Zu dieser Nummer

Seit Monaten erfährt das lesekundige Publikum von immer größeren Milliardensummen, in Dollar und Euro, die im Finanzgewerbe gestrichen und abgeschrieben werden. – Wie sind diese enormen Werte vorher eigentlich zustande gekommen?

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Zu dieser Nummer

Seit Monaten erfährt das lesekundige Publikum von immer größeren Milliardensummen, in Dollar und Euro, die im Finanzgewerbe gestrichen und abgeschrieben werden. – Wie sind diese enormen Werte vorher eigentlich zustande gekommen?

Seit ungefähr anderthalb Jahren wird man über die Armut amerikanischer Hypothekenschuldner aufgeklärt und über Zweckgesellschaften, die den Zweck haben, Schulden zu machen und damit Schulden zu kaufen. Man lernt englische Abkürzungen kennen – ABS, CDS, CDO ... – und wird in die Kunst von Investmentbanken eingeweiht, „Risiken“ zu „verbriefen“, verbriefte Risiken immer neu zu „verpacken“ und am Handel damit schweinemäßig zu verdienen. – Was ist das eigentlich für ein Geschäft? Welche ökonomische Leistung wird da erbracht?

Eigentlich keine – das ist der Tenor der Aufklärung über die Gründe des derzeitigen Zusammenbruchs, die der Menschheit seit Wochen schriftlich und fernsehtauglich verabreicht wird. Ein „Kartenhaus“ ist eingestürzt; die großen Ziffern waren „Luftbuchungen“, eine „Blase“, die jetzt „geplatzt“ ist. – Wenn das stimmt: Was ist dann eigentlich schlimm daran, wenn die „heiße Luft“ jetzt „entweicht“? Was schadet die Streichung wertloser Ziffern? Andersherum: Ist mit den großen Dollar-, Euro- und Pfund-Beträgen nicht ganz ordentlich gewirtschaftet worden? Waren die nicht ein ehrlicher Teil des Bruttosozialprodukts? Fehlen sie jetzt nicht im Haushalt der ganzen Geschäftswelt?

Schlechte Schulden, heißt es, haben gute Investments, mit denen sie zusammengepackt worden sind, auch schlecht werden lassen, so wie ein fauler Apfel in einer Kiste die anderen ansteckt. – Mal abgesehen von dem kindischen Bild: Warum lassen sich aus einem Korb voller Wertpapiere die schlechten Kredite nicht genauso locker wieder aussortieren, wie sie hineinsortiert worden sind? Oder handelt es sich beim Finanzgeschäft vielleicht gar nicht um Körbe und Verpackungen?

Per Saldo wird der Mensch belehrt: Was Banken und Spekulanten über die Jahre angestellt haben, das konnte auf die Dauer nicht gut gehen. – Bloß: Was ist denn eigentlich so enorm lange so enorm gut gegangen?

Insgesamt, so erklärt es sogar der deutsche Bundespräsident seinem Volk, hat sich die Kreditwirtschaft, seit die Banker keine Bankiers mehr sein wollen, von ihrem eigentlichen Beruf, der Versorgung der restlichen Wirtschaft mit Leihkapital, in unverantwortlicher Weise getrennt und nur mit sich selbst Geschäfte gemacht. Den Dienst an der „Realwirtschaft“ hat sie erst vernachlässigt, am Ende verachtet. Die Krise ist die Quittung. – Hat denn die Kreditversorgung der Firmenwelt in all den Jahren, in denen die Finanzmärkte ihre jetzt gestrichenen Vermögenssummen aufgehäuft haben, nicht bestens geklappt? Sind da nicht aus dem Bankgeschäft, das angeblich so ganz mit sich selbst beschäftigt war, alle nachgefragten Finanzmittel in die anderen Branchen hinein geflossen?

Und um einmal die naheliegende Frage zu stellen, die in der ganzen öffentlichen Aufregung um die Finanzkrise überhaupt nicht vorkommt: Was haben all die Kreditmassen in der „realen“ Wirtschaft eigentlich real bewirkt? Wer hat davon was gehabt? Firmen sind mit den Mitteln aus unerschöpflich ergiebigen Finanzmärkten weltrekordmäßig gewachsen – wie steht es um die Belegschaften? Und wie um die, die dank erfolgreichem Wirtschaftswachstum zu gar keiner Belegschaft mehr gehören? Was dem Publikum an Aufklärung über die Finanzkrise geboten wird, ist nicht in dem harmlosen Sinn verkehrt, dass Fakten verdreht oder verheimlicht würden. Es ist schlimmer: Die Informationsflut, der die Menschheit ausgesetzt ist, leitet mit fachkundigen Antworten dazu an, nichts als lauter falsche Fragen zu stellen.

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Die Fachwelt kündigt den Geschäften der Finanzwirtschaft, soweit sie jetzt kaputt gehen, rückwirkend jedes Verständnis; sie ergreift Partei für die „Realwirtschaft“ und ein Kreditgewerbe, das deren Bedürfnisse demütig bedient. Freunde einer sozialen Marktwirtschaft haben sich sogar auf die Diagnose geeinigt: Die Eskapaden der Banker mussten schief gehen, weil „letztlich“ nur die Arbeit wirkliche Werte schafft. Der einstige Bankier an der deutschen Staatsspitze, der selber auch dieser Auffassung zuneigt, meint damit zwar nicht mehr als die Spitzenweisheit des nationalen Menschenverstandes: „Ohne Fleiß kein Preis!“ So manchem klingt die Apotheose der Arbeit aber wie eine Erinnerung an „Das Kapital“ von Marx in den Ohren – ist da nicht irgendwie von der Arbeit als „Substanz der Werte“ die Rede? Der alte Schmöker findet sogar wieder vermehrten Absatz; während leitende Bankangestellte fromm werden, kokettieren Experten mit der „Arbeitswertlehre“, die sie bislang auch nur als metaphysische Gedankenverirrung gekannt und verachtet haben. Und nicht nur das: Auch links-alternative Krisentheoretiker sehen sich in ihrer Auffassung bestätigt, in der Finanzkrise betätige sich das „Wertgesetz“: die Abhängigkeit des Werts von der verausgabten menschlichen Arbeit...

Was Marx betrifft, so hat der seine „Arbeitswertlehre“ genau umgekehrt gemeint und das seinen Genossen, z.B. in Gotha, auch eingeschärft: In der Ökonomie des Kapitals zählt menschliche Arbeit nur als Quelle von Tauschwert, von Eigentum in Geldform. Das „Wertgesetz“ ist kein Kompliment an die werktätige Menschheit, das der ihre Unentbehrlichkeit bescheinigt, sondern eine Kritik an deren Benutzung als Geldquelle. Die Analyse des Warenwerts liefert nicht den guten Grund für eine Ökonomie der Tauschwerte, sondern begründet die kommunistische Absage an die Subsumtion der Arbeit – also die Unterwerfung derer, die sie tun müssen – unter das Regime des Eigentums und das politökonomische „Gesetz“ der bedingungslosen Geldvermehrung. Aber das nur nebenbei.

Was die Finanzkrise betrifft, so ist jedes Stück Reichtum, das dadurch kaputt geht, und jedes Geschäft, das deswegen scheitert oder unterbleibt, ein Beispiel und ein Beleg für das, was bei Marx „Ausbeutung“ heißt: für die Dienstbarkeit der Arbeit, für ihre Funktion als Produktionsmittel der über sie ausgeübten Macht des kapitalistischen Eigentums, für ihre verächtliche Behandlung durch die Instanzen des gesellschaftlichen Reichtums. Denn wenn die Finanzkrise schädigt, was man in der Marktwirtschaft „die Wirtschaft“ nennt, nämlich den Prozess der Geldvermehrung lahm legt, dann lassen sich daraus ein paar einfache Schlüsse ziehen:

  • Wert wird geschaffen, Geld wird vermehrt nicht durch Arbeit, sondern mit dem Regime des Geldes über die Arbeit.
  • Dieses Regime bedient sich da, wo es praktisch ausgeübt wird, Arbeit als Wertquelle ausbeutet: also in der vielgepriesenen „Realwirtschaft“, der Macht des geliehenen Geldes. Die Kommandogewalt des produktiven Kapitals über seine menschliche Geldquelle kommt überhaupt bloß in die Gänge, behauptet sich „am Markt“ und wächst mit der Verwendung von Schulden als Geldkapital.
  • Der so gebieterisch angemahnte Dienst des Finanzgewerbes an der Welt der realen Ausbeutung besteht in dessen Leistung, Schulden als Geldkapital wirken zu lassen; bei seinen Kunden und bei sich selbst. Mit seiner Macht über Geld und Kredit stellt es die Finanzmittel her und bereit, die das Kapital, aus welcher Branche auch immer, zur Konkurrenz um Profit befähigen.

In der derzeitigen Finanzkrise stellt sich heraus, dass das Gewerbe, das sich selber stolz als „Finanzindustrie“ bezeichnet, mehr „Produkte“ zirkulieren lässt, als es sich noch abkaufen will. An seinen eigenen spekulativen Bedürfnissen gemessen, hat es ein Übermaß von Schulden in Geldkapital verwandelt und in Form von Wertpapieren akkumuliert. Es schrumpft zusammen; freilich nicht auf ein irgendwie durch die Bedürfnisse der „Realwirtschaft“ vorgegebenes Maß oder auf das Quantum der dort gelungenen Ausbeutung menschlicher Arbeit. In der Krise beweist das Finanzkapital vielmehr mit seinen Zerstörungsleistungen, was es mit seinen Akkumulationsleistungen zustande gebracht hat: Von deren Fortgang hängt das gesamte marktwirtschaftliche Geschäftsleben ab; kein Unternehmen, das sein Geschäft nicht mit Hilfe der Kreditmacht seiner Bank oder selbst gleich finanzkapitalistisch betreiben würde – mit dem Ziel, das eigene Geschäft als lohnendes Investment für Finanzanleger attraktiv zu machen; mit Finanzmitteln, die „die Finanzmärkte“ durch den Handel mit Schulden als Geldkapital verfügbar machen. Wenn es jetzt mit seiner allzu erfolgreichen Selbstbereicherung in die Krise geraten ist, reduziert das Finanzgewerbe daher nicht bloß sich selbst, sondern die allgemeine Geschäftstätigkeit, die eigene wie die seiner Kundschaft; es reduziert sie nicht auf einen irgendwie objektiv vorgegebenen „harten Kern“, sondern auf die Reichweite seiner Macht zur Vermehrung von Geldkapital durch Schulden und seiner Spekulation auf lohnende Investments welcher Art auch immer.

Von all dem will die aufgeklärte und aufklärerisch aktive Fachwelt nichts wissen. Ausgerechnet die amtierenden Betreuer und intellektuellen Protagonisten der Marktwirtschaft, die bislang das Bankgewerbe mit seinen exorbitanten Renditen hoch geschätzt haben und die sonst jede kapitalistische Schweinerei als letztlich wohltätigen Sachzwang zu rechtfertigen pflegen, können sich gar nicht genug tun im Schlechtmachen der Geschäfte, die zu den jetzt annullierten gewaltigen Vermögensziffern geführt haben: Die wären nichts als von vornherein zum Scheitern verurteilte systemwidrige Entgleisungen – dass jeder Experte die Grenze zwischen nach wie vor nützlichen, also ehrenwerten Techniken der Spekulation und unehrenhaften Übertreibungen woanders zieht, ist da nur ein kleiner Scherz am Rande, der die Botschaft nicht weiter stört. Die lautet: Alles muss getan werden, damit der gute Kapitalismus wieder in die Gänge kommt. Alles muss von neuem so weitergehen wie bisher; mit einem gesundgeschrumpften Kreditsektor. Alles, was dem Publikum an Kritik an den entgleisten Verhältnissen geboten, ja aufgedrängt wird, ist eine einzige Anleitung zur Parteinahme für eben diese Verhältnisse. Mit Ärger über eine winzige Elite von Verursachern der Krise und mit Schadenfreude über geschädigte Yuppies darf man sich schadlos halten; ansonsten hat man aber alle eintretenden Schäden wegzustecken und alle verlangten Opfer zu bringen – für die Rettung genau des Systems, das mit der Leistung und auf Kosten der brav arbeitenden Mehrheit der Gesellschaft kapitalistischen Reichtum schafft und so die Herrschaft des Geldes und die Macht der Kredits reproduziert. Und so systemtreu soll man sich ausgerechnet deswegen verhalten, weil dieses System seinen Reichtum gerade mal wieder stückweise vernichtet und dafür schon wieder seinen menschlichen Produktionsfaktor mit härteren Lebensbedingungen büßen lässt. Dem Fußvolk des Systems wird die Absurdität zugemutet, wegen der Krise der Überakkumulation im Finanzgewerbe für ein neues Gelingen der Akkumulation in allen kapitalistischen Gewerben zu sein; alle systemgemäß fälligen Gemeinheiten soll es sich in diesem Sinne gefallen lassen, weiter unter dem und für das Regime des Geldes arbeiten oder ohne Arbeit brav und unauffällig herumsumpfen. Und weil außer der Marktwirtschaft auch noch Demokratie herrscht und ein Superwahljahr bevorsteht, kommt das sachgerecht aufgeklärte Publikum außerdem noch in den Genuss, die diesbezügliche Tatkraft seiner politischen Chefs und Chefinnen kritisch beurteilen und demnächst mit einer Wahlstimme quittieren zu dürfen.

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Von der Verwendung der Finanzkrise als Stoff und Gelegenheit für eine Einschwörung auf unbedingte Systemtreue und von der einschlägigen Kunst der systematischen Irreführung durch Information und Kritik handelt das vorliegende Heft. Die Antworten auf die Fragen, die uns zur Krise eingefallen sind, sind in Arbeit und erscheinen in der nächsten Ausgabe unserer Zeitschrift. In der steht dann auch alles Nötige, was es zu den Einfällen der sog. ‚Linken‘ zum Thema anzumerken gibt.