Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Bildungsstreik 2009
Der Staat effektiviert die Ressource Bildung – Schüler und Studenten streiken: für ihr Ideal davon
Schüler und Studenten bekommen „Leistungsdruck“ zu spüren; sie erfahren, dass ihre Studienzeit mit „Verschulung, Regelstudienzeit und Dauerüberprüfung“ ungemütlicher wird – und diese Unzufriedenheit ist absolut verständlich. Bemerkenswert ist, dass sie aus ihrer Unzufriedenheit überhaupt keine Überlegungen folgen lassen, mit was für einer Veranstaltung sie es da zu tun haben, welchem Zweck also ihr Ärgernis geschuldet ist. Anstatt das Bildungswesen zu kritisieren, stellen sie sich neben die schlechte Realität des Bildungswesens und halten ihr einfach die eigene Idealvorstellung von einem guten Bildungswesen entgegen, in der sie vom real existenten alles abgezogen haben, was sie stört. Ihre Gegnerschaft zum wirklichen Bildungswesen führen sie mit dem Vorwurf, dass es höhere Werte missachte, denen Bildung eigentlich zu entsprechen hätte. Die beklagte Wirklichkeit nehmen sie nur zur Kenntnis als Abweichung von einem jahrhundertealten, von ihnen selbst so genannten Bildungs-Ideal – also von etwas, das eingestandenermaßen noch niemals irgendwann als Leitfaden für die Praxis der Bildung Gültigkeit hatte.
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Bildungsstreik 2009
Der Staat
effektiviert die Ressource Bildung – Schüler und
Studenten streiken: für ihr Ideal davon
1. Der Staat hat seine Kritik an seinem Bildungswesen, die Ausbildung deutscher Hochschulabsolventen dauere im europäischen Vergleich zu lange, koste ihn zu viel und sei zu wenig auf die spezifischen Bedürfnisse der Arbeitswelt zugeschnitten, in die Praxis umgesetzt. Die gymnasiale Schulzeit wurde auf 8 Jahre verkürzt und dabei das Lernpensum verdichtet. Die universitäre Bildung wurde modularisiert, die Zwischenprüfung zum eigenständigen Universitätsabschluss (Bachelor) erklärt, das weitergehende, vertiefte Studium stark beschränkt und den Studenten ein Beitrag zur Finanzierung ihrer Ausbildung abverlangt, in die auch ‚die Wirtschaft‘ verstärkt einbezogen wird.
Sehr deutlich wird also klargestellt, wozu in dieser Gesellschaft Bildung da ist: Erklärtermaßen soll sie kapitalistischen und öffentlichen Arbeitgebern junge und für ihren Bedarf passend qualifizierte Arbeitskräfte liefern. Insofern interessiert das Wissen als Qualifikation: vermittelt wird, was den jeweiligen Arbeitgebern dient und die Lernenden diesem Bedarf dienstbar macht. Die Vermittlung dieses Wissens ist in der Form des Leistungsvergleichs organisiert, d.h. an seiner Aneignung pro Zeit sollen sich die Lernenden unterscheiden. Bezwecktes Resultat dieser Konkurrenzveranstaltung ist die Auseinandersortierung der Schüler und Studenten in eine differenzierte Hierarchie von Bildungsabschlüssen. Die sind ihrerseits Zulassungsvoraussetzungen für die Hierarchie der Arbeitsplätze, die die Welt der Arbeitgeber zur Verfügung stellt – die ganz nebenbei die Hierarchie der Lebensverhältnisse in der Klassengesellschaft bestimmt.
Mit dem erfolgreichen Durchlaufen der schulischen Selektion ist für diejenigen, die der Aussortierung in die unangenehmen und schlecht bezahlten Berufe fürs erste entgangen sind, der Durchsetzungskampf gegen andere im Leistungsvergleich am Wissen nicht vorbei. Für die Selektion an der Universität reicht nun die erfolgreiche Aneignung von „Lernstoff“ nicht mehr aus; zu bewähren haben sich die Studenten nun daran, sich – relativ erfolgreicher als ihre Kommilitonen, versteht sich – als selbstbewusste Vertreter ihres Fachs darzustellen. Der Staat will in seiner Elite nicht Mitmacher, sondern Überzeugungstäter.
2. Schüler und Studenten bekommen
Leistungsdruck
zu spüren; sie erfahren, dass ihre
Studienzeit mit Verschulung, Regelstudienzeit und
Dauerüberprüfung
ungemütlicher wird – und diese
Unzufriedenheit ist absolut verständlich. Bemerkenswert
ist, dass sie aus ihrer Unzufriedenheit überhaupt keine
Überlegungen folgen lassen, mit was für einer
Veranstaltung sie es da zu tun haben, welchem Zweck also
ihr Ärgernis geschuldet ist. Anstatt das Bildungswesen zu
kritisieren, stellen sie sich neben die
schlechte Realität des Bildungswesens und halten ihr
einfach die eigene Idealvorstellung von einem guten
Bildungswesen entgegen, in der sie vom real existenten
alles abgezogen haben, was sie stört. Ihre Gegnerschaft
zum wirklichen Bildungswesen führen sie mit dem Vorwurf,
dass es höhere Werte missachte, denen Bildung
eigentlich zu entsprechen hätte. Die beklagte
Wirklichkeit nehmen sie nur zur Kenntnis als Abweichung
von einem jahrhundertealten, von ihnen selbst so
genannten Bildungs-Ideal – also von etwas, das
eingestandenermaßen noch niemals irgendwann als Leitfaden
für die Praxis der Bildung Gültigkeit hatte.
Wogegen die wirkliche Bildung demnach verstößt, ist
das humanistische Ideal einer zur kritischen Reflexion
befähigenden, gemeinwohlorientierten Bildung
(bildungsstreik.net), ein
Ideal, welches seit jeher zum Bildungswesen dazugehört
und gegen dessen Missachtung sich nicht nur kritische
Studenten, sondern auch die Organe der kritischen
Öffentlichkeit wenden:
„Für Studenten heißt die neue Bologna-Wirklichkeit: Zielstrebigkeit ohne Umwege und Sackgassen. Neugier, Erkenntnisinteresse, selbständiges Denken – also alles, was höhere Bildung ausmacht – bleiben auf der Strecke.“ (FAZ, 19.6.09)
Mit diesem Ideal ist keinerlei Einwand gegen irgendeinen
Lehrinhalt formuliert, sondern alles gebilligt, was zum
Studienstoff gehört. Damit soll auch keinerlei Kritik am
Zweck des Ausbildungswesens geübt sein. Dem Protest
zufolge hat die Aneignung des zu erlernenden
Wissenskanons so lange einen Mangel, solange er nur
„auswendig gelernt“ und „nachgebetet“, anstatt
selbstbewusst und überzeugt vertreten wird. Zwar geht
Denken
sowieso nicht anders als
selbstständig
, aber das Gemeinte ist klar: Damit
sich die Studenten ihr Fachwissen aktiv zueigen
machen, brauchen sie Gelegenheit für Umwege und
Sackgassen
. Anstatt zum etablierten Wissenskanon
geführt zu werden, sollen die Studenten
selbstständig den Weg zu ihm finden. Das gehört eben zur
Qualifikation des Führungspersonals, das als
gesellschaftliche Elite in der Lage sein soll, am
Interesse der zukünftigen Arbeitgeber die gewünschten
Dienste zu verrichten: Die Aneignung von Wissen auf
dieser Ebene sollte sich unbedingt mit dem Standpunkt und
dem Selbstbewusstsein verbinden, das alles aus freien
Stücken zu tun! Das erst macht höhere Bildung
aus.
Wer mit diesem affirmativen Ideal nichts zu tun haben und
statt dessen wirklich kritisch sein
und richtig
kritisieren
möchte, dem bleibt es nicht erspart, das
dann auch zu machen, anstatt einen Antrag bei der
Kultusbehörde zu stellen, endlich eine Lehreinheit
„kritisches humanistisches Reflektieren“ einzurichten.
3. Die kritischen Demonstranten, die die
eigentliche, gemeinwohlorientierte Bildung
von
der Wirtschaft
usurpiert sehen – an deren Zweck
sie auch nichts weiter kritisieren wollen –, haben
keinerlei Berührungsängste mit den Argumenten der
Kommilitonen, die mehr Bildung
fordern mit dem
Argument, von ihr hänge die Zukunft der ganzen Nation,
insbesondere der nationalen Wirtschaft, ab. Die werfen
der Politik vor, vergessen zu haben, dass Bildung
unser einziger Rohstoff
sei, machen Vorschläge,
welche Posten des Staatshaushalts einer sinnvolleren
Verwendung im Bildungssektor zugeführt werden sollten,
und verfassen Petitionen an Politiker, in denen es heißt:
„Angesichts des herrschenden Fachkräftemangels halten wir es für äußerst kontraproduktiv, talentierte junge Menschen von einem Studium abzuhalten.“ (Petition der LandesAstenKonferenz (LAK) Bayern, studiengebuehrenbayern.de)
Diesen ideellen Ressourcenverwaltern ist es
offensichtlich selbstverständlich, dass Wissen für keinen
anderen Bedarf da ist als den der heimatlichen
kapitalistischen Wirtschaft und seiner Verwaltung.
Bildung braucht es in dem Maße, wie sie dem nationalen
Standort nützt! Wer diesen Standpunkt einnimmt, muss den
wirklichen Ressourcenverwaltern zugestehen, dass ein
gemütliches „Bummelstudium“ natürlich auch nicht
nützlich, sondern äußerst kontraproduktiv
ist;
dass die Wirtschaft nicht nur hoch qualifizierte Masters,
sondern auch halb qualifizierte Bachelors brauchen kann;
und dass es dem Standort nützt, wenn sich an den Kosten
zur Ausbildung der Ressource ‚Fachkraft‘ auch Sponsoren
und Studenten beteiligen, ist auch nicht von der Hand zu
weisen. Dass die Organisation nützlicher Ausbildung für
den Standort Deutschland verbessert werden könnte –
sollte das alles gewesen sein, was der studentische
Protest mitteilen wollte?