Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
M. Breitscheidels „aufrüttelnder Report“:
„Arm durch Arbeit“ – Soziales Elend als Stoff für das Elend moralischer Sozialkritik
Totgeschwiegen oder einfach nur schöngeredet wird in einer Demokratie jedenfalls nichts von all dem, was zu den weniger schönen, sich gleichwohl notorisch einfindenden „Schattenseiten“ eines proletarischen Lebenslaufs gehört. Das sieht der Journalist M. Breitscheidel anders. Weil er der Auffassung ist, dass man von der Armut im Land viel zu wenig Notiz nimmt, steigt er undercover in die „Niederungen der modernen Arbeitswelt“ hinab und verfasst einen „Tatsachenbericht über das Leben am finanziellen Existenzminimum“. Mittels „Selbstversuch und persönlicher Begegnung mit Betroffenen“ (alle folgenden Zitate aus dem Buch) will er eine garantiert „objektive“ und „glaubwürdige“ Darstellung von skandalösen Zuständen geben, „die kaum bekannt sind“.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
M. Breitscheidels aufrüttelnder
Report
:
Arm durch Arbeit
– Elend als Stoff
verantwortungsvoller Sozialkritik
An Berichten über die Armut fehlt es so wenig wie an
ihrem Gegenstand. Ein umsichtiger Klassenstaat will
allemal über Umfang, Wachstumsrate, gesundheitliche wie
sittliche Verfassung und politische Loyalität der
minderbemittelten Volksteile Bescheid wissen, über die er
gebietet; seine wissenschaftlichen Experten halten ihn da
regelmäßig auf dem Laufenden. Einer aufmerksamen
Öffentlichkeit entgeht gleichfalls nicht, was sich im
Lebensalltag der unteren Etagen der Gesellschaft so
abspielt; nicht immer, aber immer öfter wird in Zeitung
und TV von Einzelschicksalen
und
Härtefällen
berichtet, die dann selbst für die
Berichterstatter so vereinzelt gar nicht sind.
Totgeschwiegen oder einfach nur schöngeredet wird in
einer Demokratie jedenfalls nichts von all dem, was zu
den wenig einnehmenden, sich gleichwohl notorisch
einfindenden Schattenseiten
eines proletarischen
Lebenslaufs gehört.
Das sieht der Journalist M. Breitscheidel anders. Weil er
der Auffassung ist, dass man über die im Land verbreitete
Armut viel zu wenig erschrickt, und weil er sich das
damit erklärt, dass man von den erbärmlichen Zuständen
zuwenig Kenntnis habe, steigt er undercover in die
Niederungen der modernen Arbeitswelt
hinab und
verfasst einen Tatsachenbericht über das Leben am
finanziellen Existenzminimum
(Leipziger Internetzeitung, 27.10.08).
Mittels Selbstversuch und persönlicher Begegnung mit
Betroffenen
(alle folgenden
Zitate aus dem Buch) will er eine garantiert
objektive
und glaubwürdige
Darstellung von
skandalösen Zuständen geben, die kaum bekannt
sind.
Er macht sich stark für Hartz-IV-Empfänger
ohne persönliches Verschulden
und stigmatisierte
Leiharbeiter
, will jenseits aller Worthülsen,
Sprechblasen und verlogenen Phrasen
(Vorwort) aufrütteln
und eine
breite gesellschaftliche Diskussion
anfachen, in
der über die dringend notwendigen politischen
Gegenmaßnahmen
debattiert wird. Zweifellos ein
Literat, der mal wieder ‚etwas bewegen‘ will. Fragt sich
nur, wie da was bewegt werden soll.
*
Verbürgt durch die authentischen Erfahrungen des Autors –
mal ist er mit 4,42 Euro pro Tag für
Nahrungsmittel
unterwegs, mal hat er im
Portemonnaie jetzt noch exakt 27 Cent
– erfährt
der Leser, wie das wirkliche Leben
für über
sieben Millionen
Leiharbeiter aussieht. Ohne
Urlaubsgeld, Krankengeld, Rentenzahlungen
stellen sie
ihre Arbeitskraft zu Verfügung, wann immer und wo immer
und zu welchem Preis auch immer nach ihrer profitablen
Ausbeutung Bedarf vorliegt. Glück haben die Betroffenen,
wenn dies der Fall ist, denn dann werden ihnen die
Strapazen des ausgebeuteten Arbeitslebens
wenigstens mit Hungerlöhnen
entgolten. Dieses
große Geschenk der Freiheit, sich ein Leben voller
Unsicherheit und materieller Not immerhin mit
selbstverdienten Mitteln einteilen zu dürfen, bleibt der
großen Masse derer gleich verwehrt, deren Lebensmittel
Hartz-IV heißt und bei denen der Autor die
Leidensfähigkeit von unmittelbar Betroffenen
gleichfalls persönlich in Augenschein nimmt: Von den
Behörden des Sozialstaats werden sie schikaniert, ihr
Essen besorgen sie sich bei gemeinnützigen Mittagstafeln,
bei ALDI klauben sie Sonderangebote zusammen und sammeln
ansonsten Pfandflaschen. So geht es im Leben zu und im
Buch seitenweise dahin, und eines ist schon wahr: Was das
verbreitete Elend in unserer sozialer Marktwirtschaft
betrifft, von dem der Autor Bericht erstattet, so
verschont er uns nicht mit den entsprechenden und sehr
konkreten Alltagserfahrungen.
Genau das hat er sich
mit seinem aufrüttelnden Tatsachenbericht
ja
vorgenommen: Den Skandal vor Augen zu stellen,
wie in einer Gesellschaft, die Reichtum im Überfluss
produziert, mit der lohnabhängigen Menschheit mit und
ohne Arbeitsplatz umgesprungen wird und zusammen mit dem
Reichtum auch die Armut wächst; die
Rücksichtslosigkeit zu dokumentieren, mit der an
Lebensunterhalt und Gesundheit von Lohnarbeitern gespart
wird, wenn Unternehmer ihre Rentabilitätsrechnungen bei
der Entgeltung und Inanspruchnahme ihrer Arbeitskräfte
exekutieren; und auf die Gemeinheit zu deuten,
mit der die Behörden des Sozialstaats auch noch an den
letzten Opfern der Marktwirtschaft den Grundsatz
vollstrecken, dass auch die Gnade eines gewährten
‚Existenzminimums‘ verdient sein will, durch das
Aushalten welcher Schikane auch immer. Nun will der Autor
mit seinen Berichten aus der Welt der Armut auch
‚aufrütteln‘; was er für skandalös befindet, sollen schon
auch seine Leser so sehen, auf dass im Zuge einer
‚breiten gesellschaftlichen Diskussion‘ dann die
‚politischen Gegenmaßnahmen‘ in Gang kommen, die er in
Anbetracht der üblen Zustände für geboten hält. Also
streut er in seinen Tatsachenbericht immer wieder ein,
worin für ihn in all dem ausgebreiteten Stoff
der Skandal besteht und weshalb man sich daher
auch seiner Auffassung anschließen soll – und was er dazu
anbietet, taugt absolut nichts.
*
Ausdrücklich legt der investigative Journalist Wert auf
den Nachweis, dass die Armut hierzulande kein
Ausnahmefall, die Rede von der Massenarmut
keine Übertreibung ist. Er legt sich auch die
Frage vor, woher die kommt, welchen eingerichteten
Usancen es zu verdanken ist, dass es in dieser
marktwirtschaftlichen Ordnung regelmäßig so elend zugeht,
wie er es kritisiert – und stellt mit seiner Antwort auf
diese Frage seinen eigenen Ausgangspunkt auf den Kopf.
Die vielen Elendsgestalten, die er Revue passieren lässt,
sind für ihn gar nicht nur Zeugnis davon, wie es eben
zugeht in einer sozialen Marktwirtschaft. Er führt sie
zwar als solches vor, will damit aber etwas ganz anderes
bedeutet haben: Sie dokumentieren ihm, wie es in einer
Marktwirtschaft mit dem Prädikat ‚sozial‘ auf keinen
Fall zugehen darf – weil die nämlich ihren
eigenen Maßstäben nicht gerecht wird, wenn in ihr so
wenig auf eine menschenwürdige Behandlung von
Arbeitslosen und auf die anständige Entlohnung von
Arbeitenden geachtet wird. Denn nach den moralischen
Maßstäben, die hierzulande allgemein gelten und die –
ihrem eigenen Bekunden nach – ja auch das praktische Tun
aller politisch Verantwortlichen anleiten,
gehört sich dieses Elend im Grunde
nicht. Eigentlich ist Massenelend einem
sozialpolitisch betreuten Kapitalismus
wesensfremd – also handelt es sich bei ihm um
die Ausnahme von der Regel, die als solche zu
bekämpfen ist, und in dem Kampf geht der
Kritiker dann auch gleich voran: Ein ums andere Mal
ergeht er sich im Aufweisen des Missstands, dass
und wo überall es an der tatsächlichen Umsetzung
aller qua Demokratie und Sozialstaat verbrieften guten
Absichten fehlt. Politische
Fehlentwicklungen
und Irrtümer
sind für ihn
zu verzeichnen, wenn der Sozialstaat den menschlichen
Schrott der Marktwirtschaft auf seine Weise verwaltet;
keineswegs wird da staatliches Recht nach Geist und
Buchstaben des Gesetzes exekutiert, wenn Sachbearbeiter
darüber befinden, mit welcher Geldsumme ein
‚Existenzminimum‘ als gesichert zu gelten hat – nein,
eine seelenlose bürokratischen Maschinerie
schubst
da Menschen herum; nicht die Politik mit ihrem Interesse
an einem international konkurrenztüchtigen
Kapitalstandort hat in der deutschen Marktwirtschaft
einen ‚Niedriglohnsektor‘ mit den entsprechenden
Arbeitsplätzen etabliert und damit die Massen verelendet
– nein, diese Schande hat die Nation allein den niedrigen
privaten Motiven eines Superministers a. D. zu verdanken,
der sich als politischer und ideologischer Wegbereiter
(...) für den Ausbau der Leiharbeit ausgesprochen hat.
Der Schluss liegt nahe, dass Herr Clement dabei nicht
ganz uneigennützig gehandelt hat
, usw. Solcherart
‚Schlüsse‘, aus denen immer wieder nur hervorgeht, dass
all die bemerkten Hässlichkeiten aus der Welt der Arbeit
unmöglich auf das zurückgehen, was Politiker als ihre
Amtspflicht und Bürokraten als Zweck ihrer Behörde
exekutieren, gibt es natürlich noch viel mehr, so dass –
nach spannenden Entdeckungen wie der, dass Leiharbeit
wenig zum Einstieg ins reguläre Arbeitsleben, dafür umso
besser zur Absenkung des Lohnniveaus in letzterem selbst
taugt – alles auf den einen großen ‚Schluss‘ zuläuft:
Ausgerechnet die fürs Lindern von Elend und Lösen von
Problemen der arbeitsamen Bevölkerung Auserkorenen lassen
zu, dass Hartz IV, Leih- und Zeitarbeit, so wie ich
sie kennengelernt habe, eher die Probleme auf dem
Arbeitsmarkt und der Gesellschaft insgesamt verschärfen,
statt sie zu lindern oder gar zu lösen.
Das ist der
Skandal am ganzen Elend und der Gipfel im Kampf des
Autors gegen beschönigende Sprechblasen
: Politiker
halten sich nicht an die schönfärberischen Floskeln ihres
Gewerbes, das Ministerium für Arbeit und
Soziales ist gar kein solches, vom Fördern beim Fordern
ist hinten wie vorne nichts in Sicht! In derartigen
Bekenntnissen zum unverwüstlichen Glauben an den
Segen der Politik ausgerechnet für die, die
wegen ihr mit ihren Interessen unter die Räder
kommen, fasst sich der kritische Sozialreport zusammen,
und der demonstrativ empörte Griff ans Hirn ist die
Urteilsform, zu der er es deswegen auch nur bringt: Weil
er nichts von dem begreifen will, was ihm
unangenehm aufstößt, ist für den Autor einfach
ein Ding der Unmöglichkeit, womit er es zu tun hat –
es ist für mich unfassbar, dass eine Behörde zu
solchen Konditionen und mit Methoden, die fast an eine
Drückerkolonne erinnern
, die Arbeitslosen
scharenweise den Zeitarbeit-Unternehmen – früher sagte
man auch zutreffend Sklavenhändler – zutreibt.
Und
mit dem Verweis auf ‚Konditionen‘ und ‚Methoden‘, die er
einfach für unmöglich hält, kündigt sich auch schon an,
wie diese Sozialkritik ihren Frieden mit den so vehement
beklagten Zuständen sucht und wieder findet. Wer derart
vernarrt in den guten sozialen Daseinszweck einer
staatlichen Behörde ist, wird selbstverständlich
konstruktiv und macht sich ans Einreichen von
Vorschlägen für dringend notwendige politische
Gegenmaßnahmen
– damit die Behörde wieder besser
passt zum grundguten moralischen Bild, an dem er sie
misst, und das Elend wieder auf ein Niveau zurückgeführt
wird, das als marktwirtschaftlich normal angesehen werden
kann und daher auch keinen Skandal mehr
begründet. Z. B. wäre eine Erhöhung der
Hartz-IV-Bezüge auf die Pfändungsgrenze, die in unserem
Land häufig der Maßstab für die Bemessung von Armut
ist
, schon ein großer Fortschritt im Kampf gegen die
Armut. Warum? Weil es dann, wenn die Armut bei der
Pfändungsgrenze aufhört, auf einen Schlag zählbar weniger
Arme gäbe: Bei einer Anhebung (... ) auf dieses Niveau
würde sich die Armutsstatistik halbieren.
Und was die
skandalösen Hungerlöhne
von Leiharbeitern,
Erntehelfern und vielen anderen betrifft, so wären auch
die alle mit der Einführung des gesetzlichen
Mindestlohns auf der Grundlage der Sozialcharta in Höhe
von mindestens 8,90 Euro
schlagartig keine mehr.
Warum? Weil dann eben nicht mehr Niedrig-, sondern
Mindestlöhne zusammen mit einer Sozialcharta für die
Geldsumme verantwortlich sind, von der ihr Empfänger
leben können muss, und das schafft der dann garantiert
viel besser.
*
Bei so viel wirklich gutem Willen
ist es kein
Wunder, dass einer mit einem Bericht zum aktuellen Stand
des gewöhnlichen Pauperismus in Deutschland einen
Bestseller landet: einen Beitrag immerhin zur
Bewusstseinsbildung aller Verantwortungsträger – weniger
der wirklichen, eher der ideell für alles Zuständigen.
Der Autor – selber mittlerweile ein gern gesehener Gast
in einschlägigen Talk-Shows – möchte offensichtlich all
jenen dummdreisten Apologeten der freien Marktwirtschaft
aus Unternehmerverbänden, der FDP und
Wirtschaftsinstituten, die sich ebenfalls gerne in
solchen Gesprächsrunden herumtreiben und dann dort
treuherzig verkünden, dass von Massenelend in unserer
Gesellschaft nun wirklich nicht die Rede sein kann, mit
seinem authentischen Tatsachenbericht das Maul stopfen.
Eine Argumentationshilfe für die notorisch kritischen
Geister, ohne die ein ausgewogener
freiheitlich-demokratischer Dialog in Sachen
Elendsverwaltung einfach nicht zu haben ist – das ist das
Buch von Breitscheidel schon.
Und genau das spricht gegen das Buch.