Editorial
An freien Wahlen entscheidet sich alles: Freiheit oder Knechtschaft. Das weiß jeder. Aber: Was entscheiden freie Wahlen eigentlich?
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Editorial
An freien Wahlen entscheidet sich alles: Freiheit oder Knechtschaft. Das weiß jeder.
Aber: Was entscheiden freie Wahlen eigentlich?
Entscheiden sie z.B., ob oder sogar: daß aus Rußland etwas Brauchbares wird, nachdem sich in diesem Land die Machthaber eine völlig neue Sorte Staat gewählt haben? Tatsächlich hat die Wahl weder die neue „Marktwirtschaft“ in Gang noch die alte realsozialistische Gemütlichkeit zurückgebracht. Und an Macht über das Land hat sie ihrem Veranstalter, Präsident Jelzin, nur genau soviel eingebracht, wie er sich vorher bereits verschafft hatte – mit Gewalt, wie man weiß. Deswegen kommt jetzt überhaupt erst alles darauf an, wer was aus Rußland macht – Wahlergebnis hin oder her.
Oder entscheiden die anberaumten freien Wahlen, ob der Republik Südafrika der Übergang zur gemischtrassischen Vormacht Schwarzafrikas gelingt, den die beiden zuständigen Friedensnobelpreisträger hinkriegen wollen und für den sie sich ein ganz neu zusammengesetztes Volk gewählt haben? Jeder Tag Wahlvorbereitung zeigt auf reichlich blutige Weise, daß die Machtkämpfe um die Neudefinition des Staatsvolks und die Grundlagen der neuen Staatsraison nicht den Stimmzetteln überlassen bleiben. Die sind überhaupt nur soviel wert, wie vorher an „Klärung“ der Machtverhältnisse erreicht wird und wie deren weitere „Klärung“ hinterher vom Wahlergebnis übrigläßt.
Vielleicht entscheiden die anstehenden freien Wahlen ja wenigstens in Italien, wie es mit der Staatskrise in diesem Land weitergeht, nachdem die „politische Klasse“ ziemlich weitgehend sich selber abgewählt hat. Immerhin ist ja nicht gar so viel zu entscheiden; weder über den italienischen Kapitalismus wird abgestimmt noch über EU-Mitgliedschaft noch die NATO-Integration des Landes. Immerhin steht aber doch auf dem Spiel, ob Italien ganz bleiben oder ein bißchen aufgeteilt werden soll und wie; ob seine alte Art, Kapitalismus zu machen, von linken oder rechten Saubermännern reformiert oder bloß umgestaltet wird und wie; die konkurrierenden Konzepte berühren durchaus die Staatsraison, nach der es mit dem europäischen Partner weitergehen soll. Und schon ist klar, daß freie Wahlen ihren demokratischen Veranstaltern als höchst fragwürdiges Verfahren vorkommen, um solche Alternativen zu entscheiden. Vor allem die Konkurrenten von der Rechten tun alles, um den Wahlausgang vorab unter Kontrolle zu bringen; und gleichzeitig steht für sie vollkommen fest, daß mit dem Wahlausgang, so oder so, die eigentliche Machtfrage noch lange nicht entschieden ist.
Und wie steht es in der Bundesrepublik Deutschland, diesem notorischen Musterland demokratischer Formvollendung und Stabilität, im „Superwahljahr“, vier Jahre, nachdem dieser Staat sich eine neue Ausdehnung gewählt hat? Da treten noch nicht einmal unterschiedliche Konzepte für die fällige neue Staatsraison der vergrößerten Nation gegeneinander an; unter den etablierten Demokraten herrscht die große Koalition, der totale Konsens über Ansprüche, Rechte und Notwendigkeiten des Staates und sogar über die Leitlinien der dazu passenden Gesinnung des Volkes. Es ist bloß so, daß diese Angebote nicht so wie gewohnt den national mitdenkenden Wähler befriedigen und eine patriotische Rechte die gewohnte Verteilung der Stimmen und Parlamentssitze ein wenig durcheinanderbringen dürfte. Und schon schließen sich etablierte Parteien und pluralistische Öffentlichkeit in der Auffassung zusammen, daß damit die Toleranzbreite dessen, was man als verantwortlicher Demokrat der freien Wählerentscheidung anheimstellen darf, ziemlich überschritten wird. Man nimmt sich vor zu zeigen, was die Kunst der freiheitlichen Ausgrenzung, notfalls mit Hilfe des Verfassungsschutzes, vermag, um das Wahlvolk auf Linie zu bringen. Was würden diese ordentlichen Demokraten erst machen, wenn sie russische Verhältnisse zu regieren hätten?
Freie Wahlen sind für den Staat, der sie sich leistet, soviel wert wie ihr Ergebnis. Das Ergebnis ist soviel wert wie die Voraussetzungen, die überhaupt nicht zur Wahl stehen. Was das alles wert ist und wem warum wieviel, also das Nötige über das Verhältnis zwischen imperialistischer Staatsraison und demokratischem Procedere, das steht in diesem Heft.