Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Mit Köhler aus dem ‚Jammertal‘:
Der Bundespräsident propagiert Freiheit, Selbstverantwortung und Eigeninitiative als oberste Werte der Nation
Die Deutschen brauchen neue Werte und Ideale! Die alten Phrasen wie ‚Kapitalismus mit menschlichem Antlitz‘, ‚soziale Marktwirtschaft‘ oder ‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft‘ haben ausgedient. Zur Repräsentation dieses Standpunkts haben die Unionsparteien und die Liberalen Horst Köhler ins Amt des Bundespräsidenten gehievt, und der macht seinen Job den Erwartungen entsprechend: Gleich zu Beginn seiner Amtszeit stößt er eine sehr grundsätzlich angelegte Renovierung der deutschen Gesinnungswirtschaft an.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Mit Köhler aus dem
‚Jammertal‘:
Der Bundespräsident propagiert
Freiheit, Selbstverantwortung und Eigeninitiative als
oberste Werte der Nation
Die Arbeitgeber wissen es schon immer, Schröder sagt es
schon lange und ‚Der Spiegel‘ schreibt eine
Titelgeschichte darüber: Die Deutschen brauchen neue
Werte und Ideale! Die alten Phrasen wie ‚Kapitalismus mit
menschlichem Antlitz‘, ‚soziale Marktwirtschaft‘ oder
‚nivellierte Mittelstandsgesellschaft‘ haben ausgedient.
Zur Repräsentation dieses Standpunkts haben die
Unionsparteien und die Liberalen Horst Köhler ins Amt des
Bundespräsidenten gehievt, und der macht seinen Job den
Erwartungen entsprechend: Gleich zu Beginn seiner
Amtszeit stößt er eine sehr grundsätzlich angelegte
Renovierung der deutschen Gesinnungswirtschaft an. Anlass
für Köhlers Initiative ist die anhaltende ostdeutsche
Unzufriedenheit mit dem Fortschritt der ‚Angleichung der
Lebensverhältnisse zwischen Ost und West‘ im Allgemeinen
und den drastischen Auswirkungen der Hartz-IV-Reformen im
Ostteil der Republik im Besonderen. Köhler nimmt die
faktisch sehr moderaten Proteste gegen die Reformen als
alarmierendes Indiz für den unbefriedigenden Zustand der
deutschen Moralität insgesamt. Wäre die nämlich in
Ordnung, würde kein Mensch soziale Ungleichheit als
Skandal empfinden und der Politik mit deplatzierten
Ansprüchen, dauernden Demonstrationen und inzwischen
sogar mit einem links- und rechtslastigen Wahlverhalten
lästig werden. In einem Aufsehen erregenden Focus-Interview (13.9.) antwortet der
Präsident auf die pikante Frage, ob man nicht nach 15
Jahren Einheit so viel Ehrlichkeit aufbringen
müsse,
den Ossis endlich die Wahrheit
zu sagen – sprich:
ihnen jede Illusion über eine Angleichung der
Lebensverhältnisse zu nehmen –, generalisierend, dass
Ungleichheit sowieso ein Markenzeichen jeder
freiheitlichen Gesellschaft ist:
„Es gab und gibt nun einmal überall in der Republik große Unterschiede in den Lebensverhältnissen. Das geht von Nord nach Süd wie von West nach Ost. Wer sie einebnen will, zementiert den Subventionsstaat und legt der jungen Generation eine untragbare Schuldenlast auf. Wir müssen wegkommen vom Subventionsstaat.“
Mit seiner lapidaren Feststellung, dass ungleiche Lebensverhältnisse von je landauf, landab anzutreffen sind – es ‚gab und gibt nun einmal überall‘ Unterschiede in den Lebensverhältnissen –, will Köhler seine neue ‚Wahrheit‘ begründen, dass es sich bei dem oftmals als sehr unschön empfundenen Gegensatz von Arm und Reich um so etwas wie ein Naturgesetz handelt; jeder also, der mit einer idealen Vorstellung von der Gleichheit der Lebensverhältnisse im Kopf den gegebenen Verhältnissen kritisch kommt, aus ganz überparteilich-sachlichen Gründen danebenliegt. Und mit der Prophezeiung furchtbarer staatsschädlicher Wirkungen für den Fall, dass ein politischer Verantwortungsträger gegen diese tiefe Einsicht dennoch verstoßen wollte – ein ‚zementierter Subventionsstaat‘ wirkt mit seinen ins Unendliche prolongierten Zahlungsverpflichtungen auf die ‚junge Generation‘, die hier stellvertretend für die Zukunft der Nation zitiert wird, ruinös –, kennzeichnet er die Notwendigkeit für Politik und Volk, sich beim Regieren und Meinen an das Gebot zu halten, in Sachen ‚Angleichung der Lebensverhältnisse‘ keine falschen Hoffnungen zu wecken und sich keinen falschen Illusionen hinzugeben: Was der Kapitalismus an sozialen und regionalen ‚Unterschieden in den Lebensverhältnissen‘ anrichtet, ist gut und geht absolut in Ordnung, umgekehrt ist jedes Bemühen um einen ‚gerechten‘ Ausgleich von unterschiedlichen Lebensverhältnissen ein einziger Schaden am Allgemeinwohl. Die Deutschen aller Himmelsrichtungen sind somit aufgerufen, soziale und regionale Ungleichheiten als positive Grundlage des Lebens zu akzeptieren. Köhler propagiert damit nichts weniger als einen Paradigmenwechsel in der offiziellen Ideologie: Nicht das Ideal einer ausgleichenden Gerechtigkeit zwischen Ost und West, Oben und Unten soll in Zukunft der höchste Wert der Nation sein, sondern die Betonung von Freiheit, Selbstverantwortung und Eigeninitiative des Individuums in schwerer Zeit.
„Worauf es ankommt ist, den Menschen Freiräume für ihre Ideen und Initiativen zu schaffen … Ich will dazu beitragen, dass den Menschen im Osten mehr Spielraum für ihre Ideen gegeben wird – etwa durch Befreiung von überflüssiger Bürokratie. Ich bin sicher, dass den Menschen was einfällt.“
Die privatwirtschaftlich und staatlich verarmten Leute müssen sich eben darauf besinnen, dass sie auch in großer Not immer noch das höchste und wertvollste aller Güter besitzen, ihre Freiheit. Da stellt das Kapital die neuen Länder und Leute flächendeckend unter das Kriterium der freien Profitkalkulation und teilt ihnen gleichzeitig mit, dass sie dem nicht gerecht werden, und Köhler erteilt den damit zur Überschussbevölkerung degradierten, mittellosen Leuten den heißen Tipp, unverdrossen Eigeninitiative zu ergreifen. Sie sollen sich ganz einfach was einfallen lassen. Was? Eine gute Idee! Not macht ja erfinderisch, Subventionen hingegen machen faul und phantasielos! Ungleichheiten aller Art sind somit als ein das freie Spiel der marktwirtschaftlichen Kräfte beflügelnder Zustand zu begrüßen. Dass das Wundermittel Freiheit seine segensreichen Wirkungen nicht schon längst entfaltet hat, kann in der Vorstellungswelt eines Köhlers nur daran liegen, dass die real existierende Freiheit noch nicht frei genug ist, d.h. die ‚Spielräume‘ für ‚Ideen und Initiativen‘ wegen bürokratischer Vorschriften immer noch viel zu eng sind. Nun vermag zwar auch der Bundespräsident nicht anzugeben, welche bürokratischen Vorschriften die Überschussbevölkerung so böse strangulieren; das hindert ihn jedoch nicht, den Kalauer ‚Entbürokratisierung‘ als Allheilmittel des Aufschwungs zu verkaufen. Aber auch für den Fall, dass lukrative Geschäftsideen sich nicht so locker einstellen wollen, bleibt die Freiheit im Wortsinn grenzenlos:
„Wenn ein Arbeitnehmer in seiner Heimat keinen Arbeitsplatz finden kann, der seinen Ansprüchen gerecht wird, dann muss er sich selbst entscheiden: entweder dorthin ziehen, wo er Chancen sieht, seine beruflichen Ziele zu verwirklichen, oder bewusst dem Leben in der unmittelbaren Heimat den Vorzug geben.“
So landet die freie Selbsthilfe per Ideenreichtum im nächsten Atemzug wieder beim banalen Zwang zum Gelderwerb per Lohnarbeit. Die raue Alternative, dass die Leute auf einem rentablen Arbeitsplatz eines frei kalkulierenden Kapitals ein Auskommen haben oder eben keines, macht Köhler als freie Wahl zwischen eigenen Ansprüchen und Präferenzen vorstellig. Was vollkommen den geschäftlichen Kalkulationen der Arbeitgeber unterliegt, also in keiner Hinsicht in die Kompetenz eines Arbeitnehmers fällt, erscheint so als dessen freie Entscheidung zwischen Mobilität einschließlich Verdienst oder Heimat einschließlich der ortsüblichen Arbeitslosigkeit.
*
Kreise, die von ihrer Freiheit & Chancengleichheit erfolgreich Gebrauch zu machen wissen und mit ihrem üppigen Lebensstil die Schönheiten dieser hohen Werte für alle sinnfällig machen, genießen Köhlers besondere Wertschätzung. Die Rede ist von ‚unseren‘ Eliten.
„Eliten haben aus ihren Chancen besonders viel gemacht. Das sollte uns allen etwas wert sein. Sie zeichnen sich aus durch besondere Leistungen, besondere Fähigkeiten, besondere Bildung, manchmal auch durch viel Geld. Wir haben zu lange die Philosophie gehabt, wir könnten die Spitze ignorieren und Talente gleich verteilen. Das war nicht gut. Wir müssen in der Gesellschaft wieder die Akzeptanz dafür schaffen, dass Leistungsstärke Anerkennung findet, damit Solidarität eine starke wirtschaftliche Basis in der Gesellschaft bekommt.“
Hier spricht unüberhörbar das oberste Staatsorgan: Ohne sich bei irgendwem nach seiner Meinung erkundigt zu haben, spricht Köhler fortwährend im Namen von ‚uns allen‘. Von daher erschließt sich ihm ganz von selbst jeder Gegensatz als unser aller Gemeinschaftswerk. Das früher einmal heftig umstrittene Nebeneinander von Arm und Reich erscheint ihm als prinzipiell gerechte Verteilung von Nutzen und Lasten. Alle Gegensätze lösen sich in ein gemeinschaftliches Miteinander auf: Wer zur politischen, ökonomischen oder auch kulturellen Elite gehört, dem stehen bessere Lebensverhältnisse auch zu, weil er von Haus aus ‚Spitze‘ ist, viele ‚Talente‘ hat, ‚Leistungsstärke‘ zeigt und ‚aus seinen Chancen besonders viel gemacht‘ sowie ‚besondere Leistungen‘ erbracht hat. Woran aber sieht man, dass er all dies für sich verbuchen kann? Ganz einfach: An der Tatsache, dass er zu den Erfolgreichen der Gesellschaft gehört. ‚Ungleiche Lebensverhältnisse‘ sind somit per se gerecht. Und nützlich: Eliten vermehren in Köhlers Lesart nicht einfach nur das Privatvermögen, sondern zugleich die ‚wirtschaftliche Basis in der Gesellschaft‘ und damit die Grundlage für jede gesellschaftliche Solidarität. Die Repräsentanten von politischen und ökonomischen Interessen, welche die Mehrheit der Bevölkerung zu den ‚kleinen Leuten draußen im Lande‘ machen, sind also zugleich als diejenigen zu würdigen, die was für ‚die Gesellschaft‘ und somit letztlich auch für jedes arme Würstchen tun. Deswegen sollten Leute, die bereits ‚viel Geld‘ ihr eigen nennen, ihren Mitbürgern, die bloß viel Freiheit ihr eigen nennen können, ‚etwas wert‘ sein.
Wenn Köhler den phantasiereichen Gebrauch der Freiheit empfiehlt, um sich in allen Lebenslagen selbst zu helfen, dann soll das umgekehrt nicht heißen, dass man dieses Gut daran messen sollte oder dürfte, ob das mit den Lebenslagen auch in befriedigender Weise klappt. Freiheit ist schließlich das Höchste, was ein Staat seinem Volk gewähren kann, und ist folglich nur in seinem Sinn zu gebrauchen: Freiheit schließt die Pflicht ein, gegebenenfalls auch ohne jedes Spechten auf privaten Nutzen für sie einzustehen. Zur Vermittlung dieser frohen Botschaft zitiert Köhler den Freiheitsidealismus der ‚friedlichen Revolution‘ der DDR und mahnt alle Deutschen, jetzt, wo sich der Alltag und damit der Ernst der Freiheit eingestellt hat, in ihrem tätigen Nationalismus nicht nachzulassen:
„Die Menschen in den neuen Ländern haben mit der friedlichen Revolution etwas ganz Großes für Deutschland geleistet, wofür wir alle dankbar sind. Wir brauchen sie für die Gestaltung einer guten Zukunft … Jeder in Ost und West muss wissen, dass er selbst gefordert ist.“
In der höflichen Form eines dicken Kompliments macht der
Präsident seinem Volk keine geringen Ansprüche auf: Ihre
originalen Montagsdemonstrationen interpretiert er als
‚etwas ganz Großes‘, und mit dieser hehren Formel ist
gleichfalls etwas ganz Großes gemeint, die Tugend der
Selbstlosigkeit nämlich, aus der ein Dienst ‚für
Deutschland‘ springt. Der demonstrative Dank des
Präsidenten hierfür kündigt den famosen Bürgern daher
auch keine Dankesgeschenke seitens ihrer zu neuer Größe
aufgestiegenen neuen Heimat an, sondern ist der Auftakt
dazu, sie auch für die Zukunft auf selbstlose
Dienstbarkeit festzulegen: Die Deutschen unterschätzen
immer noch, welche Bewährungsprobe auf sie zukommt.
Mindestens den ehemaligen Volksgenossen müssten solche
Töne aus den alten DDR-Zeiten bekannt vorkommen. Die
politische Verpflichtung für einen selbstlosen ‚Aufbau
des Sozialismus‘ galt zwar im Westen als Inbegriff der
Trostlosigkeit des Lebens unter der Diktatur des
Systemfeinds, eine auf Dauer angelegte Opferbereitschaft
zugunsten der Freiheit ist aber natürlich etwas ganz
anderes.
*
Mit seinen Äußerungen hat der Bundespräsident in ein
Wespennest gestochen
(FAZ,
14.9.). Seine Forderung nach offizieller
Anerkennung der kapitalistischen Misere in den neuen
Ländern und einem Stopp aller staatlichen Versprechungen,
die Ungleichheit der Lebensverhältnisse in Ost und West
per Subventionen auszugleichen und einem Ende zuzuführen,
wird aufgeregt als nicht glücklich
(Mathias Platzeck), als überspitzt
(Angela Merkel), als
Aufruf zur Resignation
(Ludwig Stiegler) oder als ungewollte
Wahlkampfhilfe für die PDS
(Fritz Kuhn) und sogar als Angriff aufs
Mark des Grundgesetzes
(Petra
Pau, PDS) mit kritischen Anmerkungen versehen.
Allenthalben wird die Einheit der Nation als höchstes Gut
beschworen und vor einer Zementierung der
Ost-West-Schere am Arbeitsmarkt
(Angela Merkel, Georg Milbradt, Mathias Platzeck
u.a.) gewarnt. All diese Einwände haben den
Charakter von Nachrufen auf die alte
bundesrepublikanische Moral und sind insofern nichts als
Verlaufsformen zur Etablierung der neuen: Wer vor
Übertreibung warnt oder alte Positionen wenigstens zum
Teil retten will, akzeptiert den neuen Standpunkt im
Grundsatz. Die schönste Wortmeldung steuert
NRW-Ministerpräsident Peer Steinbrück bei, der seiner
Absage ans alte Ideal die Form seiner Erhaltung verleiht
– als explizit irreales Ideal will er die ausgleichende
staatliche Gerechtigkeit im Wertehimmel der Republik
bewahrt sehen:
„Die Herstellung einheitlicher Lebensverhältnisse in Ost und West ist ein Auftrag. Etwas anderes ist es, ob dieses Ziel in allen in Frage kommenden Feldern erreicht werden kann. Da melde ich Zweifel an, denn die Länder sind zu verschiedenartig.“
Auf ausdrückliche Unterstützung braucht Köhler nicht
lange zu warten. Allen voran nimmt Bundestagspräsident
Thierse den 15. Jahrestag der großen Montagsdemonstration
anno ’89 zum symbolträchtigen Anlass, seinen Landsleuten
in Sachen Opferbereitschaft und guter Laune gehörig ins
Gewissen zu reden. Schon wieder ist von ‚Großem‘ die
Rede: Damals ging es um die kleine versteinerte DDR.
Heute geht es um ein großes gemeinsames Land.
Deshalb
war damals Protest und Umsturz fällig, während heute
alles Ungemach mit neuem Mut und neuer
Entschlossenheit
zu ertragen ist. ‚Große‘ nationale
Projekte dürfen eben jedes Opfer verlangen. Zur besseren
Akzeptanz der neuen Moral, wonach sich der Mensch seiner
neuen Freiheit mit mehr Eigeninitiative
würdig
erweisen muss, appelliert Thierse gezielt an beleidigten
Ossistolz: Gleichwertige Lebensverhältnisse werden uns
nicht von oben oder aus dem Westen gebracht, wir müssen
sie selber auf die Beine stellen.
Der Bundeskanzler würdigt erst recht die neuen moralischen Standards, erkennt er doch sogleich ihre Geistesverwandtschaft mit dem, was er schon seit einiger Zeit predigt. Schröder will davon wegkommen, dass aus den Opfern, die seine Reformpolitik produziert, irgendein schlechtes Urteil über sie folgt, und exemplifiziert die neuen Maßstäbe am Begriff Gerechtigkeit:
„Mir geht es darum, den Gerechtigkeitsbegriff endlich wieder vom Kopf auf die Füße zu stellen. Es geht um eine Gerechtigkeit auch für künftige Generationen, ich will die Chancen unserer Kinder und Enkelkinder erhöhen, anstatt sie fortwährend zu schmälern. Die Politik der permanenten Gegenwart muss beendet werden.“
Auf dem Kopf steht hiernach der, der den Begriff Gerechtigkeit mit gegenwärtigen Ansprüchen auf die Korrektur sozialer Verhältnisse verbindet – wie wahr; aber der arrivierte Juso meint es anders. Er stellt allen Forderungen nach Ausgleich gegenwärtiger ‚Ungerechtigkeiten‘ die Fiktion eines Konflikts der Generationen gegenüber – so als wären die Lebenschancen ‚unserer Kinder und Enkelkinder‘ nicht erst recht eine Klassenfrage und durch Ungleichheiten der sozialen Lage ihrer Eltern und Großeltern in der Gegenwart vorgezeichnet. Aber wer mag bei den lieben Kleinen schon an Klassengegensätze denken? Bei Schröder stehen sie für die Zukunft der Nation und dafür, dass um dieses hohen Gutes willen in der Gegenwart verzichtet werden muss – von einem jeden so, wie seine unkorrigierbare gegenwärtige Lebenslage es gebietet.
Zur Bekräftigung seiner Verzichts-Moral bereichert
Schröder das moralische Arsenal der Nation auch noch mit
dem Begriff ‚Mitnahme-Mentalität‘ und hetzt gegen die
Mentalität, dass man staatliche Leistungen mitnimmt, wo
man sie kriegen kann, auch wenn es eigentlich ein
ausreichendes Arbeitseinkommen in der Familie gibt.
Schröder spielt hier auf besser gestellte
Leistungsempfänger der Sozialkassen an, die ganz gut auch
ohne ihre Bezüge zurechtkämen – um das Urteil zu belegen,
dass der Staatshaushalt von unverantwortlichen Egoisten
ausgeplündert wird. Das macht den Befund populär, dass
ein restriktiverer Umgang mit Sozialleistungen seitens
des Staates dringend geboten ist, und dieser Befund dient
ihm dann zur Rechtfertigungsgrund für generelle
Kürzungen der sozialstaatlichen Leistungen durch seine
Agenda 2010. Eine schöne sozialdemokratische Perfidie.