Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Hang-Seng-Index und „wir alle“
Lehren aus einer Woche Börsen-Krach
Die Vernichtung riesiger Summen an Finanzmitteln und ihre unausweichlichen Folgen: von den Eigentümern des Geldes und der angeblichen „Irrationalität“ ihrer Kalkulationsaspekte…
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Der Hang-Seng-Index und „wir alle“
Lehren aus einer Woche Börsen-Krach
Ende Oktober purzeln in Hongkong die Börsenkurse, am nächsten Tag in Tokio, in Singapur, in New York, in Lateinamerika, in London… – rund um den Globus, also auch bei uns, an unserem schönen Börsenplatz Frankfurt, „spielen die Börsen verrückt“. Dieses Ereignis fordert die „Analysten“ in sämtlichen Fernseh- und Zeitungsredaktionen heraus, denn eines ist allen klar: So sicher sie sind, daß boomende Börsenkurse sich nie und nimmer positiv auf das Leben des „kleinen Mannes“ auswirken – da gilt es als zwar eigentümlich und eventuell sogar etwas zynisch, aber normal und unabänderlich, daß „den exorbitant gestiegenen Aktienkursen ein wachsendes Heer von Arbeitslosen gegenübersteht“ –, so sehr gehen sie umgekehrt davon aus, daß „wir alle“ sehr wohl negativ von den Verlusten betroffen sind, die an den Börsen in aller Welt notiert werden. Wieso eigentlich?
Fünf Lehren auf dem Börsen-Crash:
- Wenn in Hongkong auf Baisse spekuliert wird, dann ist das keine Sache, die die Chinesen, oder eventuell noch die Ostasiaten dazu, unter sich ausmachen sollen – oder können. Eine Börse „steckt die andere an“, heißt es dann. Und das ist auch ganz logisch: Denn überall, an allen Börsen der Welt, agieren dieselben Subjekte mit demselben Stoff: Die Internationale der Geldanleger vergleicht die Anlagemöglichkeiten für ihr Kapital auf sämtlichen Finanzmärkten der Welt; vergleicht Zinsen und Rendite, Aktien- und Währungskurse; nimmt an einer Stelle Kredit auf, um ihn an anderer Stelle gewinnbringend anzulegen; geht vom Dollar in die D-Mark oder umgekehrt; spekuliert weltweit auf Hausse oder Baisse; verschiebt also täglich Milliarden von Dollars, D-Mark, Yen… rund um den Globus. Auch „unsere“ deutschen Geldbesitzer sind schon längst überall auf der Welt mit ihrem Anlagekapital dabei, genauso wie auswärtiges Finanzkapital am Börsenplatz Frankfurt plaziert ist. Wenn also irgendwo auf der Welt eine „Spekulationsblase platzt“ und Milliarden von Dollars oder sonst einer Weltwährung sich innerhalb von Stunden in Luft auflösen, dann ist dieser Verlust von vornherein nicht auf eine Weltgegend beschränkt, sondern genauso international wie das Finanzkapital selbst.
- „Wir“ Millionäre und Fondsmanager sind also immer betroffen, wenn „die Börsen verrückt spielen“. Aber wer gehört schon zu diesem Berufsstand? Wenn Finanzspekulanten an einem Tag ein paar Milliarden vergeigen, wieso können „wir alle“, die wir doch in der Regel gar keine Milliarden zum Vergeigen haben, dann nicht gelassen zusehen?
Klar, es gibt den berühmten Kleinanleger, der hierzulande spätestens seit Manfred Krugs unermüdlichem Einsatz im Dienste der Telekom fürs Börsengeschäft betört wurde. Daß dieser Kleinanleger, dessen Erspartes nach dem Motto „Kleinvieh macht auch Mist“ einerseits durchaus zur Kapitalaufstockung an den Aktienmärkten begrüßt wird, andererseits eine ziemliche Fehlbesetzung auf dem Börsenparkett ist, diese Klarstellung ist den öffentlichen Stellungnahmen zum Börsen-Krach allerdings deutlich zu entnehmen. Kaum kommen die Aktienkurse ins Rutschen, wird die Sorge laut, daß „der Kleinanleger in Panik geraten“ könnte und „mit hektischen Verkäufen“ die Sache „ins Bodenlose“ treibt. Ausgerechnet der trostlosen Figur des Sparers, der seine Alterssicherung oder die Ausbildung der Kinder mit Aktienbesitz abzusichern gedenkt, wird die zweifelhafte Ehre zuteil, zum Hauptrisikofaktor der internationalen Finanzspekulation erklärt zu werden. Nach zwei Tagen wird diese Sorge dann erleichtert ad acta gelegt: Der Kleinanleger bekommt ein dickes Lob; er ist „vernünftig geblieben“. Soviel bleibt aber immerhin übrig – und die allseits befragten „Börsengurus“ geben es immer wieder gerne zu Protokoll: Leute, die meinen, Aktien wären eine bessere Sparbüchse, sind letztlich „Zocker“, die an der Börse nichts verloren haben. So kann man auch ausdrücken, daß Leute, die tatsächlich mit ihrem eigenen Geld „spekulieren“, es samt Rendite selber auch noch zu verbrauchen gedenken, Fremdkörper sind in einer Welt, in der professionelle Börsenmakler damit beschäftigt sind, mit Kredit, also aus dem Vermögen anderer Leute mehr Geld zu machen, damit der Kredit wächst. Dann ist der Kleinanleger aber auch bestenfalls eine Fußnote des internationalen Börsengeschehens.
- Bleibt also weiter die Frage, inwiefern „wir alle“ durch das Börsengeschehen tangiert sind.
Daß die Börse irgendwie mit dem, was man landläufig „die Wirtschaft“, nennt, zusammenhängt, ist bekannt. Wie dieser Zusammenhang genau aussieht, darüber herrscht in der Fachwelt allerdings eine gewisse Konfusion: Die einschlägigen Statements während der aufgeregten Tage der ersten massiven Kursstürze reichen jedenfalls von der Behauptung, die Börse sei ein nützlicher Gradmesser der Wachstumsraten der Wirtschaft insgesamt, bis zur Auskunft, daß „die an der Börse“ doch sowieso machen, was sie wollen, und Börsenkurse deshalb auch gefährlich sein könnten, weil sie unter Umständen eine „falsche Gesundheit der Wirtschaft“ vorspiegeln könnten… Aber, wie dem auch sei, alle sind sich letztlich sicher, daß da ein irgendwie gearteter Zusammenhang besteht. Ebenfalls bekannt ist, daß „wir alle“ von „der Wirtschaft“, dem Konkurrenzerfolg kapitalistischer Unternehmen, in diesem besten aller Wirtschaftssysteme abhängen. Insgesamt einigen sich die Experten anläßlich des Aktien-Kurssturzes Ende Oktober jedoch, was einen möglichen Zurückschluß auf „die Wirtschaft“ betrifft, auf durchweg beruhigende Feststellungen: Zwar sei weltweit ein ziemlicher Einbruch bei Aktienkursen zu registrieren, die Wirtschaft an sich – „fundamentals“ sagt der Fachmann – sei aber total gesund. Eine interessante Auskunft: Die Börse schert sich nicht um das, was ihr zugrunde liegt, was angeblich sogar ihr „Fundament“ ausmacht, sie hat nämlich irgendwie ihre eigenen Gesetze…
Wenn das die ganze Wahrheit wäre, dann wäre ja soweit alles in Ordnung. Ein paar Börsenheinis setzen etliche Milliarden Buchgeld in den Sand, der ein oder andere Bankrotteur stürzt sich aus dem Fenster… – ansonsten geht „die Wirtschaft“ unverdrossen und gesund ihren Gang.
Es ist eben bloß nicht die ganze Wahrheit. Mit dem Finanzüberbau, der sich über den „fundamentals“ der Ökonomie aufgebaut hat, dreht sich in diesem ungemein vernünftigen Wirtschaftssystem alles so auf den Kopf. Durch die weltweiten Spekulationsgeschäfte des Finanzgeschäfts – und mögen sie noch so abgehoben von der realen Welt der Produktion und des Warenhandels sein – werden, solange erfolgreich, Finanzmittel geschaffen. Finanzmittel, mit denen nebenbei und unter anderem auch die Kreditbedürfnisse des produktiven Kapitals bedient werden. Dieses tätigt damit dann seine geschäftsversprechenden Investitionen und bringt den segensreichen Fortschritt voran, als dessen Resultat dann wieder ein gestiegenes wirtschaftliches Wachstum und eine Menge wegrationalisierter Arbeitsloser mehr registriert werden. Durch platzende Spekulationsgeschäfte werden umgekehrt Finanzmittel vernichtet. Und das hat in einer Welt, in der jeder kapitalistische Konzern über eine eigene Devisenspekulationsabteilung verfügt, zwangläufig zur Folge, daß jede Menge Kredit, mit dem das angeblich so „gesunde“, in der Produktion angelegte Kapital kalkuliert, geplatzt ist und damit die Fortführung seiner Geschäfte in Frage gestellt ist.
In einer Wirtschaft, deren erklärter Zweck die Produktion von Geld und immer mehr Geld ist, sieht das Verhältnis zwischen „Finanzüberbau“ und seinen produktiven „fundamentals“ eben gerechterweise so aus, daß die kapitalistischen Mittel, die der realen Welt der Produktion für ihren Geschäftsgang zur Verfügung stehen, das Ergebnis der luftigsten Spekulationen der internationalen Finanzmakler sind. Fest steht damit dann auch, daß der Erfolg oder Mißerfolg der produktiven Abteilung des Kapitals von dieser, nach allgemeiner Auskunft ziemlich undurchschaubaren, Welt der Börsen-Spekulation abhängt. Was einem ja irgendwo ziemlich gleichgültig sein könnte, wenn nicht, nach ebenso allgemeiner, maßgeblicher Auskunft, „wir alle“ mit unserem bißchen Lebensplanung von „der Wirtschaft“, nämlich dem dort verdienten Geld, so fundamental abhängig wären. Daß „wir alle“ uns diesen irrationalen Blödsinn garantiert nicht ausgedacht haben, schon gar nicht als angeblich beste Art und Weise, die Menschheit mit ein paar Lebensmitteln zu versorgen, spielt dabei keine Rolle: Die Welt samt lebendem und totem Inventar gehört eben überhaupt nicht „der Menschheit“, sondern, wie deren Name schon verrät, den paar Eigentümern, die mit der spekulativen Mehrung ihres Eigentums alle Hände und Computer voll zu tun haben…
- Und eins ist sicher: Ob und wie deren computergestützte Geschäfte aufgehen, das liegt an letztlich undurchschaubaren „Gesetzen“; die höheren Etagen der marktwirtschaftlichen Welt sind für ihre eigenen Macher und Nutznießer voller Rätsel. In sämtlichen Kommentierungen des letzten Börsen-Crashs bekennt sich der geballte ökonomische Sachverstand offenherzig dazu, daß die Börsen dieser Welt, die der Marktwirtschaft, diesem vernünftigsten, effektivsten Wirtschaftssystem aller Zeiten, entscheidende ökonomische Fakten vorgeben, ziemlichen Irrenhäusern gleichen: Mindestens 50 bis 90 Prozent „Psychologie“ sind nach sachdienlicher Auskunft im Spiel, wenn sich die Spekulanten an ihr aufreibendes Geschäft machen.
Die Sache mit der „Psychologie“ stimmt in der Sache zwar überhaupt nicht; denn auf dem Börsenparkett geht es nicht um Launen und Psycho-Makken, sondern um Berechnungen, und das Ergebnis ist kein allgemeines wechselseitiges Generve, sondern echtes Geld. Mit dieser Kennzeichnung des Börsenwesens bringen eingefleischte Fans der Marktwirtschaft aber immerhin soviel zum Ausdruck: Sie gehen mit der größten Selbstverständlichkeit davon aus, daß ihr ganzer Laden so durch und durch von Irrationalität bestimmt ist, daß sowieso keiner mehr durchblicken kann. Und wenn man schon nicht durchblickt, bietet sich immer der Verweis auf die bekanntlich ziemlich unergründliche „Psyche des Menschen“ an. Und damit ist die „Erklärung“ des ganzen Unsinns auch schon fertig – mehr braucht der aufgeklärte Mensch des 20. Jahrhunderts offensichtlich nicht –, und seine Rechtfertigung gleich dazu.
Dabei hat die an den Börsen praktizierte Irrationalität durchaus ein Prinzip: Spekuliert wird auf den zukünftigen Erfolg der kapitalistischen Konkurrenz; aus der Erwartung, wie in Zukunft Finanzgeschäfte laufen, wird gegenwärtiges Geld gemacht. Wenn die Mehrheit der Mit-Spekulanten diese Erwartung teilt, dann klappt das. Wenn nicht, dann nicht; dann wird auf Baisse spekuliert… Spekulanten spekulieren also auf die Wirkung ihrer eigenen Spekulation. Und für jede Nummer in diesem Zirkus haben sie eine Sorte „Wertpapiere“ erfunden, die sie dann glatt als „Produkte“ bezeichnen. Irrational, verrückt, durchgeknallt ist das ohne Zweifel – und eben damit marktwirtschaftlich völlig vernünftig und korrekt. Denn das, worum es in diesem Irrsinn geht, ist die „Schöpfung“ von Geld, von gutem kapitalistischen Geld – also der einzige Reichtum, der hierzulande zählt.
- Fast überflüssig zu sagen: Zum Kritiker des Kapitalismus und seiner Börsen wird selbstverständlich keiner der sachverständig-besorgten Kommentatoren der Ereignisse. Nachdem der Börse insgesamt eine letzlich nie abzustellende Irrationalität bescheinigt ist, sind die Weichen gestellt für die interessante Frage, wer dieses Mal am meisten gesponnen hat. Die Antwort fällt übereinstimmend aus: „Wir“ haben zwar auch ein bißchen übertrieben und den „DAX in den letzten Monaten in schwindelnde Höhen getrieben“, aber am dollsten haben es eindeutig „die Ostasiaten“ getrieben. Deshalb handelt es sich bei den Kursverlusten in Frankfurt mit ziemlicher Sicherheit um die lange erwartete „Korrektur einer Überhitzung auf ein gesundes Niveau“, während man in Asien eher vom „Platzen einer Spekulationsblase“ ausgehen muß.
Und damit ist klar: Ab sofort kann wieder auf „soliderer Basis“ spekuliert werden, und zwar weltweit! Der geplatzten „Luftblase“ folgt das Aufblasen der nächsten – was denn sonst!