Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der tiefe Fall des Edmund Stoiber:
Ein Stück lebendige Demokratie
Deutschlands dienstältester Ministerpräsident wird von seiner Partei zum Rückzug gedrängt. Ein „schwieriger Abschied von der Macht“ war es, ein „dramatisches“, ja sogar „entwürdigendes Schauspiel“. Wochenlang beherrscht das Thema die Nachrichten in Nation und Freistaat. Niemand wirft ihm verfehlte Politik vor. Eine „blendende Bilanz“ wird ihm vielmehr bescheinigt. Dennoch, nach einem halben Jahr Genörgel, losgetreten von einer bis dato völlig unbekannten Fürther Landrätin aus seiner eigenen Partei, wirft Stoiber das Handtuch und kündigt seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern an.
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Länder & Abkommen
Der tiefe Fall des Edmund Stoiber:
Ein
Stück lebendiger Demokratie
Deutschlands dienstältester Ministerpräsident wird von
seiner Partei zum Rückzug gedrängt. Ein schwieriger
Abschied von der Macht
war es, ein
dramatisches
, ja sogar entwürdigendes
Schauspiel
. Wochenlang beherrscht das Thema die
Nachrichten in Nation und Freistaat. Niemand wirft ihm
verfehlte Politik vor. Eine blendende Bilanz
wird
ihm vielmehr bescheinigt, 60 % plus X hat er für seine
CSU in Bayern eingefahren, seine Partei vom Ruch der
Amigo-Gesellschaft
gereinigt; gute
Staatsregierung
und jede Menge Erfolge mit Laptop
und Lederhose
werden ihm attestiert. Niemand kann ihm
nachsagen, er hätte etwas anbrennen lassen bei
brachialen Reformen
, bei Einsparungen und
Volksverarmung. Und niemand behauptet, dass sich etwas an
der bayrischen Politik ändern müsse oder würde. Weit und
breit ist kein Skandal in Sicht: kein außerehelicher
Geschlechtsverkehr, keine Fotos beim Plantschen im
Swimmingpool zur Unzeit und in unwürdiger Haltung; noch
nicht einmal Sonderrabatte bei IKEA hat seine Gattin
verlangt.
Dennoch, nach einem halben Jahr Genörgel, losgetreten von einer bis dato völlig unbekannten Fürther Landrätin aus seiner eigenen Partei, wirft Stoiber das Handtuch und kündigt seinen Rücktritt von allen politischen Ämtern an.
Ein schönes
Lehrstück über demokratische Führungsstärke und wie man sie verliert
haben die eifrig agierenden Akteure der CSU da zur Anschauung gebracht:
Kaum hat die berechnende Karrierefrau aus Fürth Stoibers
Führungsposition mit dem Vorschlag angegriffen, den
Parteihäuptling in Zukunft durch eine Urwahl durch die
Basis bestimmen zu lassen, geben die Stoiber-Getreuen aus
der Münchner Staatskanzlei eine kleine Auswahl gediegener
demokratischer Argumente zu Protokoll – so als wären sie
beim seligen Turkmenbaschi in die Schule gegangen: In
einem ersten (Abwehr)Akt wird versucht, der Nörglerin
Pauli per übler Nachrede das Maul zu stopfen.
Enthüllungen
aus ihrem Privatleben sollen sie beim
geneigten demokratischen Publikum in Misskredit bringen.
Der zweite (Abwehr)Akt wird mit politischer Diskussion
bestritten: Eine Wahl des Parteivorsitzenden durch die
Basis kommt erstens nicht in die Tüte; ist nämlich nicht
in den Parteistatuten vorgesehen. Das Ganze wäre zweitens
außerdem völlig sinnlos, da sowieso nur ein Kandidat zur
Wahl steht. Zu allem Überfluss wäre drittens die
Angelegenheit auch noch schlicht undemokratisch, weil der
Parteivorsitzende auch der Ministerpräsident des Landes
und dessen Wahl nun mal nicht Sache der Parteibasis ist.
Die beiden Evergreens und Highlights der demokratischen Streit-Kultur: Kritik verbieten und Kritiker mundtot machen durch moralische Vernichtung, werden also in einem ganz selbstverständlichen demokratischen Reflex durch die Adlati des Bayerischen Ministerpräsidenten in Anschlag gebracht.
Der erhoffe Erfolg dieser Abwehrwaffen lässt allerdings
zu wünschen übrig. Daher wissen hellhörige Beobachter der
Szene schnell, dass hier eine Götterdämmerung
im
Anzug ist – spätestens eben, seit der gute demokratische
Brauch, lästige parteiinterne Abweichler und Konkurrenten
mit Enthüllungen
mundtot zu machen, bei Frau Pauli
nicht funktioniert und gegen die Staatskanzlei
zurückschlägt, weil sich nämlich Kronzeugen
gegen
schmutzige Bespitzelungen
finden. Schließlich
lässt schon die Art und Weise, wie seine Kumpanen den
CSU-Chef in der Öffentlichkeit verteidigen, sensible
demokratische Gemüter wittern, wie vergiftet die
Atmosphäre in der CSU ist. Wenn der Führer darauf
angewiesen ist, von seinen Untergebenen versichert zu
bekommen, dass seine Führungsstärke weiterhin
selbstverständlich unangefochten ist
, dann weiß der
dialektisch gebildete Berichterstatter sofort, dass hier
von unangefochtener Führungsstärke
nicht mehr die
Rede sein kann. Wenn dann auch noch die immer wieder
ins Gespräch gebrachten möglichen Nachfolger
Huber,
Beckstein und Seehofer unablässig reihum beteuern: Ich
kandiere keinesfalls gegen Stoiber!
, dann hört erst
recht jedes auf Intrigen und diplomatische Heucheleien
spezialisierte Journalistenohr die Forderung heraus: „Der
Alte soll gefälligst mir Platz machen!“
Und da die Signale aus München über einen parteiinternen
Machtkampf immer deutlicher werden, ist jedem politisch
bewanderten Beobachter der Szenerie klar, dass dies der
vorläufige Endpunkt einer CSU-internen Intrigenwirtschaft
ist, die schon seit längerem im Gange ist. Spätestens
seit Stoiber aus Berlin geflohen ist
, wo er sein
maßgeschneidertes Ministeramt
nicht in einer
großen Koalition antreten wollte und stattdessen lieber
in München blieb; genauer bzw. aus der Sicht seiner
potenziellen Nachfolger: wieder nach München
zurückkehrte, wo die schon mit dem halben Arsch auf
seinem Ministerpräsidenten- bzw. Parteivorsitzendensessel
saßen; und ihre bisherigen Posten natürlich auch schon an
hoffnungsvolle Parteiaufsteiger verteilt waren: Das war
wirklich nicht einfach damals für die CSU mit all ihren
verantwortungsbewussten Machtaspiranten. Lauter
Führungspersönlichkeiten, die jederzeit ohne die
geringste Scheu zu Protokoll geben, dass sie in ihrem
Alter jetzt unbedingt einen der obersten Führungsposten
in Partei oder Staat besetzen müssen oder sich diese
Ambitionen gleich ganz abschminken können.
Das alles haarklein zu rekonstruieren und dem geneigten Publikum zu unterbreiten, findet eine demokratische Öffentlichkeit äußerst informativ. Der ist offensichtlich völlig geläufig, dass in einer lebendigen demokratischen Parteienlandschaft machtgeile politische Karrieristen ihre Ausscheidungskämpfe austragen und dabei ohne den geringsten Schein auskommen, es ginge hier um die berühmten „Sachfragen der Politik“.
Und keiner der bekennenden Demokraten, die das Publikum in Fernsehen und Presse über diese Hintergründe aufklären, erschrickt über die
Klarstellung in Sachen demokratische Führungsqualität
die sie selbst damit verbreiten. Diese über alle ihre
rohen Vorläufer unendlich erhabene freiheitliche
Staatsform spitzt sich in ihrer politischen Quintessenz
offensichtlich auf die eine Frage zu, wer in ihr als
unangefochtener Führer das Sagen hat, und ermittelt
wird die Antwort auf diese Frage nicht minder
umstandslos: Führer ist in der Demokratie, wer es
hinkriegt, dass seine Parteigenossen ihm geschlossen
hinterherlaufen. Freilich stehen die schlauen
Journalisten, die den Weg dieser Kür bzw. Demontage
detailliert berichten, nicht an, den Ausgang des
Verfahrens als direkten Ausweis der politischen
Qualifikation des Siegers für sein hohes Amt gelten zu
lassen: Wenn eine Figur sich in einer Partei nach oben
boxt und intrigiert, bis die Gefolgschaft geschlossen
pariert, ziehen sie daraus messerscharf den Schluss, dass
der Mensch an der Spitze kompetent, informiert und
weitblickend sein muss, also genau dort hin gehört, wo er
sich hingearbeitet hat: ,Einer, auf den gehört wird, muss
ein tüchtiger Mann sein‚ der sein Handwerk versteht‘.
Obwohl Herrschen gar kein Lehrberuf ist, wird das Urteil,
über politische Sachkompetenz zu verfügen,
streng nach Maßgabe des Erfolgs ermittelt, mit dem so
einer auf Gefolgschaft zählen kann, und je
unangefochtener ein Partei-Häuptling dann ist, umso mehr
imponiert er auch einer kritischen Öffentlichkeit. Von
der Anzahl seiner ergebenen Anhänger hängt ab, ob einer
eher ein Versager oder ein glanzvoller Landesfürst ist,
und entsprechend wird das demokratische Führungspersonal
öffentlich ins Visier genommen. Je fester ein
Partei-Häuptling im Sattel sitzt, umso devoter die
Journalistenschar, die ihn bei seinen öffentlichen
Auftritten umringt und auf ein Wort aus seinem Munde
wartet; freche Fragen erlaubt man sich, wenn feststeht,
dass der Führer seinen Zenit überschritten hat
–
was z. B. dann der Fall ist, wenn an ihm ungestraft
herumgenörgelt werden kann. Dann ist er seiner
Gefolgschaft offenbar nicht mehr sicher, von ihm selbst
daher der Lack ab
. So affirmiert eine allseits
kritische Öffentlichkeit nicht nur den demokratischen
Führungskult, sie praktiziert ihn auch und bringt ihn mit
all seinen Schönheiten im aktuellen Fall einem breiten
Publikum nahe. In zahllosen Berichten in Presse und
Nachrichten wird dem Wähler erklärt, dass Stoiber sein
Vertrauen nicht mehr verdient, weil er bereits das seiner
Hofschranzen zu verlieren droht, die eigene Partei sich
also nicht mehr uneingeschränkt der Selbstdarstellung
ihres amtierenden Chefs zur Verfügung stellt – und das
hat Folgen. Die in diesen Wochen heftig zitierte Figur
der Basis
spielt als Erstes die Rolle, die ihr in
den Chefetagen zugewiesen wird und die ihr dann von der
die Parteiführung aufmerksam beobachtenden Öffentlichkeit
mitgeteilt wird. Daher gärt
es in ihr je nachdem,
manchmal herrscht Unverständnis
, abwechselnd wird
die Rebellion
vorbereitet oder droht die
Zerreißprobe
. Das alles wird zu Prozentzahlen
zusammengerechnet, ist als Berufungstitel für die
Konkurrenzberechnungen der diversen CSU-Granden
abrufbereit – und ab sofort kann Stoiber nichts mehr
richtig machen. Der Zirkel des Erfolgs – Vertrauen, das
Vertrauen stiftet – wird nun gegen ihn gelesen, sein
Wille, an der Macht zu bleiben, ist kein moralischer
Führungsausweis mehr, sondern Starrsinn
und
Realitätsverlust
. Seine einstige Führungstugend,
sich 14 Jahre lang die Partei zu Willen gemacht
zu
haben, hat nun nur dafür gesorgt, dass sich viel
Widerwille entwickelt hat. Lange gestaute Kritik
explodiert wie ein Vulkan.
(SZ,
13./14.1.) Das muss nur oft genug in den Zeitungen
stehen und in Extra-Sendungen übers Fernsehen laufen,
dann zeigen als Zweites auch beim wählenden
Publikum die Umfragen prompte Wirkung: Eine Mehrheit
würde sich bei der nächsten Gelegenheit lieber von einem
anderen Spitzenkandidaten betören lassen. Die Demoskopie,
das beliebte Instrument, die Zuneigung des Wählers zu
erringen, indem man ihm in beeindruckenden Zahlen
beweist, wie sehr man sie schon besitzt, gibt jetzt denen
recht, die bereits heftig am Stuhl des Vorsitzenden
sägen, und kaum wird das 2 Tage lang in der Presse breit
genug getreten, werden ab dem 3. für Stoiber die Umfragen
immer verheerender. Wer sich da ans Hirn greift, liegt
ganz richtig, sollte aber nicht außer acht lassen, dass
dieser Affentanz gelebte Demokratie ist und ein
Stück
Aufklärung über die demokratische Kunst der Politisierung des Volks
bereithält. Die öffentlichen Berichterstatter über die
Intrigenwirtschaft der CSU leisten ganze Arbeit, um ihre
Klientel am Stand und Fortgang der Dinge zu
interessieren. Über alle niederträchtigen und gemeinen,
lächerlichen und schlicht blöden Vorkommnisse des
parteiinternen Machtkampfs wird das Volk auf dem
Laufenden gehalten – weil nämlich genau darin
die Hauptsache der politischen Bildung besteht,
die in der Demokratie für es vorgesehen ist: Unbedingt
Anteil zu nehmen hat es an der Ermittlung, welcher dieser
feinen Herren gegen wen obsiegt oder den Kürzeren zieht,
weil diese Ermittlung die einzige Form ist, in
der es an der Politik beteiligt ist und
bleiben soll. Führungsfragen gehen den
demokratischen Bürger an; schließlich ist er für die
Auswahl des möglichst Besten aus der Riege all der Typen,
die vom Atomstrom übers Klima bis zur Altersversorgung
gerne die Lebensumstände kommandieren würden, die der
Rest dann auszuhalten hat, zuständig, exklusiv sogar. Um
ihn dafür kompetent zu machen, wird er auch in diesem
Fall von den Medien am politischen Geschehen
beteiligt
und mit Maßstäben der demokratisch
senkrechten Politik-Beurteilung versorgt, bei denen
garantiert keiner mehr auf die Idee verfällt
nachzuprüfen, was denn einer der konkurrierenden
Kandidaten der Sache nach überhaupt sagt, wenn er sein
Maul aufreißt. Die Kriterien, an denen freie Bürger die
Persönlichkeit erkennen, von der er sich gerne regieren
lassen, kreisen um das Ideal des Führers: Überzeugend,
kraftvoll, unumstritten; auch moralisch soll man ihm
nichts nachsagen können. Sie betätigen also ihre
politische Urteilskraft, wenn sie die Affäre Stoiber mit
skeptischen Einlassungen begleiten wie: Nach der
Bespitzelung ist der doch untragbar geworden
,
verbraucht
, wird sich nicht mehr lange halten
können.
, aber auch: Beckstein ist zu alt und
außerdem ein Franke.
Natürlich können auch moralische
Qualifikationen eine Rolle spielen: Die versuchte üble
Nachrede kann den einen diskreditieren, ein Ehebruch den
anderen, den dritten, dass er dem ersten immer in den
Arsch gekrochen ist, und auch die Rote mit dem Lederrock
muss man nicht moralisch glaubwürdig
finden.
Ob Stoiber nun aber tatsächlich verbraucht, Beckstein zu
alt, Seehofer zu untreu und die Pauli eine Schlange ist-
welche Figur die Sehnsucht der Wähler nach einer
überzeugenden Führer-Persönlichkeit am ehesten erfüllt,
das entscheidet gar nicht ihr autonomes moralisches
Empfinden, sondern der Fortgang der Affäre. Als Zaungäste
eines politischen Dramas warten sie ab: Wer wird’s
wohl packen?
– und spielen mit abwägender
Sensationslust die jämmerliche Rolle eines wandelnden
Politbarometers, das auf Abfrage darüber Auskunft gibt,
wer sich ihrer Einschätzung nach wohl durchsetzen wird
und daher auch in Sachen politischer Kompetenz bei ihnen
im besten Ruf steht. Sie sind das Echo der jeweiligen
Zwischenstände des Machtkampfs und tun so, als seien sie
Punktrichter in einem politischen Schaulaufen. Und als
dieses Echo werden sie von den Akteuren zum Werkzeug
gemacht beim Absägen ihrer bayrischen Lichtgestalt.
Die Sache hat Unterhaltungswert. Ohne jede
Distanz zu den Macht- und Unterordnungsverhältnissen,
unter die sie subsumiert sind, finden freie Bürger den
Machtkampf von Politkarrieristen, der sie in doppelter
Hinsicht nichts angeht, einfach spannend. Es stört sie
erstens nicht, dass sie nichts zu melden haben bei dem
Hauen und Stechen, das die verfeindeten Parteifreunde da
unter sich ausmachen, und es schmälert ihr Interesse an
der schönen Intrigenwirtschaft zweitens in keiner Weise,
dass von deren Ausgang für sie und ihre Lebensumstände
nun aber wirklich gar nichts abhängt. Wenn sie aus ihrer
Schlüssellochperspektive des Kammerdieners Einblick ins
Innenleben der Politik nehmen und mit Interesse unfeine
Verkehrsformen und wenig sympathische Sitten entdecken,
dann stehen ein paar abschätzige und abgebrühte Auskünfte
über diese Typen an, denen es nur um die Macht
geht
. ? Den fälligen Schluss vom Mittel auf den
Zweck, vom Charakter, der sich so fürs Amt qualifiziert,
auf die Natur des Gewerbes ‚Macht‘, um dessen Ausübung
konkurriert wird, zieht allerdings keiner: Von
Politikverdrossenheit keine Spur!