Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Labour-Parteitag in Brighton
Blair lässt einen Ruck durchs Land gehen

Die Begeisterung der Untertanen, die eine politische Führerfigur auf sich zieht, würdigt die demokratische Öffentlichkeit interessiert als Leistung der besonderen Politikerpersönlichkeit. Dabei kann diese nur abrufen, was das Wahlvolk ihr entgegenbringt: staatstreuen Nationalismus und den Glauben daran, dass bei dieser Figur die Macht in den besten Händen ist.

Aus der Zeitschrift

Der Labour-Parteitag in Brighton
Blair läßt einen Ruck durchs Land gehen

Seit Clement Attlee, dem ersten Nachkriegs-Premier, hat kein Labour-Chef die Regierungspartei so dominiert wie Tony Blair diese Woche im Seebad Brighton (FR). Er ist heute so unangefochten wie Margaret Thatcher nach ihrem Falklandkrieg (SZ). Er verfügt über eine beispiellose Popularitätsrate im Lande von 93 Prozent (FR). Als würden Jugendliche einem Rockstar huldigen (SZ), rastet ein Volk in Begeisterung über seinen neuen Führer aus.

Hierzulande, wo Demokraten der schreibenden Zunft die Dinge mit deutscher Nüchternheit zu analysieren pflegen, nimmt man den Jubel der Briten über ihren Superman (Der Spiegel) mit einigen Zweifeln an der Glaubwürdigkeit der Verheißungen zur Kenntnis, die Blair seiner Nation im Stile eines evangelistischen Heilsbringers (SZ) macht; mit Verwunderung über den massenhaften Zuspruch, den ein Polit-Manager erfährt, der seinen Landsleuten bei Licht besehen nichts als harte Entscheidungen ankündigt; aber auch mit schlichter Bewunderung für den Mann, der es geschafft hat, seine Partei und seine Volksmassen beachtlich geschlossen hinter sich zu bringen: Man weiß zu berichten, daß er über besondere Fähigkeiten verfügt, ein politisches Talent ist, attestiert ihm eine unwiderstehliche Überzeugungskraft (FR) und untersucht seine Reden auf die rhetorischen Kunstgriffe hin, die er als packender Redner (SZ) auf Lager haben muß. Würde er sonst so ankommen? Daß das irgendwie an seiner Person liegen muß, ihrem Geschick, sich darzustellen und anderen Leuten etwas vorzumachen, darüber sind sich die Kommentatoren weitgehend einig. Am Gelingen des Kults, den demokratische Führer um sich veranstalten, liegt ihnen nämlich so viel, daß sie den Hut vor deren Person ziehen, wenn die widerwärtige Veranstaltung gelingt. Und indem sie das tun, tragen sie das Ihre zu dieser Veranstaltung bei.

Dabei zeigt sich gerade am Fall des um Blair veranstalteten Spektakels der Superlative, daß die Person zuallerletzt der Grund dafür ist, wenn es einer politischen Führungsfigur gelingt, die Begeisterung ihrer Untertanen auf sich zu ziehen. Deutlich wird an diesem Fall, daß es wirklich keine Kunst ist, diese Begeisterung abzurufen, wenn einer – erstens – erst einmal unangefochten die Macht innehat und sich mit der seinem staatstreuen Volk präsentiert. Jeder andere würde als hemmungsloser Wichtigtuer dastehen oder sich zur Einweisung in eine Anstalt empfehlen, wenn er in salbungsvollem Tonfall die Worte Ich habe eine Vision von Britannien in die Runde wirft. Ein Machthaber, der so seine Absicht bekundet, die Geschicke seiner Nation zum Besseren zu wenden, trifft hingegen auf eine Zuhörerschaft, die gespannt ist, was nun kommt: Wir können niemals die Größten sein, vielleicht nie wieder die Mächtigsten, aber wir können die Besten sein. Die Ansprache – wir – ist schon die ganze Mitteilung. Mit ihr erfahren seine Untertanen, daß sie einen Führer vor sich haben, dem es um dieselbe, gemeinsame Sache wie ihnen geht und der sich für diese Sache auf seinem Posten ebenso einzusetzen verspricht, wie er von ihnen verlangt, daß sie auf ihrem Posten ihre Pflicht tun. Offenbar rechnet auch ein britischer Regierungschef nicht damit, daß die Angesprochenen Zweifel an der gemeinsamen Sache bekommen, wenn er ihnen klarmacht, daß mit der Postenverteilung eine Arbeitsteilung gemeint ist, in der er die einschneidenden Entscheidungen trifft, die sie auszuhalten haben. Im Gegenteil: Er geht davon aus, daß seine Ankündigung, den Wohlfahrtsstaat gründlich auszumisten – die Familie stärker für den Unterhalt ihrer Angehörigen einzuspannen, Studenten für ihr Studium bezahlen zu lassen, alleinstehenden Müttern die staatliche Unterstützung zu streichen, Rentner im Regen stehen zu lassen usw. –, als Beweis genommen wird, wie ernst er es meint mit seinem Einsatz für die gemeinsame Sache. Er teilt seinen Untertanen mit, daß diese Sache ihren Preis hat, und verläßt sich dabei darauf, daß sein Publikum von einer Prüfung des Preis-Leistungs-Verhältnisses absieht. Ansprüche, die das materielle Wohl seiner Bürger betreffen, bedient er einfach nicht. Seine Vision stellt er ihnen in ihrer ganzen Schäbigkeit vor Augen: ein Britannien, in dem kein Kind hungert, in dem die Jungen Arbeit haben und die Alten geliebt und geehrt werden bis ans Ende ihrer Tage; eine Nation, deren Insassen in der Kindheit gerade mal was zum Futtern haben, um dann ein Leben lang für andere arbeiten zu müssen, damit sie als Lohn im Alter dann – wenn schon keine Rente – so doch wenigstens Anerkennung genießen, ist alles, was seine visionäre Kraft hergibt. Und mehr muß sie auch nicht hergeben. Er will nämlich überhaupt nur Leute ansprechen, die ihren Stolz daraus beziehen, arm, aber ehrlich ihrer Nation zu dienen, und denen nichts wichtiger ist, als einer großen Nation anzugehören. Mit dem Versprechen, ein Land zu formen, das mit erhobenem Haupt als Vorbild für einen entwickelten Staat im 21. Jahrhundert dienen kann, bringt er auf den Punkt, wessen es zur Ansprache ans Volk – zweitens – bedarf: Einer Deutung der Macht als die gemeinsame Sache, um deren Erfolg es dem Ober- und den Unterbriten gleichermaßen geht. Der ganze Witz dieser Deutung liegt darin, daß der Regierungschef die Macht, die er ausübt, als Herzensanliegen und einziges Bedürfnis seines Volks ausdrückt und demonstriert, wie einig er sich mit seinem Volk darin ist: Ihr habt den Glauben an uns bewahrt, und wir den Glauben an euch. Dabei macht es gar nichts, daß die Affigkeit der Veranstaltung bemerkt wird. Wenn sich der neue Premier an sein Volk mit den Worten wendet: Macht, daß das Gute in unser aller Herzen zu unser aller Besten dient, dann macht er sich mit solchen Sprüchen nicht unmöglich: Im Unterschied zu den gelegentlichen Versuchen seines glücklosen Vorgängers John Major aber, Familienmoral und Nationalgefühl zu beschwören, klang Blairs Aufruf zu bürgerlichen Werten keineswegs lächerlich. (FR) Immerhin geht aus so einem Kommentar hervor, daß man in der Demokratie mit solchen Sprüchen erst einmal ankommen muß und auch als Machtinhaber nicht davor gefeit ist, mit ihnen den Spott der Öffentlichkeit auf sich zu ziehen. Dies entscheidet sich tatsächlich – drittens – an der Glaubwürdigkeit der Person, an der Frage nämlich, ob das Wahlvolk ihr abnimmt, was sie verspricht: daß bei ihr die Macht in den besten Händen ist. Daß ihr das abgenommen wird, liegt wirklich nicht an ihr. Schöner als ein Kommentator von der Süddeutschen Zeitung kann man das gar nicht ausdrücken: Blair bekommt seine standing ovation. Da ist soviel Überzeugungskraft, und es braucht schon einen klaren Kopf, sich nicht mitreißen zu lassen. In der Demokratie ist Überzeugungskraft offenbar nicht auf einen klaren Kopf berechnet, der sich prüfend zu den ihm dargebotenen Argumenten stellt. Wenn da die auf einem Parteitag anwesenden Massen im Jubel über ihren Führer ziemlich durchdrehen, dann will auch der Schreiber der seriösen Zeitung nicht länger elitär auf seinem klaren Kopf bestehen. Dann drängt sich auch ihm die Annahme auf, daß ein Politiker, der soviel Beifall erhält, für überzeugend gehalten werden darf. Deswegen geht es auch ganz in Ordnung, daß sich – ebenfalls laut Mitteilung der SZ – einer Umfrage zufolge inzwischen zwei Millionen Wähler mehr erinnern, für ihn gestimmt zu haben, als die Statistik ausweist. Das sind doch mal grundsolide Auskünfte darüber, was an einer Politikerpersönlichkeit dran ist, die das Volk mitreißt, weil sie glaubwürdig ist.