Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Deutschland im Jahr 2015
Glanzleistungen demokratischer Regierungskunst
Das Jahr beginnt mit einem großen Triumph der kleinen Koalitionspartei, die amtierende Ministerin für soziale Belange platzt vor Stolz aus allen Nähten: „Zehn Jahre streiten wir uns nun über das Für und Wider eines Mindestlohns und jetzt kommt er“. Frau Nahles hält es für nicht übertrieben, zu behaupten: Wir setzen heute einen Meilenstein in der Arbeits- und Sozialpolitik der Bundesrepublik Deutschland.
Was ist daran eigentlich so großartig?
Gegen Jahresmitte hat die Regierung einen Europa- und Euro-politischen Triumph zu verkünden: Sie hat die Griechen kleingekriegt. Nein, natürlich nicht „die Griechen“ – deren europäische Zukunft haben Merkel und Schäuble vielmehr in gemeinsamer Anstrengung gerettet. Kleingekriegt haben sie die griechische Regierung, die das höchste Gut verspielt hat, das in Europa zu haben ist: das Vertrauen der Regierenden in Berlin.
Im Spätsommer des Jahres läuft die Kanzlerin zur Höchstform auf und verschafft sich mit einem kleinen Satz ihren ganz großen Auftritt. Ihre Botschaft ist angesichts der zunehmend eskalierenden Berichterstattung der deutschen Öffentlichkeit, die die Flüchtlingstrecks auf der Balkanroute begleitet, unmissverständlich: Eine gigantische humanitäre Katastrophe bahnt sich an, und sie bewegt sich auf Deutschland zu. So braucht die Kanzlerin nur drei Wörter, um damit dem ganzen Land eine menschlich gebotene Gemeinschaftsaufgabe anzusagen: Wir schaffen das!
Das Jahr neigt sich dem Ende zu. Terroranschlag in Paris, in der Summe 130 Tote. Und sofort ist klar: nichts ist mehr wie vorher
. Mit Paris ändert sich alles
. Wieso eigentlich?
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Deutschland im Jahr 2015
Glanzleistungen demokratischer
Regierungskunst
I. Der Mindestlohn kommt!
Das Jahr beginnt mit einem großen Triumph der kleinen
Koalitionspartei, die amtierende Ministerin für soziale
Belange platzt vor Stolz aus allen Nähten: Zehn Jahre
streiten wir uns nun über das Für und Wider eines
Mindestlohns und jetzt kommt er
– ab dem ersten
Januar gilt in Deutschland ein gesetzlicher Mindestlohn
von 8,50 Euro pro Stunde. Frau Nahles hält es für
nicht übertrieben, zu behaupten: Wir setzen heute
einen Meilenstein in der Arbeits- und Sozialpolitik der
Bundesrepublik Deutschland.
Was ist daran eigentlich so großartig?
Zunächst schlicht die Tatsache: dass sie den Mindestlohn überhaupt verwirklicht, d.h. mit aller staatlichen Macht durchgesetzt hat. Schließlich weiß jeder, gegen wen sie ihn durchgesetzt hat: vor allem gegen die versammelte deutsche Unternehmerschaft, die lange Zeit hartnäckigen Widerstand geleistet hat. Mit einem einzigen, so schlichten wie schlagenden Argument: ihrem privaten Gewinninteresse. So enthält das Selbstlob der Ministerin ein paar interessante Klarstellungen:
Erstens die, dass in dem Land, das sie mitregiert, das Interesse von Unternehmern an beliebig schlechter Bezahlung ihrer Dienstkräfte zur Verbesserung ihrer Gewinnkalkulation als maßgebliches Prinzip allen Wirtschaftens gilt. Zweitens bekennt sich die Ministerin fürs Soziale zu der ganz außerordentlichen Stellung dieses Partikularinteresses, von der die Unternehmer ihrerseits mit ihrer Drohung einfach ausgegangen sind, die sie für den Fall der Einführung des Mindestlohnes in den Raum gestellt haben: Zwingt man sie beim Löhne-Zahlen zur Einhaltung irgendeiner Untergrenze, behalten sie sich vor, die Löhne eben ganz zu streichen, also mit den Arbeitsplätzen deren ‚Besitzern‘ die Existenzgrundlage zu nehmen. Für ihren privaten Materialismus beanspruchen diese selbstbewussten Damen und Herren, dass dieser zugleich viel mehr als ein solcher ist – deshalb heißen sie ja auch ‚die Wirtschaft‘. Wenn schon von ihren Gewinnen abhängt, ob der Rest des Volkes überhaupt leben darf, dann sind niedrige Löhne nicht nur im Interesse ihres Gewinns, sondern glatt noch ein Dienst an denen und daher im Interesse derer, die von solchen Löhnen nicht leben können. Die Frau Sozialministerin, deren Beruf das politische Kommando über diese Gesellschaft ist, geht völlig selbstverständlich von dieser Abhängigkeit der ganzen Gesellschaft vom materiellen Privatinteresse der unternehmerischen Minderheit, von der materiellen Unterwerfung aller anderen unter deren ökonomisches Kommando, aus. Sie erklärt diese Abhängigkeit kraft ihres Amtes zum Sachzwang, der gilt. Und was sie da anerkennt, bereitet ihr zugleich Sorgen.
Als Ministerin fürs Soziale ist sie nämlich von Amts
wegen um die Lage der Geringverdiener schwer besorgt: Da
gibt es Millionen von Menschen, die fleißig arbeiten,
aber bisher billig abgespeist wurden
; Leute mit
Vollzeitarbeit und trotzdem immer noch Hartz-IV-Fälle.
Darin sind sie für Frau Nahles ein doppeltes Problem.
Einerseits ein menschliches. Sie sieht in der für
Millionen von Menschen gültigen Gleichung von Arbeit in
Vollzeit und einer Entlohnung unterhalb des
Existenzminimums einen einzigen skandalösen Widerspruch –
Fleiß gegen billiges Abspeisen, das haben die
Beschäftigten nicht verdient. Und zwar in einer viel
edleren als in schnöder materieller Hinsicht: Verdient
hat der Mensch laut Frau Nahles, dass, wer Vollzeit
arbeitet, auch von dieser Arbeit leben können muss
.
Und das heißt: Bei so tatkräftigen wie verzichtsbereiten
Existenzen ist ein Mindestlohn nicht geschenkt,
sondern verdient
. Dass Menschen, die nicht bis zum
Anschlag arbeiten, in diesem Land auch keine materielle
Existenz zu erwarten haben, ist als moralischer Grundsatz
abgehakt. Wenn aber massenhaft Leute, die dieses
selbstverständliche Kriterium erfüllen, der Gemeinschaft
trotzdem auf der Tasche liegen müssen, dann verletzt das
eindeutig deren Würde. Die Menschenwürde fordert
nämlich, dass unbedingter Fleiß und Verzichtsbereitschaft
zumindest mit einem Existenzminimum entgolten werden: Auf
so viel Anerkennung als nützliche Bürger haben auch die
prekärsten Existenzen ein Recht.
Was allerdings noch gar nicht heißt, dass aus diesem Recht auch Wirklichkeit wird – es ist eben bloß ein moralisches. Es gibt da aber noch ein weiteres, und zwar echt materielles Problem, das der Würde der armen Leute ein politisches Gewicht gibt. Das haben die staatlichen Sozialkassen:
„Das Gesetz schützt Beschäftigte im Niedriglohnsektor vor Dumpinglöhnen und verringert so die Zahl der Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer, die trotz Vollzeitbeschäftigung auf Sozialleistungen angewiesen sind.“
Erstens also sind die Sozialkassen nicht dafür da, dass sie von Bedürftigen in Anspruch genommen werden – schon gar nicht in steigendem Umfang. Und zweitens erst recht nicht dafür, dass die Arbeitgeber die Sozialkassen systematisch in ihre Lohndrückerei einpreisen. Dann wird aus einem standortnützlichen ‚Niedriglohnsektor‘ ein Vergehen namens ‚Dumpinglohn‘ und aus „Lohnaufstockungen“ vom Sozialamt die Subvention unfairer Konkurrenzmethoden der Unternehmer.
Also zweimal Für, einmal Wider: Die Abwägung zwischen diesen konkurrierenden Werten – legitime materielle Interessen von Gewicht, Menschenwürde, Staatsfinanzen – ist im reichsten Land Europas per se schon schwierig genug. Und eine eigene Herausforderung für die Regierung allein schon deswegen, weil das Kräfteverhältnis zwischen den Beteiligten auch schon klar ist.
Durchzusetzen ist ein Mindestlohn sowieso nur von Staats
wegen gegen die Wirtschaft und ihre Lobby. Dass
die Arbeitgeber den Teufel tun werden, sich an ein neues
Gesetz zu halten, bloß weil es die Regierung per
hoheitlichen Beschluss erlassen hat, dass der Mindestlohn
also bloß einer auf dem Papier
bleibt, der
niemandem nützt
, wenn er nicht auch irgendwie
in der Wirklichkeit
ankommt – das ist Frau Nahles
völlig geläufig. Und das ist schon ein starkes Stück,
denn immerhin bekennt sich hier die Vertreterin des
staatlichen Gewaltmonopols zur Macht des
Unternehmerinteresses, dessen Gültigkeit sie
selbstverständlich anerkennt. Deshalb muss der
Mindestlohn zwar gegen die Unternehmer durchgesetzt und
seine praktische Einhaltung kontrolliert werden – dafür
klopft sich die Frau jetzt schon stolz auf die
Schulter –, aber allzu nahe treten will sie der
Unternehmerschaft damit keinesfalls: Natürlich nehmen
wir die Sorgen vieler Arbeitgeber ernst.
Es wäre ja
auch noch schöner, wenn die Mit-Inhaberin des politischen
Kommandos über den Standort den Inhabern des ökonomischen
Kommandos im Lande das Wasser abgraben wollte. Das
herrschende materielle Interesse wird nicht mit dem
Verweis auf das Gewaltmonopol niedergebügelt und die neue
Rechtslage durchgesetzt, vielmehr betont die zuständige
Ministerin, dass beim gesetzlichen Einspruch
gegen grenzenlose Lohndrückerei das
Einverständnis mit den Arbeitgebern gesucht
wird.
Durchzusetzen ist ein Mindestlohn vor allem aber nur – und das streicht Frau Nahles besonders gerne heraus – von der mitregierenden Sozialdemokratie gegen die Verfechter der Arbeitgeberinteressen in der Mehrheitsfraktion der großen Koalition. Woraus gleich dreierlei hervorgeht:
Erstens ist das materielle Interesse der Unternehmer hierzulande nicht bloß anonymer Sachzwang und Gegenstand von Lobby-Arbeit, sondern selbstverständlicher fester Bestandteil der politischen Verantwortung, die gewissenhafte Parlamentarier fürs Gemeinwohl tragen. Gerade deswegen braucht es gewissenhafte Sozialdemokraten, die sich als mitregierende Genossen für eine Korrektur am derart herrschenden Interesse verdient machen.
Zweitens gebietet das sozialdemokratische Gewissen, sich beim Einsatz für die sozial Schwachen auf keinen Fall an den Verhältnissen zu vergreifen, die dauernd „sozial Schwache“ produzieren, sondern auf deren Stabilität hinzuwirken:
„Das Gesetz, das uns heute vorliegt, ist gut geworden und ein notwendiger Schritt. Es schafft sozialen Frieden und mehr soziale Stabilität, es schafft ein Stück mehr soziale Gerechtigkeit in unserem Land. Es ist wichtig und richtig, (…) dass Millionen Menschen endlich ihren verdienten Lohn bekommen. Das ist moderne soziale Marktwirtschaft im 21. Jahrhundert.“
Für nicht weniger, aber auch für nicht mehr als eine Korrektur an den herrschenden Interessen treten tapfere Sozialdemokraten ein: für Korrekturen, die den herrschenden Verhältnissen und der fraglosen Macht der geltenden ökonomischen Interessen einen modernen Zuschnitt und Haltbarkeit fürs laufende Jahrhundert garantieren sollen. Dafür wird unablässig immer noch ein „Stück soziale Gerechtigkeit“ durchgesetzt – 8,50 Euro die Stunde ganz ohne Gang zum Sozialamt! – und die Sicherung des sozialen Friedens beschworen, von dem jeder weiß, dass ihn in Wahrheit niemand gefährdet. So geht gelebte Sozialdemokratie!
Drittens gilt der Stolz der Ministerin nicht zuletzt, sondern zuerst dem errungenen Triumph im permanenten koalitionsinternen Ringen um die demokratisch wirklich entscheidende Frage: wer sich im Biotop der Regierenden als gestaltende Macht durchsetzt. Dass sie das geschafft hat, kann sie gar nicht oft genug betonen:
„Wir haben in den Koalitionsverhandlungen darauf bestanden, dass, wer Vollzeit arbeitet, auch von dieser Arbeit leben können muss.“
Das hat sie jetzt geschafft – und damit die politische Sache, für die sie zuständig ist, erfolgreich funktionalisiert für die eigentliche Sachfrage, um die es in der Demokratie andauernd geht: die ad personam gestellte und zu beantwortende Machtfrage. Ein Land, das über eine solche Sozialministerin verfügt, muss sich um den sozialen Frieden jedenfalls keine Sorgen machen.
II. Griechenland, Euro, Europa – gerettet!
Gegen Jahresmitte hat die Regierung einen Europa- und Euro-politischen Triumph zu verkünden: Sie hat die Griechen kleingekriegt. Nein, natürlich nicht „die Griechen“ – deren europäische Zukunft haben Merkel und Schäuble vielmehr in gemeinsamer Anstrengung gerettet. Kleingekriegt haben sie die griechische Regierung, die das höchste Gut verspielt hat, das in Europa zu haben ist: das Vertrauen der Regierenden in Berlin. Geschafft haben das Tsipras und Co. mit „taktischen Spielchen“ – gemeint sind verzweifelte Versuche der zu Jahresbeginn ins Amt gewählten, nach deutschen Begriffen ganz, ganz linken Mannschaft in Athen, von ihren volksfreundlichen Wahlversprechen wenigstens ein bisschen was, wenigstens einen Schein von Erfolg vor dem aus Brüssel verordneten „Reformkurs“ zu retten. Politiker, die nach der Wahl ernst nehmen, was sie vorher als alternativlos beschworen haben, sind demokratisch unzurechnungsfähig und keine seriösen Verhandlungspartner für die in Deutschland regierenden Anwälte der reinen ökonomischen Vernunft und der „Schwarzen Null“ im Staatshaushalt. Schon gar nicht, wenn der griechische Populismus in Gestalt eines Finanzministers daherkommt, der seine Kollegen als Wissenschaftler mit Argumenten zu Währungsfragen zu überzeugen sucht, also mit einer Besserwisserei nervt, hinter der doch gar nichts anderes als die Ohnmacht eines Staatsbankrotts steht. Wohingegen die Macht des Gläubigers dem Standpunkt der Berliner Reformpolitiker Recht gibt, dass Griechenland seinen Verbleib in der Euro-Zone mit „Sparmaßnahmen“ zu bezahlen hat, die den Lebensunterhalt des Volkes auf das Maß der verlorengegangenen Konkurrenzfähigkeit des Landes und der akkumulierten Defizite seiner Banken und seiner Herrschaft reduzieren.
Letzteres hat Berlin also am Ende doch noch durchgesetzt gegen eine nach allen Regeln der agitatorischen Kunst geächtete Regierungsmannschaft, die ihrem Volk die segensreiche „Rosskur“ einer Rettung durch Verelendung vorenthalten wollte. Doch das will die deutsche Führungsmacht in aller Bescheidenheit gar nicht als ihre wahre Leistung gewürdigt wissen. Viel bedeutender ist die fundamentale Bewährungsprobe, die die Berliner Verantwortlichen zu meistern hatten und gemeistert haben: Berichtet wird von einem „Spagat“ zwischen der Rettung des Euro und der Rettung Europas inklusive Griechenland.
Auf der einen Seite steht, als großes Sorgeobjekt,
passenderweise anvertraut dem Hüter der „Schwarzen Null“,
Minister Schäuble, der Wert unseres Geldes
. Der
ist nämlich durch den Gebrauch staatlicher Schulden für
die schnöden Lebensbedürfnisse der „einfachen Leute“
gefährdet – grundsätzlich, nicht nur in Griechenland,
dort aber exemplarisch. Auf deren Kosten muss er also
bewahrt, im Ernstfall gerettet werden – grundsätzlich,
nicht nur in Griechenland, dort aber exemplarisch. Das
erklärt die Regierung ihrem Volk, setzt es also
nachdrücklich in Kenntnis über den grundsätzlichen
Gegensatz zwischen dem Geld, mit dem die Masse
der „kleinen Leute“ über die Runden kommen muss, und dem
Geldwert, dem die Regierung verpflichtet ist und um den
es an den Finanzmärkten irgendwie entscheidend geht:
Kriegt das Volk zu große Geldsummen in die Hand,
unter denen die „Wettbewerbsfähigkeit“ des nationalen
Kapitalstandorts leidet – und erst recht, wenn es die in
die Hand kriegt, obwohl das Kapital schon nicht mehr
konkurrenzfähig ist –, dann machen die Summen den
Geldwert kaputt. Dabei mag das griechische Volk
sich denken, was es will: Dem deutschen Volk wird diese
Aufklärung über den Gegensatz zwischen
„Wettbewerbsfähigkeit“ und Geldwert auf der einen Seite,
auskömmlichen Masseneinkommen auf der anderen Seite in
Form eines Kompliments verabreicht – eines Lobs
der Regierung für sich selbst: Bei ihren eigenen
Landeskindern hat sie rechtzeitig dafür gesorgt, dass die
von den Massen mit ihren Lohnstückkosten verdienten und
die vom Staat fürs Volk verwendeten Summen klein genug
ausfallen, sodass sie dem Erfolg des Kapitalstandorts und
dem Wert seines Geldes nicht in die Quere kommen. In der
Kindersprache, die sich die Regierung für ihre
Kommunikation mit dem Volk zugelegt hat: Sie hat
„ihre Hausaufgaben gemacht“, rechtzeitig und erfolgreich.
Deswegen traut sie sich auch, ihrem Volk gleich den
Widerspruch zuzumuten, dass besagte „Hausaufgaben“ das
Beste für „uns alle“ zum Inhalt haben: „Unser Geld“ hat
seinen Wert bewahrt. Was für ein schöner Erfolg: Summe
klein, aber dadurch Einheit stabil! So schafft das
Possessivpronomen mit seiner Doppeldeutigkeit Einheit
zwischen Führung und Volk – und klärt den Blick auf das
griechische Problem: Dort muss das Volk an Entbehrungen
nachholen, was eine falsche Politik ihm erspart hat,
damit der Euro, „unser aller“ Euro, seinen Nennwert
behält. Andernfalls muss man ihn dem Land dort wegnehmen,
damit die anderen Völker für ihre rechtzeitigen
Entbehrungen wenigstens von der Stabilität des Euro etwas
haben, wenn schon nicht von der Anzahl, die die Mehrheit
in die Finger kriegt. Und weil Griechenlands Regierung
sich auf den Standpunkt versteift, noch weniger Euro fürs
Überleben wären ihren Volksmassen nicht zuzumuten, bleibt
im Grunde nur eins: der „Grexit“. Dann ist es eben
vorbei.
So weit, so klar: die eine Seite des „Spagats“.
Auf der anderen Seite des breitbeinigen deutschen
Auftritts stehen, als Sorgeobjekt der Kanzlerin,
Europas Werte. Genauer: Europa als
Wert; insbesondere der Euro als stärkster Ausdruck
unseres Willens, die Völker Europas wirklich im Guten und
Friedlichen zu vereinen
. Was für ein schönes
Bekenntnis: Deutschlands Idealismus der freiwilligen
Einigung des Kontinents setzt auf die Notwendigkeit, ein
und dasselbe „gute Geld“ zu verdienen; friedliche
Subsumtion der Völker Europas unter ein einheitliches
Regime geht nicht mit Gewalt, das funktioniert nur mit
dem Sachzwang der Konkurrenz um ein und dieselbe Währung.
Darauf setzt die Kanzlerin in ihrem gar nicht
idealistischen Europa-Einigungs-Programm so fest, dass
sie dafür plädiert, mit dem Geld die
Einheit Europas zu retten. Dafür muss
dann auch schon mal eine Summe her: Wenn die Griechen
einsehen und akzeptieren und ihre Herrschaft beschließen
lassen, dass der Euro nicht für sie und ihr Überleben da
ist, dann kann er für die Einheit der Völker
Europas da sein und ausnahmsweise in größerer Menge
ausgeliehen werden. 86 Milliarden Kredit – an wen? Egal.
An „die Griechen“ jedenfalls nicht. Umgekehrt: Auf deren
nationales Schuldenkonto werden die 86 Milliarden
jedenfalls gebucht. Und diese großherzige Tat erklärt die
Berliner Regierung ihrem Volk als notwendiges
Opfer, das sie stellvertretend für ihr
gutgesinntes Volk bringen muss, um des Ideals einer
gesamteuropäischen Völkergemeinschaft willen.
Entscheidend daran: Deutschland lässt die ökonomischen
Muskeln spielen – das Volk, das sich mittels Erledigung
der anstehenden „Hausaufgaben“ für die nötige
Muskelbildung hat benutzen lassen und weiter benutzen
lässt, darf stolz darauf sein, dass „wir“ Europas
Führungsmacht sind.
Unter dem Strich lautet also die große Leistung, die die Kanzlerin ihrem Publikum vermeldet: Die griechische Schuldenkrise war eine ungemein schwierige Herausforderung an die deutsche Regierungskunst, von deren Bemeisterung Wohlstand und Werte des Euro- und Europa-Bürgers abhängen. Dementsprechend großartig ist also die Härte und Unerbittlichkeit zu verstehen, mit der die Berliner Regierung die Problemlage zu Lasten ihrer unwürdigen griechischen Kollegen bereinigt hat; womit sie nebenher auch alle kleingeistigen euro- und europakritischen Einwände ihrer hauseigenen Bedenkenträger gleich noch mit in die Schranken weist. Von der politischen Sache, die auf diese Weise zur ultimativen Bewährungsprobe deutscher Regierungskunst aufbereitet worden ist, braucht niemand etwas zu verstehen, um die Hauptsache zu bemerken: Diese Nation ist zu nichts Geringerem berufen als zur Führung des Kontinents. Dafür lohnen sich die Opfer, die das deutsche Volk im Interesse der Konkurrenzfähigkeit deutscher Unternehmer schon längst erbracht hat; und erst recht die Opfer, um die – nicht nur – Griechenland samt Volk wegen der Konkurrenzschwäche seiner Unternehmen sowieso nicht herumkommt.
III. Die Flüchtlingskrise – „Wir schaffen das!“
Im Spätsommer des Jahres läuft die Kanzlerin zur
Höchstform auf und verschafft sich mit einem kleinen Satz
ihren ganz großen Auftritt. Ihre Botschaft ist angesichts
der zunehmend eskalierenden Berichterstattung der
deutschen Öffentlichkeit, die die Flüchtlingstrecks auf
der Balkanroute begleitet, unmissverständlich: Lesbos,
Aylan, Stacheldraht, der Kühllaster, der Budapester
Hauptbahnhof ... eine gigantische humanitäre
Katastrophe bahnt sich an, und sie bewegt sich auf
Deutschland zu. So braucht die Kanzlerin nur drei Wörter,
um damit dem ganzen Land eine menschlich gebotene
Gemeinschaftsaufgabe anzusagen: Wir schaffen das!
Ein Riesenkompliment, das sie Deutschland damit
ausstellt; ein Kompliment an die ganze Nation – an das
potente Staatswesen wie alle seine mitfühlenden Insassen
gleichermaßen: Wer, wenn nicht wir ...
kann da
wirklich was bewegen und wird diese
Flüchtlingskatastrophe bewältigen?
Fragt sich nur: wer denn eigentlich, wenn „wir“?
Von ihrer Kanzlerin angesprochen werden die Deutschen auf
einer ganz privaten Ebene, quasi von Mensch zu Mensch:
Alle ihre Landeskinder, und sie als eine von ihnen, sind
ein wahrhaft humanitärer Samariterverein. Das sagt sie
sehr nachdrücklich und halb beleidigt der Nation an:
Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu
müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches
Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land.
Was der
Betroffenheit der Frau Merkel freilich überhaupt nur
Bedeutung gibt, was ihre Ansage von einer Sonntagspredigt
über die Nächstenliebe unterscheidet und zwar gewaltig,
ist die Tatsache, dass die Chefin des Landes zu ihrem
Fußvolk eben gar nicht einfach menschlich privat spricht.
Was ihren Worten das Gewicht verleiht, so dass sich kraft
ihrer Ansage in Sachen Katastrophenbewältigung wirklich
was bewegt, ist zum einen die Potenz der
deutschen Nation – und zum anderen, dass sie
dieser Nation vorsteht. Dass sie nicht via
Talk-Show und per Spendenaufruf, sondern per Anweisung an
ein großes Beamtenheer alle Hebel der Kommandogewalt in
der Hand hat, und dass die Potenzen, über die sie
kommandiert, eine ordentliche Größe haben – das
unterscheidet sie von allen anderen „Mitbürgern“,
die sie so vereinnahmend anredet.
Diejenigen, die sich von ihrer Ansage als moralische Individuen in ihrer menschlichen Betroffenheit angesichts des Flüchtlingselends angesprochen fühlen, haben von sich aus so gut wie nichts in der Hand, um an der von ihrer Landeschefin angesagten Gemeinschaftsaufgabe mitwirken zu können. Ob sie alleine zur Tat schreiten oder gemeinsam was Nettes organisieren – sie kommen schnell an die Grenzen ihrer privaten Fähigkeiten. Und über irgendwelche Befugnisse verfügen sie schon gleich nicht: Was aus den Flüchtlingen und der Gemeinschaftsaufgabe überhaupt wird, darüber entscheiden praktisch die zuständigen Instanzen, nicht sie.
Das private Engagement ihrer Landeskinder ist der
Kanzlerin jedoch sehr willkommen als Belegmaterial dafür,
dass sie mit ihrem Kommando dem anständigen
Deutschen aus dem Herzen spricht. Denn nur wegen
der Gleichsetzung ihrer hoheitlichen Entscheidung,
Flüchtlinge bis auf weiteres in irgendwelchen Lagern zu
verstauen, mit dem Aufruhr von Mitleid und
Hilfsbereitschaft, der sich im Lande rührt und den die
Öffentlichkeit gebührend herausstellt, fällt auf die
Nation das großartige Licht eines humanitären
Gesamtkunstwerks, das die Regierungschefin stolz und
dankbar
macht: Die Welt sieht Deutschland als ein
Land der Hoffnung und der Chancen
. Wenn sie dann noch
hinzufügt: Und das war wahrlich nicht immer so
und
damit implizit auf die Großtaten des Dritten Reichs
anspielt, dann stellt sie ihre politischen Entscheidungen
in einen historischen Zusammenhang, der von ihrer Größe
zeugt und ihr unbedingte Zustimmung sichern soll. Sie
wird schon wissen, warum sie dieses große Kaliber bemüht:
Es gehört schließlich zum Weltbild der Mehrheit in ihrer
eigenen Partei, alles, was einem an Deutschland
missfallen kann, der Überfremdung der Nation durch
illegale Ausländer und sonstige Migranten zur Last zu
legen. Mit ihrer Ansage: ... dann ist das nicht mein
Land!
will sie diesen Widerständen von vornherein den
Schneid abkaufen.
Das geht schief. Gegen ihr „freundliches Gesicht“ wird
aus Regierungskreisen entschiedener Einspruch
erhoben: Das ist nicht zu verkraften
, das war
ein Fehler!
tönt der Vorsitzende der kleinen
Schwesterpartei. Vor lauter Gastfreundschaft und
Humanismus, so sein Vorwurf, ignoriert und überschreitet
die Kanzlerin – pflichtwidrig und leichtfertig – die
Grenzen der Belastbarkeit
.
Welche Grenzen meint er eigentlich? Die Belastung der freiwilligen Helfer, die bis zur Erschöpfung Decken verteilen? Oder die seiner Polizisten, die haufenweise Überstunden schieben? Der Bürgermeister, der Landratsämter? Ja, einerseits schon irgendwie auch; aber wenn er nur das im Blick hätte, dann hätte er ja selbst die Mittel in der Hand, Entlastung zu organisieren. Als Vorwurf an die Flüchtlingspolitik der Chefin des Landes taugt das alles nur, insofern er mehr das Große Ganze, das deutsche Volk im Sinn hat. Angespielt wird schon eher auf Belastungen, die der Masse seiner Adressaten gleich vor Augen stehen, wenn die Grundeigentümer sich zu Wort melden und Subventionen für mehr Mietwohnungsbau fordern und wenn prompt auch die Unternehmer großzügig ihre Hilfe anbieten – „aber nur ohne Mindestlohn!“, versteht sich. Die vielen anderen Menschen im Land, die weder Baugrund noch eine Firma haben, hören gleich die Erinnerung an die Lasten ihres alltäglichen Kampfes um Wohnung, Lohn und Arbeitsplatz, also an ihren konkurrenzgeschädigten Materialismus heraus – und sollen das auch. Aber wenn es wirklich um den ginge, hätte Seehofer reichlich weit sachlichere Anlässe, „Grenzen der Belastbarkeit“ auszurufen, als ausgerechnet die zunehmende Zahl von Flüchtlingen, die ganz bestimmt weder Wohnungen noch Arbeitsplätze zu vergeben haben, geschweige denn für das Zahlen von Löhnen zuständig sind.
Worauf Seehofer abzielt, das ist derselbe gemeine
Fehlschluss, den die Kanzlerin kennt und mit ihren
Lobpreisungen für das großartige Deutschland für sich
vereinnahmen will: der Fehlschluss von den Nöten, die das
System der Konkurrenz um die elementaren
Lebensbedingungen Gelderwerb und Wohnraum erzeugt, auf
Fremde, denen auch nichts anderes bevorsteht, also auf
zusätzliche Konkurrenten von außen als die
Verursacher aller einschlägigen Drangsale. Die Grenzen
der Belastbarkeit sind demnach solche der Belastung des
patriotischen Gemüts, das „die Fremden“ für alle
Belastungen verantwortlich macht. Seehofers verlogener
Appell richtet sich an den Geist des Nationalismus, der
alle Härten der Konkurrenz im Dienst an der dafür
zuständigen Staatsgewalt im Namen der Heimat heiligt und
sich als Gemeinschaftsgefühl in der Ausgrenzung „Fremder“
am besten gefällt: Fremdenhass als das Remedium – das
nichts heilt, sondern nur auf lauter Enttäuschungen
schließen lässt, die zur deutschen Konkurrenzgesellschaft
für ihre Insassen offenbar zwangsläufig dazugehören. Wenn
Seehofer mit der größten Selbstverständlichkeit daran
„erinnert“, dass die Stimmung des Volkes zu kippen
droht
, als wenn das eine natürliche Regung wäre, dann
beruft er sich auf eben diesen Kollektivgeist
patriotischer Bürger und gibt zu erkennen, wie sehr sich
der Staat auf den verlässt.
Aber so leicht lässt die Kanzlerin sich nicht von ihrem Kurs abbringen. Der hat nämlich einen politischen Inhalt, und den verrät sie nebenher auch noch:
„Wir sprechen in einer Zeit, in der Europa wieder eine große Herausforderung zu bewältigen hat. Es ist eine Bewährungsprobe historischen Ausmaßes ... das zu schaffen, ist eine europäische und letztlich eine globale Aufgabe.“
Was im Klartext heißt, dass „wir es“ schaffen, wenn Deutschland in Europa die Maßstäbe setzt, wie mit dieser Fluchtbewegung umgegangen werden muss. Dafür steht der hohe Wert des Humanismus der deutschen Nation: für ein Stück Europa- und Weltpolitik. Wenn es hierzulande schon keiner kapiert, Frau Merkels Amtskollegen aus den Nachbarstaaten merken es sofort.
Das Ganze mündet in die Sache, um die es in der
Demokratie immerzu geht: die Konkurrenz der
Führungsfiguren um die Macht. Highlight in diesem Gezerre
ist die Konfrontation zwischen Seehofer und Merkel auf
dem CSU-Parteitag. Viel wichtiger als das vielbeweinte
Schicksal von Millionen Flüchtlingen ist da auf einmal
die Viertelstunde, in der Seehofer Merkel „auf offener
Bühne abkanzelt“. Zu der Schäbigkeit dieses permanenten
demokratischen Machtkampfs gehört zugleich dessen
Veredelung zum Kampf um Werte. Merkel steht für
die Idealisierung ihrer Politik zur praktizierten Moral
der „Hilfe für die Schwachen“, die wir uns
schuldig
sind; weltweite Nächstenliebe als
letztlicher Grund für die Politik, die sie macht – woran
bei aller Verlogenheit der Standpunkt der nationalen
Stärke und Größe noch deutlich genug hervortritt.
Seehofer repräsentiert dagegen den Standpunkt, dass an
„den Werten“, worin auch immer sie bestehen mögen, allein
entscheidend ist: es sind unsere
, nicht die der
Migranten, die daran erst angepasst – nämlich
„integriert“ – werden müssen. Ein kleines
Possessivpronomen – und schon ist klargestellt, wer
hierzulande erstens das Sagen und zweitens ein
allerhöchstes Recht darauf hat und wer drittens zu
parieren hat. So erteilen die Kanzlerin und ihr
bayerischer Ministerpräsident in ihrem Streit auch noch
eine aufschlussreiche Lektion über die Werte Europas.
Ist dieser Werte-Diskurs noch zu toppen? Aus dem richtigen Anlass: ja.
IV. Europas Kampf um die Werte – „nous sommes unis“
Das Jahr neigt sich seinem Ende zu – und beschert Deutschlands Herrschaften noch einen ganz besonderen Auftritt. Zwar nur einen in der zweiten Reihe, dafür in der denkbar größten Angelegenheit.
Da gibt es nämlich an einem Freitagabend einen
Terroranschlag in Paris: Bombenanschläge neben dem
Stadion, in dem gerade ein deutsch-französisches
Fußballfreundschaftsspiel läuft, Schießereien in Bars und
Cafés, eine stundenlange Exekution bei einem
Rock-Konzert; in der Summe 130 Tote. Und sofort ist klar:
nichts ist mehr wie vorher
. Mit Paris ändert
sich alles
.
Wieso eigentlich?
Rein sachlich genommen reiht der Anschlag sich ein in eine ganze Kette terroristischer Großaktionen: gegen ein Schiitenviertel in Beirut, gegen russische Touristen im Sinai-Flieger, gegen oppositionelle Kurden und deren Sympathisanten in der Türkei, gegen Christen in Nigeria; und die Terroropfer im Irak zählt schon längst niemand mehr... Mit Paris kann man die aber gar nicht vergleichen. Pariser Opfer stehen mit ihnen völlig selbstverständlich nicht auf einer Stufe.
Was macht den Unterschied?
Auf den ersten Blick ist klar: Paris ist einem Deutschen, einem zivilisierten Mitteleuropäer unmittelbar nah; dort ist es im Prinzip wie hier. Und jedenfalls ganz anders als da, wo die Leute sowieso ganz anders leben. Wo in ihrem Alltag so viel Elend und Gewalt herrscht, dass sie daran irgendwie gewöhnt sind. Für solche Leute spendet man – vielleicht; aber auch das bestätigt nur: So richtig vom eigenen Schlag sind die nicht. Für die ändert sich mit einem Massenmord mehr nicht so viel – und für den Gang der Weltgeschichte schon gar nicht.
Das ist anders, wenn es gesittete Europäer trifft; noch dazu, wenn die sich gerade einem gesitteten Feierabend hingeben. Da ist nämlich nicht bloß der abendländische Bürger, der sich ganz gut selbst als Kunde in einem Pariser Bistro vorstellen kann, gefühlsmäßig betroffen. Da sind sofort die Figuren, die den Gang der Weltgeschichte professionell managen, mit einer Diagnose geistig vor Ort. Die Repräsentanten europäischer Staatsgewalt identifizieren mit der Autorität ihres Amtes das eigentliche Anschlagsopfer, und zwar links wie rechts des Rheins dasselbe: unsere Werte.
Welche?
Das erklären die dafür Zuständigen ganz locker mit einem
Blick auf die heile Welt aus Fußball und Konzerten, Bars
und Flaniermeilen, über die der Terror „hereingebrochen“
ist: Ziel der Anschläge ist unsere Lebensart
. Die
ist, so – nämlich von den kommandierenden Herren dieser
Lebensweise durch die Brille ihrer terroristischen Feinde
– betrachtet, nicht mehr das, was sie ist: das Absacken
nach einem Alltag des Gelderwerbs, die bemühte
Kompensation der gewohnten Drangsale der Konkurrenz, der
kleine Luxus, den man sich gönnt, wenn schon sonst nicht
allzu viel läuft... Aus höherer Warte besichtigt sind die
Vergnügungen des Alltags erstens der wahre und
eigentliche Inhalt abendländischer Lebensart – also nicht
die Hetze des Berufslebens, nicht die Armut derer, die
noch nicht einmal ein Berufsleben haben, sondern die
Freizeit, die dann noch übrig bleibt, und der Spaß, den
man sich dann noch leisten kann. Zweitens steht dieser
banale Inhalt nicht für sich selbst, sondern dafür, dass
der Mensch im Abendland das alles darf: für die
Freiheit, die er dort genießt, wo sein Staat sie
ihm lässt. Und weil Freiheit und Vergnügen in Paris in so
idealer Weise zusammenfallen, ist drittens klar, dass
sich dort Bahn bricht, was im Grunde jeder Mensch sich
von tiefstem Herzen wünscht, also die unverfälschte
Menschennatur freigesetzt und verwirklicht ist. Womit das
Wichtigste an „unseren Werten“ klargestellt wäre: das
Feindbild vom bösen Fanatiker, der sich am Wesen
des Menschen schlechthin vergeht. Und noch wichtiger: das
Bild von der Staatsgewalt als Hüter der
menschennatürlichen Freiheit, mit dem die Vertreter
dieser Gewalt sich ins Spiel bringen.
Denn denen kommt es ja auch dann, wenn sie vor einer trauernden Gemeinde ihre Reden halten, weder auf die Freizeitsitten ihrer angepassten Jugend noch auf die conditio humana als solche an, sondern auf die Schlussfolgerung, die sich ihnen aufdrängt, die aber auch nur Machthaber von ihrem Kaliber ziehen können: Sie sorgen dafür, dass „nach Paris alles anders“ wird. Das ist für sie das Entscheidende: Sie beziehen die Gewalttaten der Terroristen auf sich, auf ihr Gewaltmonopol. Sie erklären sich, nämlich ihre durchgreifende Hoheit über die „Lebensart“ ihrer Bürger für angegriffen. Und sie machen nicht einfach weiter wie bisher, sondern machen mobil. Der französische Präsident ergreift die Gelegenheit und tut, was nur wenige seiner Kollegen tun könnten, ohne sich zu blamieren: Er erklärt „dem Terrorismus“ den Krieg, mit einem Bombenflugzeug pro Terroropfer, und weiß auch schon, wo er den führen will, gegen wen – und vor allem: mit wem. Die ganze Welt, vor allem aber Europa und hier insbesondere der deutsche Nachbar sind herzlich eingeladen, mit einem umfänglich und längerfristig angelegten nahöstlichen Feldzug dafür zu sorgen, dass die Weltgeschichte wirklich nicht mehr weiterläuft wie zuvor.
An der Stelle hat die Staatsmacht in Berlin ihren Auftritt. Man trauert öffentlich, erklärt sich für mit-terrorisiert und macht für sich aus Frankreichs Kriegserklärung, was man für passend, nämlich für notwendig und hinreichend hält, um für das weitere Weltgeschehen „Verantwortung zu übernehmen“: Berlin gewährt dem Partner Militärhilfe. Dem Volk buchstabiert man den gerechten Kurzschluss vom Verbrechen auf Rache vor, den sowieso jeder Bürger gut versteht. So moralisch angespornt, macht die Herrschaft den Übergang von der Ordnungsmacht, die sie sowieso immer und überall sein und respektiert sehen will, zur Militanz.
Was für ein schöner Jahresabschluss.