ohne das Hobeln nicht zu realisieren sind, bei dem die unvermeidlichen Späne anfallen. Das alles weiß ein CDU-Mann, der aus nationaler Verantwortung gute Beziehungen zu allen möglichen Schlächtern wie Pinochet gepflegt hat. Aber er baut eben darauf, die wirklichen Vorhaben der Nation durch die höchsten sittlichen Motive wie „Menschenleben“ zu ersetzen, um den Pazifismus mit seinem eigenen Widerspruch zu erledigen: Wer das Gute will, muß das Böse beseitigen – oder er ist selber böse.

Wie bedingt der Einspruch der Pazifisten gegen den Einsatz militärischer Gewalt ist, kann man auch an den historischen Vorläufern des Nachrüstungsprotestes sehen. Nach Kriegen, genauer: nach verlorenen Kriegen ist der Pazifismus im Aufwind. „Nie wieder Krieg!“, das ist der Katzenjammer von Nationalisten, die soeben noch für die gute Sache der Nation ein Gewehr in der Hand hatten und nun mit ansehen müssen, wie der Kriegsausgang die Nation zum Opfer fremder Mächte gemacht hat, statt dem Guten zur Durchsetzung zu verhelfen. Das nährt den Verdacht, militärische Gewalt sei eben kein probates Mittel zur Lenkung der Geschicke des Landes. Zumal dann, wenn der Befund in berechnender Absicht von den neuen Regierenden ausgestreut wird, weil sie damit einer von den Siegermächten abverlangten Demutshaltung entsprechen mußten. Einem politischen Urgestein aus Bayern wollte sogar bei öffentlichen Auftritten der Arm abfallen, falls je wieder ein deutscher Mann ein Gewehr in die Hand nähme. Wie die Geschichte weiter ging, ist bekannt. Das Urgestein sprang nach einer bewegten Karriere, die ihn u.a. auch an die Spitze des Verteidigungsministeriums und in den Aufsichtsrat eines der größten deutschen Rüstungskonzerne geführt hatte, mit kompletten Extremitäten in die Grube.

Mit dem Ableben des mächtigen Systemgegners hat sich die Lage grundlegend gewandelt. Die „gewachsene Verantwortung“, die Deutschland überall auf der Welt wahrzunehmen beansprucht, ist von dem Risiko eines globalen Weltkriegs mit ungewissem Ausgang fürs erste befreit. Widerstände von Seiten der Nationen, die sich dem deutschen Führungsanspruch nicht fügen wollen, gibt es aber auch, aktuell auf dem Balkan. Diese Lage fordert nicht nur die Nation, sondern auch den Pazifisten heraus: In Scharen wechseln sie das Lager und fordern Krieg! Pro bono, contra malum – wenn es nicht anders geht, dann eben mit Gewalt. Das ist konsequent. Ihre Idee enthält ja die Notwendigkeit ihrer patriotischen Korrektur bereits in sich.

[1] Können Pazifisten, kann gerade eine Position der Gewaltfreiheit den Sieg der brutalen, nackten Gewalt in Bosnien einfach hinnehmen? … Können wir Prinzipien höher stellen als Menschenleben, und was wird aus unserem Prinzip der Gewaltfreiheit, wenn es sich vor der menschenverachtenden Gewalt beugt? (Joschka Fischer, Frankfurter Rundschau 2.8.1995.)

[2] Antimilitarismus ist nicht zahnlos, Pazifismus heißt nicht Duldsamkeit… Die Globalisierung der Weltwirtschaft seit Ende des 2. Weltkrieges und die damit verbundene gegenseitige wirtschaftliche Verflechtung der Staaten haben neue Instrumente des Zwanges geschaffen, die die militärischen an politischer Effizienz übertreffen könnten. Wir wissen aus den vielen negativen Erfahrungen des Nord-Süd-Konfliktes um die ungeheure strukturelle Gewalt, die die Geld- und Handelspolitik heute entfalten kann. Wir wollen anstelle der traditionellen Militärpolitik den Einsatz der historisch neuen Mittel struktureller Gewalt gegen Aggressoren. (L. Vollmer, K. Müller, A. Beer u.a. in einem Aufruf in: junge Welt 6.11.1995)

[3] Wir lassen uns die Militärdebatte von den Großen nicht aufzwingen, solange die nicht diskutieren, warum ihre Embargos so unwirksam bleiben. (Ludger Vollmer im ZDF-Bericht vom Strategiekongreß der Grünen in Bremen, Dezember 1995.)

[4] Gestern übrigens plädierten Pazifisten mit haargenau denselben Titeln gegen den Militarismus.

[5] Die jetzt gewendeten Pazifisten sind Propagandisten eines Krieges gegen die serbischen „Feinde der Humanität“ mit dem allerbesten Gewissen und fühlen sich daher von jeder Relativierung ihres Feindbildes in ihren heiligsten Werten getroffen. Wenn sie – die zu Bellizisten konvertierten einstigen Pazifisten – sich zum heiligen Krieg gegen einen „neuen serbischen Faschismus“ entschlossen haben, dann haben sie das als das personifizierte gute Gewissen der Nation aus den höchsten moralischen Gründen getan und fallen daher über ihren Genossen Handke aus der Dichterzunft her, der bei einer Reise durchs serbische Feindesland nichts von dem Feindbild entdecken konnte, das deutsche Intellektuelle ihresgleichen derzeit zur Pflicht machen.