Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Castor-Skandal
Atomwirtschaft verspielt öffentliches Vertrauen – die Politik stellt es wieder her
Ein „Skandal“ wird ausgerufen wenn bekannt wird, dass die Strahlenbelastung an den Castor-Transportern regelmäßig die von der Politik erlassenen Grenzwerte überschreiten. Die politisch Verantwortlichen inszenieren eine „schonungslose Aufklärung“, die das Volk gezielt mit einem Versprechen, die „Gefahren“ aus der Welt zu schaffen, verwechseln soll. Raus kommt die Bekräftigung der Lüge, dass es eigentlich keinen Interessengegensatz zwischen bestrahlter Bevölkerung und Atomgeschäft gibt, und die Castoren dürfen mit der erlaubten Verstrahlungsintensität weiter fahren.
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Systematischer Katalog
Der Castor-Skandal
Atomwirtschaft verspielt öffentliches Vertrauen – die Politik stellt es wieder her
Ende April lüftet die französische Nuklear-Genehmigungsbehörde das „offene Geheimnis“: Seit den 80er Jahren werden an den Castor-Behältern, in denen ausgebrannte Brennstäbe und atomarer Müll aus deutschen Kernkraftwerken in die Wiederaufbereitungsanlagen La Hague und Sellafield und von dort zurück in die Zwischenlager Gorleben oder Ahaus transportiert werden, Strahlendosen weit über den gesetzlich zulässigen Grenzwerten gemessen. „Skandal, Skandal“, tönt es durch die Republik.
Noch vor den notorischen Kernkraftgegnern melden jetzt die denkbar ehrenwertesten und unverdächtigsten „Betroffenen“ ihren Protest an: deutsche Polizisten, die im Vertrauen auf die Unbedenklichkeits-Bescheinigungen von Industrie und Politik immer wieder auftragsgemäß Demonstranten wegen ihres „unsinnigen“ Protestes tüchtig vermöbelt haben, anstatt ihnen auch mal was zu glauben, sehen sich nun unfreiwillig zu den Strahlemännern der Nation gemacht. „Unglaublich“, entrüstet sich Hermann Lutz, der Chef der deutschen Polizeigewerkschaft, „wie leichtfertig die Atomlobby mit Gesundheit und Leben von Menschen umgeht“. Immer wieder habe die Industrie versichert, es bestehe überhaupt keine Gefahr für die Polizisten, die unmittelbar neben den Castoren herlaufen; jetzt „ist das Vertrauen absolut im Keller.“
Vor allem Umweltministerin Merkel, die die politische Oberaufsicht über die deutsche Nuklearindustrie innehat, fühlt sich „getäuscht und hintergangen“ von den Energieversorgern und der deutschen Bundesbahn, dem Transporteur der Castoren, die „jahrelang von den Problemen gewußt und uns nichts davon gesagt haben“. So etwas wie ein „zweites Tschernobyl für die deutsche Atompolitik“ hätten sie angerichtet, die deutschen Stromkonzerne, mit ihrer „jahrelangen systematischen Geheimniskrämerei“. Die Polizei befürchtet gar, bei zukünftigen Transporten, „in einen Bürgerkrieg“ geschickt zu werden. Die verantwortliche Ministerin verlangt eine „vollständige und schonungslose Aufklärung der Vorgänge“ und zur Demonstration ihrer diesbezüglichen Entschlossenheit verhängt sie einen vorläufigen Transportstop für Castor-Behälter.
1. Die Ministerin Merkel ist also angesichts der „Enthüllungen“ demonstrativ „maßlos enttäuscht“ über die „verantwortungslose Verfahrensweise“ der Industrie.
Die vorgeführte „Enttäuschung“ der guten Frau wirkt allerdings angesichts der Verhältnisse reichlich lächerlich: Ihr ganzer Beruf als Umweltministerin beruht gerade auf der Kenntnis der Politik von der „Unzuverlässigkeit“ des kapitalistischen Betriebs in Sachen „Umweltschutz“. Genau davon, daß das Geschäftsinteresse von u.a. auch Atomkonzernen und die „Gesundheit und das Leben von Menschen“ nicht zusammengehen, legen Leute wie Merkel mit ihrer ganzen Tätigkeit Zeugnis ab: Sie halten sich als politische Aufsicht über den Gang des kapitalistischen Erwerbslebens für unverzichtbar und passen mit Grenzwerten, Schutzvorschriften und einem gewaltigen Verwaltungsapparat darauf auf, daß die unternehmerischen Sachwalter des nationalen Wachstums nicht im Eifer des Gefechts den Standort gleich so vergiften, daß er geschäftsuntauglich wird.
Die demonstrierte Empörung über soviel enttäuschtes Vertrauen soll die kindgemäße Unterstellung bekräftigen, kapitalistische Betriebe besäßen „eigentlich“ eine „Verantwortung“ für Leib und Leben der Bevölkerung, so daß in den vorliegenden „Enthüllungen“ mal wieder ein eklatanter Fall von betrieblicher „Verantwortungslosigkeit“ ausgemacht wird, gegen den die „politisch Verantwortlichen“ – wie immer – energisch einschreiten. Leute wie die „maßlos enttäuschte“ Ministerin wissen natürlich, daß die von ihnen erlassenen Vorschriften über Art und Umfang der erlaubten Verseuchung von Erde, Luft und Wasser vom Standpunkt der betrieblichen Kalkulation Belastungen darstellen. Diese erhöhen im Fall der AKW-Betreiber die Kosten der Stromproduktion, die es aber im Namen des zu erwirtschaftenden Gewinns auf das unbedingt Notwendige zu beschränken gilt.
„Entsorgen so billig wie irgend möglich“, lautet daher das betriebswirtschaftliche Gebot für die Beseitigung des atomaren Mülls. Also unterbleiben ausreichende Kontaminationsschutzmaßnahmen an den Castoren und das „Verheizen von Leuten“ macht da selbst vor der Polizei, die zum Schutz der Castoren unterwegs ist, nicht halt.
2. Erst recht zum schlechten Witz wird die „menschliche Betroffenheit“ der zuständigen Fachministerin, wenn man sich daran erinnert, daß es zu den Dogmen der politischen Verwaltung einer dynamischen Privateigentumsordnung gehört, daß sich das staatliche Interesse am Erhalt der natürlichen Ausbeutungsbedingungen keinesfalls an ökonomischen Notwendigkeiten versündigen darf. Was soll man auch mit der schönsten Natur, wenn kein Geschäft mit ihr zu machen ist!
Gerade die „Atomwirtschaft“, die nationale Risiko-Industrie schlechthin, verdankt ihre ganze Existenz staatlichem Beschluß und Kredit. Eine nationale Verfügung über sämtliche Elemente der atomaren Technologie sowie deren Verwertung als weltmarktfähiger Geschäftsschlager war so sehr der unbedingte Wille der deutschen Politik, daß die bekannten Gefahren der atomaren Strahlung von Anbeginn an als „beherrschbar“ verharmlost und Protest gegen die Atompolitik gewaltsam beendet wurde.
Die Relativierung der Aufsicht an den Geschäftserfordernissen schlägt sich konsequent und in allen infragekommenden Industriezweigen in „Grenzwerten“ und „gesetzlich zulässigen Schadstoffhöchstmengen“ nieder, die nicht die Grenze der Schädlichkeit für die menschliche Natur markieren, sondern definieren, wieviel ihr die staatliche Gesundheits- und Umweltpolitik mit ihrer Erlaubnis zumuten will.
Erkenntnisse darüber, ab welcher Dosis und wie die vom Kapital in die Welt gesetzten toxischen Substanzen wirken, helfen dabei, einen „Kompromiß“ zu finden zwischen dem Gesundheitsschutz und dem Schutz der Freiheit des Geschäftslebens, insofern sie Auskunft geben über Anzahl und Schwere der Krankheitsfälle, mit denen bei anhaltender Schadstoffexposition durchschnittlich zu rechnen ist. So sieht der Staat sich in der Lage, eine „ökonomisch verantwortbare“ Entscheidung zu treffen, ab welchem Punkt die Gifte und Strahlen volkswirtschaftlich gesehen mehr Schaden als Nutzen anrichten.
3. Bei aller grundsätzlichen Einsicht in die Erfordernisse des erfolgreichen Wirtschaftslebens, die der Umweltministerin so geläufig sind wie jedem ihrer Kollegen, steht das staatliche Gesamtinteresse am Erhalt der natürlichen nationalen Geschäftsbedingungen in bleibendem Widerspruch zum einzelnen Unternehmerinteresse an uneingeschränkter Vernutzung von Land und Leuten. Dies provoziert, aller staatlichen Großzügigkeit zum Trotz, beständig einen berechnenden Umgang mit den staatlich verfügten Grenzwerten. Fortwährendes Umgehen von Vorschriften, Vertuschen und Verschweigen von Verstößen und die Veranstaltung von kleineren und mittleren „Unfällen“ wird darüber zum Bestandteil des laufenden Geschäfts.
Aber auch die staatliche Seite ist mit ihrem verbliebenen, immer noch umfänglichen Vorschriften- und Aufsichtswesen nicht glücklich.
Für die „globalisierte“ Konkurrenz glaubt sie sich besser gerüstet, würde die Politik nur die nationalen „Wachstumskräfte“ endlich von den Fesseln einer angeblich in Deutschland besonders weit fortgeschrittenen „Überregulierung“ auch und gerade im Bereich des Umweltschutzes befreien.
Unter dem Titel „Deregulierung“ ruft die Politik deshalb sich selbst als Kontrollinstanz zur Mäßigung auf, mit der Folge, daß etwa im fraglichen Atomtransportwesen die „Verantwortung“ für einen gewissenhaften Umgang mit ihren strahlenden Ladungen weitgehend an die Stromkonzerne (rück)übertragen wurde. Herausgekommen sind so unbürokratische Regelungen wie die, daß es die Becquerel-Grenzwerte zwar gibt und ihre Einhaltung den Konzernen ans Herz gelegt wird, diesen jedoch selbst die Meldung grenzwertüberschreitender Kontaminationen überlassen bleibt (vgl. Spiegel 22/98). Deshalb haben die „Techniker und AKW-Leiter“, denen seit Jahren die gemessene Radioaktivität von der französischen Aufarbeitungsfirma Cogema regelmäßig mitgeteilt wurde, ihr Wissen einfach für sich behalten (ebd.). Aus der Einräumung dieses schönen Stücks Deregulierung in Form einer freiwilligen Selbstkontrolle haben die Manager der deutschen Atomindustrie den naheliegenden Schluß gezogen, daß ihre politischen Paten in den Umweltministerien mancher Kleinkram ohnehin nicht so übermäßig interessiert. Das bestätigt sich nun ausdrücklich durch die Verfahrensweise z.B. der bayrischen Ministerialbürokratie, der, wie sie jetzt einräumt, schon „seit elf Jahren“ eigentlich vorschriftswidrige Kontaminationen „bekannt“ sind. Die Sache wurde „zu den Akten genommen“, nachdem der „Kraftwerksbetreiber RWE zugesichert habe, die Verschmutzungen zu beseitigen.“ (Süddeutsche Zeitung 25.06.98)
4. Diese geschäftlich wie politisch höchst sinnreiche Symbiose zwischen Atomindustrie und Ministerialbürokratien hätte einfach so weiter gehen können, wenn eben nicht die übereifrige französische Nuklear-Genehmigungsbehörde DSIN das Merkel-Ministerium ganz offiziell über die gesetzwidrige Strahlung von Brennelement-Behältern aus deutschen Reaktoren informiert hätte und dies zum Gegenstand öffentlicher Debatten geworden wäre. Das hat es nach Auffassung der politisch Zuständigen offenbar notwendig gemacht, das öffentliche Skandalgeschrei über einen eher alltäglichen Fall von Strahlenverseuchung konsequent in eine Offensive zur Stiftung und Wiederherstellung des Vertrauens in die geltende Atompolitik zu überführen. Immerhin hatte die erst neulich mit viel Propaganda und Polizei diese „Lösung“ des nach wie vor offenen „Entsorgungsproblems“ der deutschen Atomindustrie durchgesetzt. Deswegen erscheint es der Regierung nun ausgesprochen ungeschickt, sich anschließend rückhaltlos vor die Transporteure zu stellen. Sie kritisiert sie, und zwar im Namen der guten Sache, der sie geschadet haben. Der Anti-Atom-Opposition im Lande will sie damit, das wird ausdrücklich klargestellt, in keinem Punkt recht geben.
Skandalös an der ganzen Sache ist denn auch weniger „das Ausmaß der Strahlung“ oder die „Gefahr für die Bevölkerung“. Viel schlimmer ist, daß dadurch die Atomenergie mit ihrer „ohnehin schwachen Reputation“ erneut in die Schlagzeilen gerät, was zu der Befürchtung Anlaß gibt, daß rufschädigende Zweifel an der nationalen Ideologie von Sicherheit und Zuverlässigkeit der deutschen Atomindustrie sowie Zweifel daran, daß die Politik die „Atomlobby“ im Griff habe, „neue Argumente geliefert“ bekämen. Den AKW-Betriebsleitern wird deshalb „mangelnde politische Sensibilität“ zur Last gelegt – „Fehler in der Sache“ lassen sich keine nachweisen.
Und wie man aus etlichen gleichgelagerten Fällen weiß, besteht das politische Heilmittel dort, wo es gilt, „kaputtgegangenes Vertrauen der Öffentlichkeit“ wiederzugewinnen, bekanntlich in „schonungsloser Offenheit“ und „lückenloser Aufklärung“. Also werden die Länderumweltminister zur Konferenz „einbestellt“, um zu „erklären“, ob, wieviel und zu welchem Zeitpunkt sie von den strahlenden Transporten gewußt hätten, AKW-Leiter müssen darlegen, wie sie zukünftig für mehr „Transparenz“ sorgen wollen. Die reagieren in angemessener Weise, räumen ein, „die politische Dimension“ der Sache vernachlässigt zu haben, versprechen, „den Informationsfluß zu verbessern“ und die „bisher komplexen Zuständigkeiten zu vereinfachen“, als sei eine vorübergehende Verwirrung der Kompetenzen der Grund dafür gewesen, daß die bewußten „rein technischen Daten“ in die Betriebsschubladen gewandert sind. Die Opposition sieht den entscheidenden Aufklärungsbedarf in der Frage, ob die Umweltministerin selbst über die Messungen Bescheid wußte; dann hätte sie sich nämlich unglaubwürdig gemacht und müßte ausgewechselt werden. Das ganze politische Theater lebt davon und ist darauf berechnet, daß das Publikum vertrauensvoll die Demonstration staatlicher Tatkraft, die Versicherung, alles ganz umfassend und offen zu prüfen, für das gleiche nimmt wie das Versprechen, die publik gewordenen „Gefahren“ aus der Welt zu schaffen.
So soll die Lüge bekräftigt werden, daß es eigentlich keinen Interessengegensatz zwischen der bestrahlten Bevölkerung und dem staatlich betreuten Atomgeschäft gebe, sondern allenfalls Ungeschicklichkeiten, französische Schlamperei und persönliches Fehlverhalten bei der Verfolgung eines konkurrenzlos guten Zwecks:
- Eine Schwachstelle seien die französischen Behälter…
- wenn die „Mitarbeiter der Kraftwerksbetreiber, die die Verstrahlung nicht gemeldet haben, auch heute noch da sitzen, dann müssen die weg, die alten Hengste!“
- ein genereller Ausstieg aus der „kostengünstigen und emissionsarmen Kernenergiegewinnung“ kommt zum derzeitigen Augenblick nicht in Frage. (Bayerns Umweltminister Goppel, Süddeutsche Zeitung 25.06.98)
Wenn also das Verschulden lokalisiert ist, die alten gegen neue Hengste ausgewechselt sind und die Politik ihre Verantwortung wahrgenommen hat, soll und kann alles ungefähr so weitergehen wie bisher: Die Kraftwerksbetreiber dürfen weiter in eigener Verantwortung die Störfälle melden, die sie nicht vertuschen können, der Staat paßt als „neutrale“ Aufsichtsbehörde auf das auf, was ihm gemeldet wird und das „deregulierte“ Energiegeschäft darf weiterhin beweisen, daß es das marktkonforme Gewinnstreben ist, das am besten für „Regulierung“ sorgt, einschließlich der der Volksgesundheit. Wenn das hinreichend klargestellt ist, dann dürfen auch die Castoren wieder fahren.